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2. Mai 2014D
ie Inzidenz von Tumorer- krankungen nimmt seit Jah- ren kontinuierlich zu. Zugleich stei- gen die Überlebensraten. „Die Zahl von Menschen mit chronischen Be- einträchtigungen nach kurativen so- wie palliativen Tumortherapien wächst“, erklärte Prof. Dr. med.Hans Helge Bartsch, Ärztlicher Di- rektor der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg, in einem „Update“ zur onkologischen Rehabilitation auf dem Rehawissenschaftlichen Kol- loquium Mitte März in Karlsruhe.
Krebserkrankungen stellen mit 17 Prozent heute den drittgrößten Indi- kationsbereich bei den medizini- schen Rehaverfahren der Deutschen Rentenversicherung (DRV) dar.
Welche Rahmenbedingungen kennzeichnen die onkologische Re- habilitation? Bartsch machte zu- nächst auf ein Spezifikum aufmerk- sam: Aufgrund einer Ausnahme im Sozialgesetzbuch stehen auch krebskranken Rentnern grundsätz- lich die medizinischen Rehaverfah- ren der DRV offen. Nach § 31 SGB VI können „Nach- und Festigungs- kuren wegen Geschwulsterkran- kungen für Versicherte, Bezieher ei- ner Rente sowie ihre Angehörigen“
als „sonstige Leistungen zur Teilha- be“ erbracht werden. Der Alters- durchschnitt liegt daher auch aus diesem Grund in der onkologischen Rehabilitation höher als im Reha- durchschnitt (2012: 62 versus 51,7 Jahre). Neben „Reha vor Rente“
gilt vermehrt die Maxime „Reha vor Pflege“ mit der Lebensqualität als zentraler Zielgröße, erläuterte der Klinikleiter.
Somatische Störungen und starke psychische Belastung Vor allem aber beschrieb Bartsch das Krebspatientenkollektiv als we- sentlich vielfältiger in seinen Schä- digungen und Belastungen als in anderen Indikationsbereichen. Den funktionalen somatischen Störun- gen und der oft hohen psychosozia- len Belastung (unter anderem Rezi- divangst) begegnet die onkologi- sche Rehabilitation mit einem mul- timodalen Behandlungskonzept, das körperorientierte und psycholo- gische Interventionen einschließ- lich neurokognitiver Trainings um- fasst. Darüber hinaus aber müsse die Rehabilitationsmedizin ihre Konzepte verstärkt auf zielgruppen- spezifische, zum Teil neue Belas-
tungsprofile systematisch ausrich- ten: „Schonenden operativen Tech- niken – möglichst minimal-invasiv und organfunktionserhaltend – ste- hen nicht selten längere, nebenwir- kungsreichere adjuvante Strategien gegenüber“, erläuterte Bartsch die jüngere Entwicklung.
Der Internistische Onkologe und Hämatologe gab einen kurzen Überblick über Komplikationen und Nebenwirkungen chirurgischer, medikamentöser und radiologischer Krebstherapien einschließlich der Stammzellentransplantation und fasste typische psychosoziale Fol- geprobleme in der Onkologie zu- sammen. Dazu zählen unter ande- rem Depressionen, Angstzustände, Störungen der körperlichen Identi- tät und des Selbstwertgefühls, Part- nerschaftskonflikte und neuropsy- chologische Defizite. Zu den neuen Problemen, die eine interdisziplinä- re Antwort verlangten, zählten bei- spielsweise die Polyneuropathie oder gastrointestinale Symptome durch Tyrosinkinasehemmer. Auch Schlafstörungen seien ein gravie- rendes Problem, das eine systemati- sche Beschäftigung in der Rehabili- tation erfordere.
ONKOLOGISCHE REHABILITATION
Differenzierte Konzepte notwendig
Krebspatienten haben oft komplexere Schädigungen und Belastungen als Rehabilitanden anderer Indikationsbereiche. In der onkologischen Reha sind interdisziplinäre und zielgruppenspezifische Ansätze daher unerlässlich.
Bewegung und Entspannung sind zwei wichtige Bausteine in der onkologischen Reha.
Foto: Fotolia/Deklofenak
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2. Mai 2014 A 791 Wegen dieses breiten Spektrumsplädierte Bartsch dafür, die onkolo- gische Rehabilitation vorzugsweise in Einrichtungen mit entsprechen- den Schwerpunktsetzungen auszu- bauen und auch von Trägerseite entsprechend zu belegen. Denn in großen Einheiten gingen kleine Gruppen von Krebspatienten mit ihren speziellen Belastungsprofilen unter.
Was kann onkologische Rehabili- tation bewirken? Bartsch stellte die Evidenz zum Outcome onkologi- scher Rehamaßnahmen vor, so eine Übersichtsarbeit der Cochrane Col- laboration von 2012 zum körperli- chen Training. Das Review umfasst 40 randomisierte, kontrollierte Stu- dien mit 3 694 Patienten nach Mam- makarzinom, Darmkrebs, Lympho- men, Kopf-Hals-Tumoren und ande- ren Krebserkrankungen. Angewandt wurden Kraft- und Ausdauertrai- ning, Walking, Yoga, Qigong oder Tai Chi. Die Analyse belegte eine signifikante Verbesserung der glo- balen Lebensqualität, des Körper- bilds, des emotionalen Befindens, der Sexualität sowie der Symptoma- tik bei Fatigue und Schlafstörungen bis sechs Monate nach Entlassung.
Für die Rehabilitation nach Mammakarzinom hat die DRV evi- denzbasierte Therapiemodule mit Maßgaben zur Anwendung bereits in „Reha-Therapiestandards“ ge- bündelt. Sporttherapie, Entspan- nungsverfahren und psychosoziale Interventionen wiesen dabei in der Literatur das höchste Oxford Level of Evidence für die Wirksamkeit auf, gefolgt von Physiotherapie und Ernährungsschulung. Ein Cochrane Review mit 14 Studien über die Be- handlung von Schulter-Arm-Pro- blemen bei Brustkrebspatientinnen ergab: Ein strukturiertes Übungs- programm verbesserte signifikant wirksamer die Beweglichkeit als die Standardtherapie.
Für die Psychoedukation stellte Bartsch eine Evidenzanalyse aus der Universität Würzburg vor, die 19 Studien mit 3 857 Personen um- fasste. Die Forscher fanden in je- weils mehreren Studien, dass sich Angst und Depressivität in kleinem Maße, aber signifikant und konsis- tent bis zu einem halben Jahr nach
der onkologischen Reha verringert hatten. Kleine bis mittelgroße Ef- fekte zeigten sich für die Lebens- qualität, die sehr abgeschwächt län- ger fortbestanden.
Ein besonderes Augenmerk Bartschs galt den Lungenkrebspa- tienten und damit einer „großen, aber vernachlässigten Gruppe“.
Auch in der Rehaforschung seien sie stark unterrepräsentiert. Eine Studie an der Cecilien-Klinik in Bad Lippspringe hat entgegen frü- heren Daten auch für diese Patien- ten gezeigt, dass ein Körpertraining die Lungenfunktion günstig beein- flussen kann. So konnten 45 Patien- ten bei einem täglichen Intervall- training am Ergometer wichtige Er- folgsmaße, so Kraft und Ausdauer, die Herzratenvariabilität und das Einsekundenvolumen sowie die Le- bensqualität deutlich steigern.
Eine weitere Kernbotschaft lau- tete: Die onkologische Rehabilita - tion muss stärker in die Gesamt - versorgung eingebunden werden.
Nicht nur auf der Suche nach Fak-
toren, die für einen seit zwei Jahren beobachteten Antragsrückgang bei Krebspatienten (je drei Prozent bei der Anschlussrehabilitation) verant- wortlich sein könnten, ging Bartsch auf Probleme am Übergang zwi- schen Akut- und Rehabereich ein.
Mit der Information von Patientin- nen hat sich eine Arbeit von 2010 aus dem Institut für Medizinsozio- logie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln befasst. Dabei traten sehr große Unterschiede zwi- schen den nordrhein-westfälischen Brustzentren zutage, inwieweit sie über indizierte oder sinnvolle An- schlussbehandlungen aufklärten, obgleich dies ein Qualitätskriterium der Zertifizierung darstellt. Gene- rell seien Ärzte im Akutbereich auf- gerufen, genau hinzusehen und nachzufragen, um einen Rehabe- darf zu prüfen. Dabei soll ihnen die
Rehaforschung helfen: „Wir brau- chen dringend ein einfaches, vali- des Screeninginstrument, das es den Primärbehandlern erlaubt, die Rehabedürftigkeit mit minimalem Aufwand einzuschätzen“, schlug Bartsch vor. Gedacht ist an Kurz- fragebögen für Patienten, die sich schnell auswerten lassen.
Auch beim Informationsfluss zu den Rehamedizinern sind „deutliche Anzeichen für einen Optimierungs- bedarf“ zu erkennen, wie eine Studie aus der Gesundheits- und Pflegewis- senschaft der Universität in Halle- Wittenberg aufgezeigt hat. Leitende Rehaärzte gaben in einer Befragung mehrheitlich zu Protokoll, dass sie bei Neuaufnahmen öfter bis häufig über keine Befunde und Angaben zum Krankheitsverlauf oder die Ein- schränkungen der Patienten verfüg- ten. Auch hier soll ein neues Assess- ment-Instrument die Überleitung aus der Akutmedizin verbessern.
Das veränderte Vergütungssys- tem in Krankenhäusern in Form von Fallpauschalen hat die Situa -
tion in der Reha verschärft: Es gebe
„deutlich häufiger somatische Pro- bleme, insbesondere bei der An- schlussrehabilitation“, berichtete Bartsch. Auch sei die Krankheits- verarbeitung in der Regel „über- haupt nicht begonnen“, und die Pa- tienten kämen „mit massiven emo- tionalen Störungen“ in den Rehakli- niken an. Um das Gesamtergebnis der gesundheitlichen Versorgung von Krebspatienten zu verbessern, müsse die Rehabilitation nicht nur, wie schon erfolgt, im Nationalen Krebsplan aufgenommen, sondern mit differenzierten Konzepten darin verankert und die Kooperation noch enger werden. Die angekündigte vierprozentige Erhöhung des Reha- budgets der Rentenversicherung stufte Bartsch angesichts der epide- miologischen Prognosen als weit- aus zu niedrig ein.
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Leonie von Manteuffel
„ Wir brauchen dringend ein einfaches, valides Screening- instrument, das es den Primärbehandlern erlaubt, die
Rehabedürftigkeit mit minimalem Aufwand einzuschätzen. “
Hans Helge Bartsch, Klinik für Tumorbiologie in Freiburg