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und ein Drittel aller Rehabili- tationsverfahren betrifft den muskuloskelettalen Bereich. Hier vollzieht sich ein Wandel von lan- ge vorherrschenden eher passiven Behandlungsverfahren zu aktivi- täts- und verhaltensorientierten Kon- zepten. Zu dieser und weiteren Entwicklungen stellte die Deutsche Gesellschaft für Rehabilitations- wissenschaften (DGRW) auf dem 21. Rehawissenschaftlichen Kollo- quium im März in Hamburg den aktuellen Forschungsstand vor.In dem wissenschaftlichen Up- date gab Prof. Dr. med. Bernhard Greitemann aus Bad Rothenfelde einen Überblick über wegweisen- de Ergebnisse zur Wirksamkeit von Behandlungsverfahren und offene Forschungsfragen. Einen Schwer- punkt legte der Ärztliche Direktor einer Rehabilitationsklinik der Deut - schen Ren tenver si che rung (DRV) und Leiter des Instituts für Reha - bilitationsforschung Norderney da- Körperliche Akti-
vität ist ein wich- tiger Baustein.
Das Rehakonzept muss aber auch die psychische und be-
rufliche Situation einbeziehen.
ORTHOPÄDISCHE REHABILITATION
Erfolg durch multimodale Konzepte
Die psychische und berufliche Situation der Patienten spielt bei der
Chronifizierung von Rückenschmerzen eine wichtige Rolle. Ein ganzheitlicher Ansatz in der Rehabilitation führt zu nachhaltigeren Behandlungserfolgen.
bei auf den chronischen Rücken- schmerz.
Psychosoziale Risikofaktoren für eine Chronifizierung wurden in den letzten beiden Jahrzehnten interna- tional mit hoher Evidenz (Level A) nachgewiesen. Neben somatischen Prozessen wurden damit berufliche und psychische Belastungen sowie ungünstige Copingstrategien als the - rapeutische Ansatzpunkte erkenn- bar. Greitemann wies hier darauf hin, dass sich die Forschung bisher
vorrangig mit ängstlich-depressi- vem Schonverhalten und daraus folgender Dekonditionierung und noch wenig mit den ebenfalls ver- breiteten Durchhaltestrategien be- fasst hat.
Einzelinterventionen müssen beim chronischen Rückenschmerz als
„kaum erfolgreich“ gelten. Starke Evidenz zeigen internationale Stu- dien dagegen für multimodale, in- terdisziplinäre Programme. Diese kombinieren intensives Körpertrai- ning mit kognitiv-verhaltensmo - dulierenden Elementen zum Er - lernen adaptiver Schmerzbewälti - gungs strategien, was beides über- wiegend in Gruppen erfolgt. Auch deutsche Studien konnten positive Effekte unterschiedlicher Stärke und Nachhaltigkeit belegen. 2010 hat eine Forschergruppe der Hoch- schule Magdeburg-Stendal für das Göt tinger Rücken-Intensiv- programm (GRIP) und das Inte- grierte orthopädisch-psychosomati- sche Konzept (IopKo) „mittlere bis starke Effekte“ auf Schmerz, Funk- tion, depressive Symptomatik und Krankheitstage auch nach längerer Katamnese berichtet. „Die zu Recht kritisierte mangelhafte Nachhaltig- keit orthopädischer Rehabilitation scheint zumindest durch einige multimodale Programme gesteigert zu sein“, fasste Greitemann den
MULTIMODALE THERAPIE
Erfolgsfaktoren für multimodale Programme sind:
●
multidisziplinäres, interdisziplinär zusammenarbeitendes Team●
hohe Intensität und Umfang der In- terventionen●
Orientierung an individueller funk- tioneller Problemlage●
Bewegungstherapie zum Abbau von Bewegungsangst●
berufsbezogenes Training●
kognitiv-behaviorale und edukative Inhalte zur Rekonditionierung●
StressmanagementQuelle: angelehnt an B. Greitemann, DGRW-Update am 6. März 2012, Universität Hamburg
Foto: Fotolia/Kzenon
T H E M E N D E R Z E I T
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11. Mai 2012 Erfolg – auch seiner IopKo-For -schungs arbeit – zusammen.
Schwer chronifizierte Patienten profitieren dabei offenbar in gerin- gerem Maße. „Patienten kommen vielfach zu spät in die Rehabilita - tion, wir müssen sie früher errei- chen“, betonte Greitemann. Einen Hebel dazu stellen Netzwerkprojek- te der DRV mit Betrieben dar, in- dem sie eine frühzeitigere Zuwei- sung und eine vorbeugende Gesund - heitsbildung für Beschäftigte nach
§ 31 Sozialgesetzbuch VI fördern.
Streitpunkt Massage
Auch bestehe noch Bedarf an wei- teren arbeitsbezogenen Angebo- ten in den Rehakliniken, belegte der Referent mit aktuellen Daten der Rentenversicherung. Chronische Rückenschmerzen wiesen eine ho- he Koinzidenz mit beruflichen Pro- blemlagen auf, und entsprechende Therapiemodule (zum Beispiel zur Motivierung, Zielfindung, Ressour- censtärkung) konnten in Studien positive Effekte auf die subjektive Gesundheit und die Rückkehr zum Arbeitsplatz verbuchen. Für nieder- gelassene Ärzte stehen evaluierte Kurzscreenings zur Verfügung, um schon beim Rehaantrag eine Be- rufsproblematik mit zu erfassen.
„Von der physikalischen Thera- pie zu flexiblen, aktivitäts- und verhaltensorientierten Behandlungs- modellen?“, hieß der Titel des Updates. Unter dem Fragezeichen wurde die Abkehr von „passiven“
physikalischen und physiotherapeu- tischen Verfahren diskutiert. „Unter einem gruppenorientierten, aktivie- renden Konzept können sehr positi- ve und motivierende, wenn auch nur kurzfristig wirkende Effekte der Schmerzlinderung verloren gehen“, gab Greitemann zu bedenken. Denn ein reines Trainingsprogramm lin- dere gerade am Anfang nicht immer die Beschwerden, sondern könne sie zeitweise auch verstärken. Trotz psychosozialer Komorbiditäten sei- en zudem auch rein somatische Ver- änderungen, die den Patienten be- einträchtigten, mit zu behandeln.
„Daher muss der Arzt in der Reha- bilitation eine gute Balance zwi- schen den evidenzbasierten Thera- pieelementen und auf den Patienten
zugeschnittenen schmerzmindern- den Therapien finden“, lautet Grei- temanns Votum.
Die Sowohl-als-auch-Praxis ge- winnt auch wissenschaftlich an Bo- den. Die Cochrane Collaboration veröffentlichte 2010 aus 13 Studi- en folgendes Resümee: Massage könnte sich bei Patienten mit un- spezifischen subakuten und chroni- schen Kreuzschmerzen positiv aus-
wirken – insbesondere wenn sie mit körperlichen Übungen und Patien- tenschulung kombiniert werde. In der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz wird Massage, ver- bunden mit vorrangiger Bewegungs- therapie, für chronische Schmerz- syndrome auf neutralem Level auf- geführt. Auch hat die DRV die Massage vom Status eines fakultati- ven Zusatzmoduls in ihren aktuel- len „Reha-Theapiestandards chro- nischer Rückenschmerz“ (2011) zu einem evidenzbasierten Therapie- modul hochgestuft.
Differenzierte Studien nötig Ein wesentliches Problem für die Evidenzbasierung verortet die DGRW jedoch vor allem im „Ge- mengelage“ des „unspezifischen“
Kreuzschmerzes. „Studien zum chro- nischen Rückenschmerz leiden dar - unter, dass sich unter dieser Rubrik häufig unterschiedlichste Problem - entitäten befinden. Wie soll man da eine Wirkung zeigen?“, gab Greite- mann zu bedenken. Erst anhand klinisch bedeutsamer Subgruppen, die nach Ursachen und Chroni - fizierungsstadien differenzieren, könnten auch spezifischere Thera- piestrategien untersucht werden.
Konsensbildung wäre dazu nötig, denn bislang streuten pathoanato- mische Diagnosen je nach Berufs- gruppe – das belegen Daten einer australischen Studie.
Ein weiterer Schwerpunkt des Updates war die Anschlussrehabili- tation – ein Erfolgsmodell mit „seit Jahren steigenden Antragszahlen“.
Wie haben sich die Diagnosis Re - lated Groups (DRGs) im Akutbe- reich auf die Rehabilitation nach Hüft- und Knie-Totalendoprothese ausgewirkt? Hier wurde eine zu- nehmend kritischere Einschätzung im Verlauf der DRG-Einführung deutlich. In der letzten von drei
„REDIA“- Studien zwischen 2003 und 2008 sieht jeder zweite Experte
„Probleme in der Rehabilitation“
(anfangs 25 Prozent) und jeder fünfte einen erhöhten Betreuungs- bedarf nach Hüft-Totalendoprothe- se (anfangs 3,6 Prozent). Der Mehraufwand betrifft unter ande- rem Wundbehandlungen, Labor- leistungen, Anti bio tikatherapie und Thromboseprophylaxe. Die RE- DIA-III-Ergebnisse verweisen auf steigende Komplikations- und Rückverlegungsraten.
Was das auf Klinikebene bedeu- ten kann, hat das Institut für Reha- bilitationsmedizin der Universität Halle-Wittenberg anhand der Akten von 3 196 Patienten über sechs Jah- re veranschaulicht. Die sinkende Behandlungsdauer im Akutkran- kenhaus ging mit einem Anstieg der Wundheilungsstörungen bei den Rehabilitanden von nahezu null auf 14 Prozent einher.
Weitere Update-Themen waren Erkenntnisse für die ambulante Re- habilitation, offene Fragen der Nach- sorge und das Forschungsfeld der Arzt-Patient-Kommunikation. „Die affektive Ebene ist bei Orthopäden manchmal knapp bemessen“, be- merkte Greitemann. Nachweislich positiv wirke sich eine gute Inter- aktionsqualität aus – ein Stichwort:
Wertschätzung. Dadurch verbesser- ten sich sowohl die Compli ance und Zufriedenheit des Patienten als auch Schmerzen, Funktionsstatus sowie klinische Parameter. Außer- dem steige auch die ärztliche Ar- beitszufriedenheit.
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Leonie von Manteuffel Chronifizierungsrisiken für unspezifischen Rückenschmerz:
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anhaltender Disstress im beruflichen und privaten Alltag●
Neigung zur depressiven Verarbeitung von seelischen Belastungen●
passives Schon- und Vermeidungsverhalten (Schmerz- verarbeitung über „Fear-Avoidance-Believes“)●
Ausblenden von Schmerzen, Durchhalten●
ungünstige subjektive Überzeugungen und Krankheits- theorienQuelle: angelehnt an B. Greitemann, DGRW-Update vom 6. März 2012, Universität Hamburg