• Keine Ergebnisse gefunden

Koordinierende Interpretation

Im Dokument Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung (Seite 73-80)

4.4.1 Das Verhältnis zu Esoterik

Die Analyse des Materials zeigt, dass die Vipassana-Meditation nach Goenka einige Charakteristika der Esoterik aufweist. Zugleich grenzt man sich aber auch von esoteri-schen Angeboten ab.

Es wird ein höheres Wissen postuliert, das rational nicht zugänglich sei, sondern nur durch die unmittelbare Erfahrung des Einzelnen (ebd., S. 150–152). Die verstandesmä-ßige Überprüfung wird scheinbar gutgeheißen (ebd., S. 30). Man entzieht sich aber der Diskussion, indem man behauptet, die Wahrheit sei mittels des Verstandes nicht fassbar, weshalb eine Beschreibung der Wahrheit nur verwirre. Man müsse nicht glauben, was in den Vorträgen gesagt werde, aber wenn man die Anleitungen befolge, werde man er-kennen, dass es sich um die Wahrheit handle (ebd., S. 150–152).

Um TeilnehmerInnen vom Wahrheitsgehalt der Lehre zu überzeugen, wird neben dem Rückgriff auf (zum Teil durch die Organisation übersetzte) alte Schriften auch eine Of-fenbarungskette konstruiert, die bis zu Buddha zurückreichen soll (ebd., S. 171). Es wird behauptet, man vermittle die ursprüngliche Lehre Buddhas mit der einfachsten,

„wörtlichsten“ (ebd., S. 21) und direktesten Bedeutung seiner Worte. Wissenschaftlich betrachtet ist dies nicht haltbar (Gruber, 2010). Vipassana nach Goenka wird als beson-ders rein und ursprünglich dargestellt und somit implizit ein Alleingeltungsanspruch dieser Traditionslinie erhoben (ebd.).

Als esoterisch kann ebenso das Verhältnis zur Wissenschaft betrachtet werden. Sie wird nicht zur Gänze abgelehnt, aber kritisiert. Einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene, wissenschaftliche Erkenntnisse werden zur vorgeblichen Bestätigung der Lehre heran-gezogen. Die Beobachtung der Körperempfindungen soll Buddha zu Erkenntnissen über die Entstehung der Materie geführt haben, für welche WissenschaftlerInnen 2500 Jahre später nach seiner Zeit hochentwickelte Messinstrumentarien benötigen. Die Kri-tik an der Wissenschaft bezieht sich darauf, dass sie wenig praktischen Nutzen hätte.

Weder könne sie den Menschen vom Leiden befreien, noch die Zerstörung der Welt ab-wenden. Es brauche daher eine auf unmittelbare Erfahrung basierende Erkenntnis,

wel-che den Menswel-chen von leiderzeugenden, geistigen Konditionierungen befreie und zum Wohlergehen aller Menschen beitrage (Hart, 2012, S. 46).

Trotz der genannten Berührungspunkte versucht Goenkas Organisation Vipassana von Esoterik und Religion abzugrenzen. Die Organisation betreibt selbst wissenschaftliche Forschung, die die Wirksamkeit der Methode bestätigt. Neubert stellt fest, dass ein wis-senschaftlicher und praktischer Charakter vermittelt werde. Es soll der Eindruck ver-mieden werden, es handle sich um eine irrationale, ineffiziente und äußerst rigide Me-thode (Neubert, 2008).

Es wird bestritten, eine bestimmte Form des Buddhismus zu vermitteln. Um Vipassana zu praktizieren, müsse man sich zu keiner Religion bekennen, keinem Dogma folgen, keine bestimmte Philosophie vertreten und keine Rituale ausführen (Hart, 2012, S. 26).

Stattdessen beobachte man unvoreingenommen und distanziert wie WissenschaftlerIn-nen (ebd., S. 117). Man erlange Erkenntnis durch eigene Anstrengungen und nicht durch die Gnade des Gurus (ebd. S. 12).

Wenngleich Goenka von Buddha und seinem Lehrer nur in den höchsten Tönen spricht, betrachtet er sie, so wie diese sich selbst, als Menschen und nicht als Götter oder der-gleichen. Gleichermaßen verehren viele SchülerInnen angeblich Goenka, obwohl er dies ablehnt (ebd.). Ob dies tatsächlich der Fall ist kann mittels einer Textinterpretation nicht geklärt werden (Mayring, 2010, S. 56 f.). Doch auch wenn er sich selbst nicht als Guru begreift (ebd.), könnte dieser Eindruck bei (manchen) Praktizierenden erweckt werden. Wenn kritische Einwände nicht diskutiert werden, da sie von einer effektiven Praxis abhalten und nur Ausdruck fehlender innerer Erfahrung seien, so kann dies zu ei-nem unangebrachten Vertrauen bzw. einer erfolgreichen Selbstsuggestion führen. Wis-senschaftliche Evidenz wird dann ignoriert. Die Behauptung Harts, alle Praktizierenden seien sich gewiss, Goenka stünde in der direkten Nachfolge Buddhas, zeugt davon (ebd., S. 21).

Die Beschreibung des höheren Wissen mutet nicht irrational an. Laut Faivre ist die An-nahme eines solchen sowohl Merkmal der Esoterik als auch der Mystik (1996). Er un-terscheidet die beiden Begriffe folgendermaßen:

Etwas vereinfacht könnte man sagen, daß der Mystiker – im streng klassischen Sinn – auf eine mehr oder minder vollständige Unterdrückung der Bilder und vermittelten Symbole hofft, da diese Hindernisse sind für sein Streben nach Ein-heit mit Gott. Der Esoteriker dagegen interessiert sich mehr für diese Vermitt-lungselemente, die sich seinem inneren Blick dank seiner schöpferischen Einbil-dungskraft offenbaren, als daß er sich nach der Einheitserfahrung mit Gott sehnt […]. (ebd., S. 26)

Bei der Vipassana-Meditation nach Goenka hat das höhere Wissen eher mystischen Charakter. Dafür spricht zum einen, dass persönlicher Fortschritt nur am Gleichmut ge-messen wird und nicht am Inhalt der jeweiligen Erfahrung (Hart, 2012, S. 97). Zum an-deren werden „Nibbana“ (ebd., S. 150) und „Annata“ (ebd., S. 42) nicht positiv be-schrieben. Es heißt: „Der Buddha stellte die instinktive Annahme einer Identität in Fra-ge, doch lehrte er keine neue spekulative Ansicht, um die Theorien anderer zu bekämp-fen […].“ (Hart, 2012, S. 42)

4.4.2 Das Verhältnis zu therapeutischen und Gesundheitsangeboten

Um das Verhältnis zu therapeutischen und Gesundheitsangeboten zu klären, werden noch Informationen, die auf der Website des Vipassana Vereins Österreich zu finden sind, herangezogen. Auf die Frage, ob Vipassana körperliche oder geistige Krankheiten heilen könne, wird dort wie folgt geantwortet:

Viele Krankheiten werden durch unsere innere Unruhe verursacht. Wenn die Un-ruhe entfernt ist, kann die Krankheit gemildert werden oder verschwinden. Aber Vipassana mit dem Ziel zu lernen, damit eine Krankheit zu heilen, ist ein Fehler, der nie zum Erfolg führt. Wer das versucht, verschwendet nur seine Zeit, weil er sich auf das falsche Ziel konzentriert. Sie können sich sogar damit schaden. Sie werden weder die Meditation richtig verstehen, noch wird es Ihnen gelingen, die Krankheit loszuwerden. (Verein für Vipassana Meditation Österreich, o.J. d) Die Gefahr, die Technik falsch zu verstehen und sich dadurch zu schaden, bestünde bei sehr schweren Depressionen. An Depression erkrankten Menschen wird nahe gelegt, sich professionelle Hilfe zu suchen. Vipassana-LehrerInnen seien ExpertInnen für Me-ditation und keine PsychotherapeutInnen (Verein für Vipassana MeMe-ditation Österreich, o.J., d).

Bei der Online-Anmeldung sowie unmittelbar vor dem Kurs werden InteressentInnen deshalb aufgefordert, über ihre Krankheitsgeschichte Auskunft zu geben. Hierzu zählen Fragen zu körperlichen und psychischen Erkrankungen und zur Einnahme von Medika-menten und Rauschmitteln (Verein für Vipassana Meditation Österreich, o.J., c).

Ob eine Kursteilnahme zu mentalen Problemen führen könne, wird auf der Website wie folgt beantwortet:

Nein. Vipassana lehrt Sie aufmerksam und gleichmütig zu sein. Das bedeutet, trotz aller Höhen und Tiefen im Leben ausgeglichen zu sein. Aber wenn jemand zu einem Kurs kommt und ernste emotionale Probleme verheimlicht, dann kann es gut sein, dass er nicht in der Lage sein wird, die Technik zu verstehen oder sie richtig anzuwenden, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie uns Ihre Krankheitsgeschichte mitteilen, damit wir einschätzen können, ob Sie von einem Kurs profitieren werden. (Vipassana Verein Öster-reich, o.J., d)

Der Gesundheitszustand der TeilnehmerInnen wird vorab abgefragt und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen werden nicht zugelassen. Es wird darauf hinge-wiesen, dass AssistenzlehrerInnen keine PsychotherapeutInnen seien und man zur Hei-lung körperlicher Erkrankungen besser ins Krankenhaus gehen solle (ebd,). Zudem wird davon abgeraten, am Kurs teilzunehmen, um eine Krankheit zu heilen (ebd., S.

173). Demnach kann man sagen, dass gesetzliche Bestimmungen eingehalten werden und es sich nicht um ein therapeutisches oder Gesunheitsangebot handelt. Jedoch heißt es auch, dass man bei körperlichen Beschwerden ins Krankenhaus gehe und um die geistige Gesundheit zu pflegen zu einem Meditationskurs gehen solle (ebd., S. 32 f.).

Man könnte argumentieren, die Aussage zeige, dass Goenka unberechtigterweise eine Monopolstellung für die Erhaltung und Steigerung der geistigen Gesundheit in An-spruch nehme und andere Behandlungsformen ablehne. Unter Berücksichtigung der Ausführungen auf der Website des Veranstalters scheint eine solche Interpretation je-doch unplausibel.

In Aussicht gestellt wird, Krankheiten, die durch innere Unruhe ausgelöst wurden, könnten durch Vipassana gemildert werden oder verschwinden. Eine Metaanalyse zeig-te, dass MBSR-Kurse Menschen mit verschiedenen Störungen helfen kann (Grossman,

Niemann, Schmidt & Walach, 2009). Ähnliche Ergebnisse sind auch für einen Vipassa-na-Kurs nach Goenka erwartbar. Möglicherweise sind nach der Aufnahme einer Acht-samkeitspraxis die Kriterien für die Diagnose einer psychischen Erkrankung nicht mehr erfüllt. Dies spricht dafür, dass keine unrealistischen, therapeutischen Wirkungen ver-sprochen werden (Gruber et al., 2015, S. 82).

Das Ziel der Praxis, die Überwindung allen Leidens, ist jedoch nicht nur äußerst hoch-gesteckt sondern auch unrealistisch. Allerdings wird der Weg dorthin als sehr beschwer-lich und langwierig dargestellt, und selbst Goenka nimmt nicht in Anspruch, das Ziel erreicht zu haben. Von einer überzogenen Erfolgsdarstellung kann man daher eher nicht sprechen (ebd.).

Hinterfragt werden muss die Behauptung, ein zehntägiger Vipassana-Kurs könne bei gesunden Menschen nicht zu mentalen Problemen führen. Die Strenge und Dauer des Kurses stellt zweifellos für (viele) Menschen eine psychische Extremsituation dar. Es wird auf eine Weise argumentiert, die es im Falle eines Auftretens psychischer Proble-me erlaubt zu sagen, die TeilnehProble-merInnen hätten schwere emotionale ProbleProble-me ver-heimlicht. Redlicher wäre es, mitzuteilen, dass man negative Erfahrungen nie völlig ausschließen könne und diese auch längere Zeit andauern können. Die wissenschaftliche Forschung hat lange Zeit nur die positiven Wirkungen der Achtsamkeitspraxis unter-sucht und vernachlässigte die Erforschung negativer Erfahrungen, die vor allem bei in-tensiver Praxis auftreten können (Lindahl, Fisher, Cooper, Rosen & Britton, 2017).

4.4.3 Freizeitangebote

Den Kriterien von Ö-Cert folgend ist der Meditationskurs als Freizeitangebot zu bewer-ten. Da täglich zehn Stunden meditiert wird, der abendliche Vortrag jedoch nur einein-halb Stunden dauert, steht die Praxis eindeutig im Mittelpunkt des Kurses. Da dieses Kriterium erfüllt ist, kann das Angebot laut Ö-Cert nicht als Erwachsenenbildung gelten (Gruber et al., 2015, S. 82); auch wenn ganz klar festgehalten wird, dass der Kurs keine Gelegenheit zur Erholung oder Geselligkeit darstellt (Hart, 2012, S. 196).

4.4.4 Vereinbarkeit mit den Zielen der Erwachsenenbildung

4.4.4.1 Zur Ausbildung der persönlichen Identität

Das Verwerfen der Annahme, es gebe einen fixierten, nicht veränderlichen Wesenskern, wird als Weiterentwicklung des Menschen vermittelt. Sie führe zu einem charakterli-chen Wachstum (ebd., S. 53).

Ein wesentliches Daseinsmerkmal Buddhas Lehre zufolge, das Nicht-Selbst (Annata), wird kaum erwähnt. Im Mittelpunkt steht ein anderes: die Vergänglichkeit. Ersteres wird aus letzterem abgeleitet: Alles vergeht, so auch das Phänomen, jemand zu sein.

Goenkas Auffassung zeugt von seinem Pragmatismus. Da die Lehre vom Nicht-Selbst auf Widerstand stoßen oder missverstanden werden könnte, konzentriert er sich auf ein anderes der drei Daseinsmerkmale. Annata meint bei ihm kein abstraktes buddhistisches Konzept, sondern wird vorwiegend als Selbstlosigkeit in einem altruistischen Sinne ver-mittelt. Die Praxis verfolgt laut ihm nicht die Auflösung der persönlichen Identität und eine damit einhergehenden Abgabe persönlicher Verantwortung sondern die Ausbildung eines altruistischen Charakters (ebd.).

4.4.4.2 Zur beruflichen Leistungsfähigkeit

Die Bedürfnisse der Menschen im Westen der heutigen Zeit werden von Goenka er-kannt und bedient. Vipassana, so wird vermittelt, führe zu Wohlbefinden und Leistungs-fähigkeit (ebd., S. 155). Zwar wird gemahnt, dass die Hauptmotivation die endgültige Befreiung von allem Leiden durch Einsicht sein sollte, man versucht aber auch durch die Erwähnung mehr oder weniger profaner, weltlicher Vorzüge zur Praxis zu animie-ren.

4.4.4.3 Zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens

Die Annahmen, die eigene Haltung gegenüber der Erfahrung sei die Wurzel allen Lei-dens und der Friede beginne in einem selbst (ebd., S. 38), bergen eine Gefahr. Die Ver-änderung sozialer Missstände gerät dadurch aus dem Fokus. Die Praxis von Vipassana soll jedoch nicht nur dem Individuum nutzen. Auch die Gesellschaft soll davon profitie-ren. Obwohl die Arbeit an der eigenen Befreiung im Zentrum der Unterweisungen steht,

wird ethisches Verhalten als unabdingbare Voraussetzung für einen ruhigen Geist und die Erlangung befreiender Einsichten vermittelt. Das wichtigste ist, anderen nicht zu schaden. Man soll aber auch in aktiver Weise anderen nützlich sein, beispielsweise in-dem man den selbst verdienten Lebensunterhalt mit anderen teilt oder beim Anblick von Ungerechtigkeit einschreitet, um sowohl Opfer als auch TäterInnen vor unheilsamen Taten zu schützen. Ein solches Verhalten wirkt sich positiv auf das gesellschaftliche Zu-sammenleben aus (ebd., S. 45).

4.4.4.4 Zur Steigerung der politischen Teilhabe

Im Jahr 2000 sprach Goenka bei den Vereinten Nationen im Rahmen eines Gipfels reli-giöser und spiritueller FührerInnen zum Thema Weltfrieden. Dies zeugt von einem ge-wissen politisches Engagement. In seiner Rede spricht er aber nicht von Demokratie und politischer Teilhabe. Den Fokus legt er darauf, dass man den Frieden zu erst in sich selbst suchen müsse (Goenka, 2000).

Anzumerken ist, dass Goenka der Militärjunta in seinem Heimatland Dank und Aner-kennung zollt, sie jedoch nicht kritisiert (Hart, 2012, S. 175). Ein friedliches Zusam-menleben ist ihm wichtig, doch zur Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen durch politische Teilhabe ruft er nicht auf. Ob der Kurs durch die Ausbildung eines selbstlosen Charakters indirekt die politische Teilhabe fördert, darüber kann nur spekuliert werden.

Zum Abschluss der Analyse werden die Ergebnisse der Analyse dargestellt. Gemein-samkeiten und Unterschiede, die der untersuchte Kurs zum Bildungsverständnis von Ö-Cert aufweist, werden angeführt.

Im Dokument Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung (Seite 73-80)