uch künftig werden die rund 120 000 Vertragsärzte in Deutschland mit der ICD-10- Verschlüsselung leben müssen. Mit der Ablehnung einer Verfassungsbe- schwerde gegen die Pflicht zur Diagno- senverschlüsselung hat das Bundes- verfassungsgericht (BVerfG) dafür ge- sorgt, dass Klagen von Ärzten vor So- zialgerichten in dieser Angelegenheit wohl kein Erfolg beschieden sein wird.
Beschwerde erhoben hatte der Vorsit- zende der „Klagegemeinschaft Ärzte gegen ICD-10“. Dieser hatte insbeson- dere geltend gemacht, dass die ärztliche Berufsfreiheit verletzt sei, weil die Ver- schlüsselungspflicht in das Arzt-Patien- ten-Verhältnis und damit in die ärztli- che Therapiefreiheit eingreife. Zudem werde durch die Verschlüsselung die ärztliche Berufstätigkeit ebenso wie die Krankengeschichte der Patienten voll- ständig kontrollierbar und überprüf- bar, wodurch das informationelle Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt werde. Darüber hinaus führten Defizi- te bei der ICD-10 dazu, dass die ange- strebte größere Transparenz des Lei- stungsgeschehens in der medizinischen Versorgung nicht erreicht werde.
Die zweite Kammer des Ersten Senats des BVerfG (Foto) zeigte sich von dieser Argumentation wenig beein- druckt und nahm die Verfassungsbe- schwerde nicht zur Entscheidung an (Az. 1 BvR 422/00). Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Beeinträchtigung des informationellen Selbstbestimmungsrechts erklärte das Gericht zwar, dass es sich „bei Krank- heitsdiagnosen um höchstpersönliche und sensible Daten des Erkrankten“
handele. Gegen eine mögliche Verlet- zung der Grundrechte des gesetzlich Krankenversicherten könne jedoch
nicht vom behandelnden Arzt, sondern nur vom Patienten selbst vor dem BVerfG geklagt werden. Auch die vor- gebrachte Beeinträchtigung des Arzt- Patienten-Verhältnisses durch die Ver- schlüsselungspflicht ließen die Verfas- sungsrichter nicht als Beschwerdegrund gelten: Dem Arzt bleibe es unbenom- men, Praxisaufzeichnungen zu eigenen Zwecken in Klarschrift vorzunehmen.
Eine hinreichend dargelegte Grundrechtsbetroffenheit des Be- schwerdeführers erkannte das BVerfG nur insofern an, als durch die Ver- schlüsselung künftig eine „erweiterte Überprüfbarkeit der vertragsärztlichen Behandlungen und Verschreibungen zu erwarten“ ist. Bei der Erörterung dieses Sachverhalts kommt das BVerfG
zu Schlussfolgerungen, die viele Ver- tragsärzte als eine schallende Ohrfeige empfinden werden. Zweck der ICD- 10-Verschlüsselung sei von vornherein gewesen, „das Abrechnungsverhalten von Ärzten dahin zu beeinflussen, nur notwendige und wirtschaftliche Thera- pien und Verordnungen abzurechnen“.
Es können sich nun diejenigen bestätigt sehen, die andere Begründungen für die Verschlüsselungspflicht – bessere Integration oder Kooperation der ver- schiedenen Leistungsbereiche des Ge- sundheitswesens, Schaffung epidemio- logischer Basisdaten, effektivere Pati- entenbehandlung – immer nur für Au- genwischerei gehalten haben. Die obersten Verfassungshüter sprechen Klartext: „Gemessen am Gesetzes- zweck ist derzeit kein milderes Mittel ersichtlich als eine nach Breite und Tie- fe verstärkte Kontrolle, nachdem die Vergangenheit gezeigt hat, dass die Ärzteschaft insgesamt mit Mengenaus- weitungen auf Honorarkürzungen rea- giert hat.“ Bedingt durch die Struktur des Krankenversicherungsrechts, gebe es keine Anreize zum wirtschaftlichen Verhalten der Vertragsärzte. Wirt- schaftlichkeitsprüfungen seien unum- gänglich; mit der neuen Diagnosen- verschlüsselung würden bereits beste- hende Kontrollmechanismen lediglich qualitativ verbessert. Ei- ne effektive Wirtschaft- lichkeitskontrolle trägt nach Auffassung des Ge- richts zum Erhalt der Lei- stungsfähigkeit des ge- samten vertragsärztlichen Systems bei; andernfalls hätten gerade die wirt- schaftlich handelnden Ärzte „unter dem durch unnötige Mengenauswei- tung verursachten Punktwertverfall“
zu leiden. Die Sicherung der finanziel- len Stabilität der Gesetzlichen Kran- kenversicherung ist für das BVerfG „ei- ne Gemeinschaftsaufgabe von hohem Rang“, zu deren Verwirklichung der Gesetzgeber die Vertragsärzte in die Pflicht nehmen darf. Dr. Thomas Gerst A-1105
P O L I T I K AKTUELL
Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 17, 28. April 2000
ICD-10-Diagnosenschlüssel
Bundesverfassungsgericht spricht Klartext
Das Bundesverfassungsgericht hat die
Verfassungsbeschwerde eines Arztes nicht zur Entscheidung angenommen. Die Begründung dafür ist lesenswert.
Leserforum zur
ICDy-10-Codierung auf den DÄ-Internetseiten: kontrovers und emotional
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Foto: Bundesverfassungsgericht