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Zeitgenössische Transformationsprozesse

Im Dokument Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung (Seite 31-37)

Wilsons Untersuchung Mindful America ist eine Pionierarbeit in der hermeneutischen Untersuchung des Phänomens vermehrter Achtsamkeitspraxis im Westen. Er nennt es mindfulness movement (2014).

It refers to the widespread and growing collection of people who practice (and, especially, those who actively promote) techniques of awareness derived originally from the Buddhist cultures of Asia, which are typically grouped under the label „mindfulness“ in 21st century America. (Wilson, 2014, S. 9)

Obwohl die Untersuchung sich vor allem auf den nordamerikanischen Raum fokussiert, ist sie für diese Arbeit – nicht nur mangels europäischer Forschungen – von Bedeutung.

So schreibt Wilson, er erhoffe sich, dass seine Arbeit auch für die Untersuchung des Phänomens in anderen Kulturen von Wert sei (ebd., S. 8). Obwohl Nordamerika „the largest creator and the most eager consumer of new trends in the mindfulness move-ment“ (ebd., S. 8) ist, sei die Achtsamkeitsbewegung ein transnationales Phänomen.

Zentrale These in Wilsons Arbeit ist, dass die buddhistische Praxis von allen Kulturen, in die sie Einzug hielt, in einer Form adaptiert wurde, die den kulturspezifischen Nöten und Interessen Rechnung trägt. Diese Fähigkeit zur Adaption mache den Buddhismus so erfolgreich. Obwohl es sich um eine 2500 Jahre alte Religion aus einem anderen Kul-turkreis handelt, zeige die Geschichte, dass die Lehre Buddhas, mit den meisten Kultu-ren kompatibel war (ebd., S. 3 ff.).

In Mindful America wird im Sinne der Cultural Studies mindfulness hinsichtlich dessen untersucht, was über diese gesagt wird, anstatt das, was sie vermeintlich sei. Hiermit wird dem Faktum Rechnung getragen, dass je nach Kultur, Weltanschauung etc. Acht-samkeit Verschiedenes bedeutet. Außerdem kann AchtAcht-samkeit unter diesen methodolo-gischen Grundlagen auch nicht als etwas Gegebenes betrachtet oder fixiert werden.

Eine solche künstliche Definition des Begriffs ist nicht möglich, da seine Bedeutung in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen stets neu bestimmt wird. Die Bedeutung von Achtsamkeit ist daher immer im Wandel und nie homogen (ebd., S. 9).

Wilson beschreibt sechs Prozesse der Wechselwirkung zwischen Achtsamkeit (engl.

mindfulness) und der nordamerikanischen Kultur.

2.3.1 Mediating Mindfulness

Lange Zeit hätten nur buddhistische Mönche und Nonnen über Achtsamkeit gespro-chen. Sie hätten Achtsamkeit im Kontext der buddhistischen Lehre mit dem Ziel das Nirvana zu erreichen gelehrt. Dies änderte sich, als Achtsamkeit für neue Zwecke ange-wandt worden sei. Heute würden eine Vielzahl unterschiedlicher Professionen über Achtsamkeit sprechen (ebd., S. 13–42).

Veröffentlichungen zur Achtsamkeit können laut Wilson in verschiedene Kategorien eingeordnet werden, u.a.:

(1) [T]exts on Buddhist mindfulness by Buddhist clergy, (2) texts on Buddhist mindfulness by laypeople,

(3) mindfulness articles in general-audience Buddhist magazines, (4) self-help mindfulness texts by Buddhist authors,

(5) self-help mindfulness texts by non-Buddhists, and

(6) mainstream media reports on the mindfulness movement. (ebd., S. 42)

Die LeserInnen- und HörerInnenschaft werde dadurch immer größer und diverser. Zwar werde Achtsamkeit weiterhin in einem traditionellen monastischen Kontext gelehrt und praktiziert, buddhistischen Mönche und Nonnen falle heute jedoch nicht mehr die Deu-tungshoheit zu (ebd.).

2.3.2 Mystifying Mindfulness

Wilson zufolge durchlief der Prozess der Mystifizierung im Sinne von Verschleierung bzw. Verfälschung von Achtsamkeit einen dreistufigen Prozess. Zunächst sei der Bud-dhismus durch die Fokussierung auf Achtsamkeit für die AmerikanerInnen genießbar gemacht worden. Anschließend habe man den buddhistischen Kontext gänzlich besei-tigt, um Achtsamkeit noch weiteren Teilen der Bevölkerung verkaufen zu können.

Schließlich sei Achtsamkeit dermaßen verfälscht gewesen, dass mittels dieser

finanziel-le Dienstfinanziel-leistungen, Urlaube, Kfinanziel-leidung, Computer-Software und viefinanziel-les andere an Frau und Mann gebracht werden konnte (ebd., S. 43–74).

Hinsichtlich der Lehrenden stellt Wilson folgenden Prozess fest: Zunächst sei Achtsam-keit durch Ordensleute gelehrt worden. Ihnen folgten Laien, die in traditionellen bud-dhistischen Methoden geübt waren. Später hätten Laien, welche in einem nicht-traditio-nellen Setting Achtsamkeit gelernt haben, zu lehren begonnen – beispielsweise ÄrztIn-nen, TherapeutInÄrztIn-nen, BeraterInnen und so weiter. Am Ende dieses Prozesses fänden sich AutorInnen von Selbsthilfebüchern, FinanzberaterInnen und eine Vielzahl anderer nicht-buddhistischer BefürworterInnen der Achtsamkeitspraxis in der VermittlerInnen-rolle (ebd.).

„The mindfulness movement ecosystem is extremely diverse, with promoters of mona-sticism, religious Buddhism, personal spirituality, multiple religious belonging, secular meditation, mindful therapy, and more.“ (ebd., S. 73 f.)

Dieser Prozess der Entbettung aus dem buddhistischen Kontext und dem damit einher-gehenden Bedeutungswandel der Achtsamkeit beunruhige viele innerhalb der Achtsam-keitsbewegung nur wenig. „For them, reducing suffering (a very Buddhist motivation) appears to be the primary concern, and if that is best accomplished by transferring mindfulness out of Buddhism, a great many find that to be an acceptable price.“ (ebd., S. 74)

2.3.3 Medicalizing Mindfulness

Die Forschungsergebnisse zu den positiven, gesundheitlichen Wirkungen habe auch das Verständnis und die Intention zur Achtsamkeitspraxis von BuddhistInnen verändert. Die Praxis werde nun auch von ihrer Seite vermehrt in einem medizinischen, psychologi-schen und wissenschaftlichen Rahmen verstanden, während religiös-transzendente As-pekte an Bedeutung verlieren würden. Dies erlaube BuddhistInnen Achtsamkeit als in-novativ, mitfühlend-anteilnehmend, wissenschaftlich und nützlich zu verstehen, anstatt als reaktionär, fremd, irrational oder götzenverehrend (ebd., S. 75–103).

So entstehe der Eindruck, der Buddhismus habe vorwiegend Achtsamkeit zu bieten und diese sei vor allem eine therapeutische Methode zur Behandlung von Stress und anderen

ähnlichen Gesundheitsthemen. „Buddhism appears simply to be mindfulness, and mind-fulness is a scientifically verified, non-supernaturalistic method for healing.“ (ebd., S.

102) Traditionelle Aspekte des Buddhismus und seiner Praxis gelten im Umkehrschluss als fremd oder gar als Hindernis für ein richtiges Verständnis und Praxis der Lehre (ebd., S. 75–103).

Durch die Rekonzeptualisierung von Achtsamkeit als biomedizinische oder psychologi-sche Technik und die Anpassung an säkulare, moderne Ideale liege die Expertise nun vermehrt bei ÄrztInnen, TherapeutInnen, LehrerInnen, BeraterInnen und ähnlichen Pro-fessionen. Mit dem Verlust der Deutungshoheit des Buddhismus bezüglich Achtsam-keitsmeditation, würden ordinierte buddhistische LehrerInnen mehr und mehr ihre Ver-mittlerInnenrolle verlieren (ebd.).

2.3.4 Mainstreaming Mindfulness

Die Achtsamkeitsbewegung fuße auf Reformen des Buddhismus, welche zum Ziel hat-ten zur ursprünglichen authentischen Lehre des Buddhas zurückzukehren. Viele der frü-hen westlicfrü-hen buddhistiscfrü-hen LehrerInnen hätten in den verschiedenen Formen des Buddhismus in Asien eine Vermischung der originalen Lehre mit lokalen kulturellen Traditionen – bspw. mit dem Konfuzianismus oder animistischen Kulten gesehen (ebd., S. 104–132).

Der heutige Buddhismus im Westen sei aber nur vermeintlich ursprünglich. Er resultie-re – ebenso wie die asiatischen Varianten – aus Anpassungsprozessen an die kulturesultie-rellen Gegebenheiten. Es handle sich nicht um eine Rückkehr zu den Wurzeln, sondern viel-mehr um eine Anpassung an die weltlich-kulturellen Interessen von AmerikanerInnen, insbesondere jenen der weißen Mittelschicht, welche den Diskurs, bezüglich dessen was ein amerikanischer Buddhismus sein soll, führen und prägen würden (ebd.).

„This segment of the population has specific worldly concerns that arise out of its eth-nic culture: they seek healthy relationships in the family, balanced living that doesn't harm the environment, management of stress from work, and individual fulfillment.“

(ebd., S. 131)

Die Achtsamkeitsbewegung und der amerikanische Buddhismus seien demnach keine ursprüngliche, universelle, kulturell-unabhängige Variante des Buddhismus, sondern nur eine Wiederholung des alten Musters, wonach der Buddhismus immer wieder krea-tiv neuinterpretiert würde, um die lokalen Bedürfnissen und Ängsten der Menschen zu adressieren (ebd., S. 104–132).

2.3.5 Marketing Mindfulness

Die erfolgreiche Adaption der Achtsamkeit habe dazu geführt, dass Achtsamkeit in ei-nem solchen Ausmaß in den Mainstream Einzug hielt, dass sie nun für alles Gute, Spiri-tuelle, Gesunde, Liberale etc. stehe. Mindfulness sei ein Codewort für aufgeklärten (engl. enlightened) Konsum. Die Vermarktung von Esswaren verspreche die Vorteile der Achtsamkeitpraxis ohne jede Meditation. Mit dem Label mindfulness bewerbe man auch Schönheitsartikel oder Software (ebd., S. 133–158).

„The label 'mindful', when applied to seemingly unrelated consumer products can help to pry open a consumer's wallet by associating a product with a general sense of spiritu-ality, health, intelligence, or civic mindedness.“ (ebd., S. 157)

2.3.6 Moralizing Mindfulness

Obwohl Achtsamkeit sich aus einem religiösen Kontext loslöste, wirke sie noch immer in einer religiösen Art und Weise. Wilson schreibt: „We might call this a secular mind-ful religion, one devoid of the supernatural and the afterlife yet operating as a deep well of values, life orientation, and utopian vision.“ (ebd., S. 185) Diese könne sich mit spe-zifischen religiösen Traditionen verbinden, und zwar nicht nur mit Formen des Bud-dhismus, sondern auch beispielsweise mit dem Christentum, oder auch als eigenständi-ges System operieren (ebd., S. 159–186).

Die Achtsamkeitsbewegung drücke sich laut Wilson in zumindest zwei Idealtypen aus:

Auf der einen Seite werde Achtsamkeit vorwiegend für Menschen vermarktet, welche sich persönliche Vorteile durch die Praxis erwarten. Auf der anderen Seite sehe man Achtsamkeit im Kontext einer größeren sozialen Vision, welche die Gesellschaft im Po-sitiven verändern könne, wobei Selbstheilung der erste Schritt zur Weltverbesserung sei.

Erstere betrachteten letztere als gute LehrerInnen, da das Individuum von ihnen profi-tieren könne. Letztere, aus der sozial engagierten Achtsamkeitsfraktion, sähen auch in der Anwendung der Meditation zu Zwecken der Selbsthilfe einen Vorteil für die Gesell-schaft. Wenn Menschen weniger gestresst seien, könnten sie auch ihre Verbindungen zu anderen besser wahrnehmen und vielleicht liberale politische Ansichten und progressive Wertvorstellungen einnehmen, sowie ein ökologischeres Bewusstsein entwickeln (ebd., S. 159–186).

Nachdem die historische Entwicklung und die zeitgenössischen Transformationsprozes-sen nun dargestellt wurden, kann die Rezeption der Achtsamkeit in der pädagogischen Diskussion in ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext verstanden werden.

Im Dokument Achtsamkeit in der Erwachsenenbildung (Seite 31-37)