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Archiv "1947/1997 – Bundesärztekammer im Wandel (XVIII): „Welten trennen uns vom real existierenden Sozialismus“ Vom sozialistischen Gesundheitswesen zur Selbstverwaltung" (07.11.1997)

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Der 3. Oktober 1990 markiert das Ende des zum Scheitern verurteilten real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden. Es bedeutete aber zugleich auch das Ende des mit diesem System fest verbundenen sozialisti- schen Gesundheitswesens. Ausgehend von der ungeteilten Entwicklung der deutschen Ärzteschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, möchte ich einige Besonderheiten darstellen, die die ärztliche Tätigkeit in diesem Teil Deutschlands in immerhin 45 Jahren bis zur Wende charakterisieren.

Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurden von den im Mos- kauer Exil lebenden Kommunisten, federführend Wilhelm Pieck und Wal- ter Ulbricht, sowie vom Nationalko- mitee „Freies Deutschland“ (NKFD) erste Konzeptionen, auch für den Aufbau des Gesundheitswesens nach dem Kriegsende, erarbeitet.

Die Ziele entsprachen den For- derungen der KPD aus den zwanziger Jahren und waren weit gespannt von der einheitlichen Sozialversicherung, dem besonderen Schutz für Schwan- gere, Bekämpfung von Seuchen, För- derung von Körperkultur und Sport bis zum Recht auf freie Arztwahl. Die in der Zwischenzeit nach Deutschland zurückgekehrte KPD-Führung nutzte rigoros und doppelzüngig den Schutz der sowjetischen Truppen zur Durch- setzung ihres Zieles, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung.

So entstand bereits im August 1945 auf Befehl der Sowjetischen Militär- administration (SMAD) die deutsche Zentralverwaltung für das Gesund- heitswesen.

Mit zwei Sätzen aus einer 1985 in der DDR erschienenen Monografie

„Im Dienst am Menschen“ wird die Situation unmißverständlich: „Die an- tifaschistisch-demokratischen Selbst- verwaltungsorgane fanden immer und

überall die wirkungsvolle Unterstüt- zung der SMAD. Wie für die anderen gesellschaftlichen Bereiche auch, gab die SMAD zur normalen Regelung der Arbeit im Gesundheitswesen Be- fehle heraus.“

Diese zentralistische und admini- strativ gegründete Leitungsstruktur des Gesundheitswesens, fernab wirk- lich demokratischer Regularien, blieb in unterschiedlichen Ausprägungen bestimmend bis zum Ende des soziali- stischen Gesundheitswesens. Auch beim Aufbau des Gesundheitswesens in der DDR folgte man der Losung

„Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“.

Die eindeutige politische Zielset- zung, auch das Gesundheitswesen nach dem Vorbild der Sowjetunion zu gestal- ten, stand im krassen Widerspruch zur traditionellen ärztlichen Berufsaus- übung und den Organisationsstruktu- ren der Ärzte in Deutschland.

Demokratischer Anstrich, sowjetisches Vorbild

Zunächst war offensichtlich an radikale Veränderungen gedacht wor- den, wie Carl Coutelle, Kaderleiter in der Zentralverwaltung für das Ge- sundheitswesen und später Ordina- rius für Pathologie in Halle, in seinen Erinnerungen 1985 schreibt: „Bei dem erheblichen Ärztemangel verbot sich – mit Ausnahme der vom faschi- stischen Staat berufenen Amtsärzte – eine ähnliche radikale Maßnahme wie bei Juristen und Lehrern, zumal ra- sche Übergangslösungen nach Art der Ausbildung von Neulehrern und Volksrichtern nicht möglich waren.“

Der erforderliche Druck zur Um- gestaltung durfte nie so groß sein, daß er die Gesundheitsversorgung ernst- lich gefährdete.

Da das Gesundheitswesen nur als Teil des sozialistischen Systems zu be- trachten ist, konnte auch hier nur in

„dialektischem Verständnis gesell- schaftlicher Zusammenhänge“ die Diktatur des Proletariats regierendes Prinzip sein. So entsprach es folge- richtig dieser Logik, daß Struktu- ren demokratischer Selbstverwaltung, wie Ärztekammern und andere ärztli- che Organisationen, verboten wurden mit der Begründung einer nationalso- zialistischen Durchdringung dieser Organisationen. Ärzte sollten keine eigenen Standesorganisationen grün- den, sondern Mitglied des zwi- schenzeitlich gebildeten Freien deut- schen Gewerkschaftsbundes als ihrer Interessenvertretung werden.

Im Jahr 1955 stellte man im Be- zirk Magdeburg fest, daß über 90 Pro- zent der niedergelassenen Ärzte ge- werkschaftlich organisiert waren. Die Widersprüchlichkeit wird deutlich, wenn man sich vorstellt, daß heute über 90 Prozent der niedergelassenen Ärzte Mitglieder des Marburger Bun- des wären, wobei schon der Vergleich von Marburger Bund und Freiem Deutschen Gewerkschaftsbund als staatsgebundenem Instrument im Selbstverständnis der Interessenver- tretungen unzulässig ist. Gegen den Willen weiter Teile der Ärzteschaft erließ die Sowjetische Militäradmini- stration 1947 Befehle über die Schaf- fung einer einheitlichen Sozialversi- cherung, über den Auf- und Ausbau des Betriebsgesundheitswesens und über die Errichtung von Polikliniken.

Damit war unter anderem das Ende niedergelassener ärztlicher Tätigkeit besiegelt.

Einen demokratischen Anstrich sollten diese Befehle dadurch erhal- ten, daß sie den Wünschen unter an- derem der Blockparteien und des so- genannten Freien Deutschen Ge-

1947/1997: Bundesärztekammer im Wandel (XVIII)

„Welten trennen uns vom real existierenden Sozialismus“

Vom sozialistischen Gesundheitswesen zur Selbstverwaltung

Walter Brandstädter

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werkschaftsbundes und der Bevölke- rung nach guter medizinischer Versor- gung entsprachen.

Die Struktur des sozialistischen Gesundheitswesens nach sowjeti- schem Vorbild war 1952 vollendet. An der Spitze der hierarchischen Ord- nung stand das Ministerium für Ge- sundheitswesen, gefolgt von 15 Be- zirksärzten in den jeweiligen Bezirken und je einem Kreisarzt in den neuge- bildeten Kreisen nach Auflösung der Länder 1952.

Die Kreisärzte ersetzten die Amtsärzte alter Prägung. Die Kreis- ärzte hatten als gewählte Mitglieder des Rates des Kreises eine wesentliche Vermittlungsfunktion zwischen den Einrichtungen des Gesundheitswe- sens und der politischen Führung auf der Ebene des Kreises. Diese straffe Struktur hat es aber sicher auch er- möglicht, in schwierigen Zeiten der Versorgung bei materiellen Engpäs- sen handlungsfähig zu bleiben.

Für den Arzt lag die Betonung seiner Tätigkeit in der Vorbeugung, der Einheit von Prophylaxe, Diagno- se, Therapie und Nachsorge, der Ver- staatlichung, der Einheitlichkeit, der Planmäßigkeit, der Kostenfreiheit und allgemeinen Zugänglichkeit der medizinischen Versorgung. Dieses waren bereits 1968 verfassungsgemä- ße Grundsätze.

So gehörte das Gesundheits- wesen sicher zu einem Teilbereich, der relativ gut funktionierte. Beson- dere Leistungen und Erfolge im Ge- sundheitswesen wurden stets von der Partei aufgegriffen und propagandi- stisch als typisch für den Sozialismus dargestellt. Mit den Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens sollte für jeden Bürger der Sozialismus be- greifbar werden.

Schizophrenie ärztlicher Tätigkeit

Hierin wird aber auch die Schizo- phrenie ärztlicher Tätigkeit in der DDR deutlich. Das ärztliche Ethos und die Aufopferung für den Patien- ten haben zu einem hohen Ansehen des Arztes in der DDR geführt. Er hat damit wesentlich dazu beigetragen, das Sozialismusbild des Bürgers zu beeinflussen. Die Vergangenheitsbe-

wältigung ist bei uns sicher so weit fortgeschritten, daß man aus diesem Tatbestand heute keinem Arzt mehr einen Vorwurf machen würde – weder direkt noch indirekt.

Durch seine Leistungen und das Vertrauensverhältnis zu den Patienten hatte der Arzt eine gesellschaftliche Stellung, die aus der Sicht der Herr- schenden stets argwöhnisch betrachtet wurde. Einerseits versuchte man, sein Sozialimage abzubauen, ihn zu einem Bürger „wie jeder andere“ zu erklären, andererseits benutzte man seine Lei- stung, um dem Sozialismus ein menschliches Gesicht zu geben. Dieser Widerstreit der Gefühle und Interes- sen führte auch zu den Methoden staatlichen Umgangs mit den Ärzten, die man kurz mit „Zuckerbrot und Peitsche“ charakterisieren kann.

Natürlich versuchte man stets, apostro- phierte Grundzüge des Sozialismus in die ärztliche Tätigkeit einzubringen.

So konnte man 1984 in der Zeitschrift

„humanitas“ folgendes lesen: „Die so- zialistische Entwicklung befreite die

Ärzte sowohl aus ihrer Stellung als Entrechtete und Mißbrauchte des Ka- pitals als auch aus einer dem Volk ent- fremdeten Sonderstellung, aus Kasten- geist und Elitedenken. Entscheidend war und ist, daß der Arzt im Sozialis- mus, frei von kommerziellen Belastun- gen und Interessen, frei vom Einfluß pharmazeutischer und medizintechni- scher Konzerne, unabhängig von Ver- sicherungsträgern und Standesorgani- sationen, seiner Aufgabe, den Men- schen zu dienen, nachgehen kann.“

Jahrzehnte wurden diese Thesen den Ärzten in der DDR nahegebracht.

In Wahrheit wurde das Verhalten des Arztes daran gemessen, ob es dem Sozialismus dient. Auch der Arzt wur- de bewußt in das Experiment „Sozia- lismus“ eingebunden, um seine Inter- essenidentität mit der sozialistischen Gesellschaft zu finden. Hierin lag wohl auch der Grundfehler im Denk- ansatz. Es konnte nicht gelingen, die Identität der Interessen von Individu- um und real existierender sozialisti- scher Gesellschaft herzustellen.

A-2976 (32) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 45, 7. November 1997

T H E M E N D E R Z E I T 50 JAHRE BUNDESÄRZTEKAMMER

Bisher sind in dieser Serie erschienen:

Thomas Gerst: Föderal oder zentral? – Der kurze Traum von einer bundeseinheitlichen ärztlichen Selbst- verwaltung (Heft 38/1996)

Gerhard Vogt: Arzt im Krankenhaus (Heft 45/1996)

Hedda Heuser-Schreiber: Ärztinnen in Deutschland – Fakten, Beobachtungen, Perspektiven (Heft 1–2/1997) J. F. Volrad Deneke: Körperschaften und Verbände – streitbare Verwandte (Heft 4/1997)

Klaus-Ditmar Bachmann, Brigitte Heerklotz: Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer (Heft 10/1997)

Marilene Schleicher: Die ärztliche Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland (Heft 14/1997) Jürgen W. Bösche: Die Reichsärztekammer im Lichte von Gesetzgebung und Rechtsprechung der Bundes- republik Deutschland (Heft 21/1997)

Horst Dieter Schirmer: Ärzte und Sozialversicherung (I) – Der Weg zum Kassenarztrecht (Heft 26/1997) Horst Dieter Schirmer: Ärzte und Sozialversicherung (II) – Der Weg zum Kassenarztrecht (Heft 27/1997) Franz Carl Loch, P. Erwin Odenbach: Fortbildung in Freiheit – Gestern und heute: Eine Hauptaufgabe der ärztlichen Selbstverwaltung (Heft 33/1997)

Franz Carl Loch, Wolfgang Loris: Der saarländische Sonderweg (Heft 38/1997)

Jörg-Dietrich Hoppe: Die Weiterbildungsordnung – Von der Schilderordnung zum integralen Bestandteil der Bildung im Arztberuf (Heft 39/1997)

Bruno Müller-Oerlinghausen, Karl-Heinz Munter: Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft – Qualitätssicherung in der Arzneitherapie (Heft 40/1997)

Rolf Bialas, Michael Jung: Alterssicherung in eigener Verantwortung – Ärztliche Versorgungswerke (Heft 41/1997)

Walter Burkart: Die Auslandsbeziehungen der Bundesärztekammer (Heft 42/1997)

Christoph Fuchs, Thomas Gerst: Medizinethik in der Berufsordnung – Entwicklungen der Muster-Berufs- ordnung (Heft 43/1997)

Karsten Vilmar: Die ärztliche Selbstverwaltung und ihr Beitrag zur Gestaltung des Gesundheitswesens (Heft 44/1997)

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Die besondere Rolle der Ärzte- schaft und des Gesundheitswesens in der DDR wurde mit distanzierter Skepsis betrachtet und damit zu einem besonderen Betätigungsfeld der Staats- sicherheit. Will man als Zeitzeuge ein Fazit ziehen, wie nach länger als 40 Jahren sozialistischer Entwicklung der Arzt aussah, der mit der gesellschaftli- chen Wende auch die Umgestaltung im Gesundheitswesen der ehemaligen DDR vollzogen hat, so kann ich mich durchaus auf die wissenschaftlichen Ergebnisse von Klaus-Dieter Müller beziehen: „Einen einheitlichen DDR- Arzt hat es nicht gegeben.“

Unüberbrückbare

Differenzen von Anspruch und Realität

Privilegienabbau und Akademi- kerfeindlichkeit der SED begründe- ten bei einem Teil der Ärzte die Unzu- friedenheit. Von der Mehrheit jedoch wurde der Sozialismus und das soziali- stische Gesundheitswesen in seinem Kern nicht akzeptiert, weil die Diffe- renz von Anspruch und Realität zu- nehmend unüberbrückbar erschien.

Das Bewußtsein der Ärzte, nicht Kleinunternehmer in der DDR gewe- sen zu sein, in der die Gesundheit kei- ne Ware war, war ausgeprägt vorhan- den. Das Bild des Arztes als Unter- nehmer war bei vielen Ärzten negativ besetzt. Interessant wären heute Un- tersuchungen, wie weit sich dieses Bild gewandelt hat. Häufig positive Erwäh- nung fand bei Ärzten die größere so- ziale Gleichheit in der DDR.

Erwartungsgemäß bestätigt Mül- ler mit seinen Untersuchungen, daß die Beurteilung des Gesundheitswe- sens in der DDR durch Ärzte, die in den Westen abgewandert sind, eine andere ist als die der Ärzte, die in der DDR geblieben sind.

Die Defizite in der DDR wurden im Jahr 1989 auch im Gesundheits- wesen deutlich zunehmend spürbar.

Zusätzliche Versorgungslücken ent- standen durch die Flucht des Personals über Ungarn seit Mitte 1989. Die Öff- nung der Mauer am 9. November 1989 führte zur unmittelbaren Kontaktauf- nahme der Ärzte mit westdeutschen Kollegen und Ärztekammern. Interes- sant war dabei die Beobachtung, daß

Vergangenheitsbewältigung, wie wir sie betreiben wollten, in der Euphorie der Wiedervereinigung bei unseren west- deutschen Kollegen bisweilen kaum ei- ne Rolle zu spielen schien. Jeder wurde freundlich aufgenommen und beraten.

Fast hätte jeder wieder alles machen können, wenn nicht die Wissenden und Betroffenen deutlich reagiert hätten.

Der Präsident der Ärztekammer Thüringens, Eggert Beleites, hat unse- re Haltung zur Vergangenheitsbewäl- tigung 1990 so beschrieben: „Wir wol- len uns dabei so würdig wie möglich verhalten, an die gewaltlosen Kerzen- demonstrationen denkend, Entschlos- senheit zeigen, uns aber nicht von Haß und Vergeltung dirigieren lassen.“

So hatten sich bereits im 1. Halb- jahr 1990 noch vor dem Erscheinen des offiziellen Kammergesetzes der DDR vom 13. Juli 1990 in allen neuen Ländern Ärztekammern etabliert.

Teile der Ärzteschaft waren frühzeitig, auch durch beratende und in vielfälti- ger Weise unterstützende Aktivitäten von Einzelpersonen, Verbänden, Ärz- tekammern usw. aus den alten Län- dern zur Umgestaltung der Verwal- tungs- und Leitungsstrukturen im Ge- sundheitswesen nach dem Vorbild der Bundesrepublik motiviert worden.

Seit Dezember 1990 amtieren alle Präsidenten der neuen Länder auch als Mitglieder des Vorstandes der Bundesärztekammer einschließlich ei- nes Vizepräsidenten seit 1995. Zum 94. Deutschen Ärztetag 1991 in Ham- burg konnten bereits alle neuen Län- der mit 38 der insgesamt 250 Delegier- ten vertreten sein.

In kurzer Zeit wurden die not- wendigen Strukturen und die landes- rechtlichen Voraussetzungen für die Ärztekammern so geschaffen, daß das geforderte Arbeitspensum bereits drei bis vier Jahre nach der Wende in zumindest vergleichbarer Weise mit den Kammern der alten Länder be- wältigt werden konnte, von der Wei- ter- und Fortbildung, der Schlich- tungsarbeit, der Ausbildung von Arzthelferinnen, dem eigenen Mittei- lungsblatt über die Qualitätssiche- rung bis zum Versorgungswerk, um wesentliche Schwerpunkte zu nennen.

Dabei gab es natürlich auch Wi- derstände einzelner Ärzte, die im we- senlichen zwei Argumentationslinien folgten:

1. Selbst zur Mitgliedschaft in der SED wurden wir nicht gezwun- gen – jetzt „Zwangsmitgliedschaft“ in freier Gesellschaft.

2. Warum müssen wir Beiträge entrichten für Leistungen, die wir nicht in Anspruch nehmen?

Heute wissen wir, daß diese Dis- kussionen nicht typisch für Ärzte der neuen Länder sind, sondern durchaus auch mit hohem Fachwissen gekop- pelt bei Neubesetzungen „importiert“

werden, wobei hier nur der Vergleich mit der SED fehlt.

Als äußerer Eindruck für die Ernsthaftigkeit und den Erfolg dieser Kammerarbeit können auch die neu- geschaffenen Gebäude unserer Kam- mern – in Sachsen-Anhalt gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung – ebenso dienen wie die hervorragend gestalteten Deutschen Ärztetage 1993 in Dresden und 1997 in Eisenach.

Dieses alles war natürlich einge- bettet in den Strukturwandel der Ver- sorgung der Bevölkerung. Bei allen auch verständlichen kritischen Dis- kussionen, Unsicherheiten und Äng- sten zur Gesundheitsreform müssen wir unserer Bevölkerung, aber auch unseren Ärzten, immer wieder in Er- innerung bringen, daß uns nach sie- ben Jahren Welten in der medizini- schen Versorgung vom real existieren- den Sozialismus trennen.

Die Umgestaltung ist gelungen

Die Umgestaltung der ambulan- ten Versorgung ist gelungen, Kran- kenhäuser haben einen hohen Ausrü- stungsstandard erreicht. Unterent- wickelte Fachgebiete wie Herz- und Neurochirurgie sind hoch leistungs- fähig, Sonografie und Computerto- mografie sind Allgemeingut. Die Arz- neimittelversorgung ist hervorragend.

Die Aufzählung könnte beliebig fort- gesetzt werden. Insgesamt ist der Pati- ent der Gewinner dieser Entwicklung.

Natürlich ist die Frage zulässig, ob Polikliniken oder bewährte Dis- pensaire-Betreuungen ersatzlos ver- schwinden mußten. Egal, wie man die Frage beantwortet, entscheidend ist, daß heute sachgerechte und frei von ideologischer Befangenheit notwen- dige Entscheidungen – ich denke zum

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Beispiel an vernetzte Praxen und Spe- zialsprechstunden – getroffen werden.

Unsere Patienten müssen nach dem enormen Anstieg des Leistungsver- mögens im Gesundheitswesen den Lernprozeß besonders schmerzlich empfinden, daß nicht mehr alles medi- zinisch-technisch Mögliche durch die Solidargemeinschaft finanzierbar ist.

Wir Ärzte haben dabei heute die besondere Verpflichtung, darum zu kämpfen, daß uns in der rasanten Ent- wicklung das Adjektiv „sozial“ im sozial-marktwirtschaftlichen Gefüge, speziell in den neuen Ländern, nicht verlorengeht.

Ein ungeheures Arbeitspensum

Dieser aktuelle Umgestaltungs- prozeß mit dem Aufbau der Ärzte- kammern ist nur durch eine verschwo- rene Gründergeneration möglich ge- wesen. Ein ungeheures Arbeitspen- sum war zu bewältigen. Neue Proble- me mußten gelöst werden. Aus heuti- ger Sicht ist für die Gesamtentwick- lung als förderlich anzusehen, daß wir noch keine gesetzlichen Regelungen und Richtlinien, Leitlinien und ähnli- che Vorschriften hatten. Wir wären sonst möglicherweise immer noch nicht fertig. Dank gilt den Kollegin- nen und Kollegen, den Institutionen, die uns mit Rat und Tat aus den alten Ländern unterstützt haben.

Der zeitliche Ablauf der Umge- staltung des Gesundheitswesens stand zwangsläufig im Kontext mit der poli- tischen Entwicklung insgesamt. We- sentliche Voraussetzungen für unser Gelingen der sehr schnellen Verände- rung der Strukturen im Gesundheits- wesen waren sicher die nach interna- tionalen Maßstäben ausgerichtete Ausbildung der Ärzte, ihre qualifi- zierte Weiterbildung und die Berufs- ausübung – weitgehend geprägt durch die Tradition deutscher Medizin und nicht unbeeinflußt von Fachpresse, Funk und Fernsehen der Bundesrepu- blik sowie noch bestehender Ost- West-Verbindungen.

Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, daß sich im Schoße einer morbiden, sterbenden Gesellschafts- ordnung das Potential an Ärzten ent- wickeln konnte, das so kurzfristig die

Umgestaltung des Gesundheitswe- sens erfolgreich vollendet hat.

In letzter Zeit gibt es zunehmend Stimmen, die da feststellen, daß der Umstieg auf ein anderes, vorwieggend materiell orientiertes Wertemodell der Gesellschaft nur wenigen Ost- deutschen wirklich gelungen ist. Bei der Mehrheit der Ärzte habe ich die- sen Eindruck allerdings nicht.

Offen bleibt natürlich die Frage nach der individuellen Identitätsfin- dung des Arztes in der sozial-markt- wirtschaftlichen Ordnung vor dem Hintergrund der über vierzigjährigen Entwicklung in der DDR. Schlechter gestellt waren sicher die Ärzte, die zum Zeitpunkt der Wende arbeitsunfähig oder bereits im Rentenalter waren, bzw. diejenigen, die auf Grund ihres Alters keine grundsätzliche Umstel- lung ihrer Berufstätigkeit mehr wagen konnten. Sie alle dürfen wir aus unse- rer Solidarität nicht ausklammern.

Zu dieser Solidarität gehört aller- dings auch das Prinzip der gleichen Bezahlung bei gleicher Leistung in Ost und West. Wir klagen über Man- gel, Mangelverwaltung und Rationie- rung bei Zuständen, die andere – und nicht nur in der sogenannten dritten Welt – auch heute noch als erstrebens- wertes Ziel ansehen.

Ich denke, daß es gilt, mit den Erfahrungen des sozialistischen Ge- sundheitswesens und den Kenntnis- sen über die Leistungsfähigkeit unter

marktwirtschaftlichen Bedingungen in Europa, und hier besonders in den osteuropäischen Ländern, beratend zu wirken. Die wirtschaftlichen Rah- menbedingungen zwingen uns zu effektiver Arbeit. Wer Mangelver- waltung und wirtschaftliche Vernunft im Gesundheitswesen kennengelernt hat, weiß, daß ganze Welten beide Be- griffe trennen.

Erhöhung der Effektivität

Zur Schadensbegrenzung oder Erhöhung der Effektivität müssen zeitgemäße Werkzeuge ohne Verzug eingesetzt werden. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen:

1. Die Zahl der Medizinstuden- ten muß angemessen herabgesetzt werden, um die Leistungsfähigkeit der Ärzteschaft als Ganzes zu erhal- ten. Ein Heer arbeitsloser Ärzte ist durch Manipulationen der Entgelte oder einfache Ausbeutung der Ar- beitskraft kein Faktor der Kosten- senkung im Gesundheitswesen, son- dern eine Gefahr für qualitätsgesi- cherte Versorgung.

2. Wir werden uns von dem Grundsatz, daß Weiterbildung ein

„Abfallprodukt ärztlicher Tätigkeit“

ist, verabschieden müssen. Weiterbil- dungsstellen sind als Rotationsstellen einzurichten, wenn wir die ambulante

A-2978 (34) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 45, 7. November 1997

T H E M E N D E R Z E I T 50 JAHRE BUNDESÄRZTEKAMMER

Beispiel Sachsen-Anhalt. Die Entwicklung lief in allen neuen Ländern parallel

l 13. 2. 1990 12 Ärzte in Magdeburg bereiten die Gründung einer Ärztekammer vor

l 15. 2. 1990 Rund 200 Ärzte wählen einen Sprecher auf der Gründungsversammlung der Ärztekammer

l 22. 2. 1990 1. Sitzung der Initiativgruppe zur Vorbereitung von Satzung, Geschäfts-, Berufs- und Weiterbildungsordnung

l 14. 4. 1990 Einleitung der Erarbeitung von Melde-, Beitrags- und Schlichtungsordnung

l 28. 5. 1990 Eintragung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt als „e.V.“

l 7. 7. 1990 1. Ärztetag in Halle mit rund 100 Delegierten aus 41 Kreisen l 13. 7. 1990 Kammergesetz der DDR

l 15. 8. 1990 Bestätigung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt als Körperschaft des öffentlichen Rechts

l 29./ Konstituierende Sitzung der Kammerversammlung 30. 6. 1991 in der 1. Wahlperiode nach Abschluß geordneter Wahlen l 1. 7. 1991 Aufnahme der Tätigkeit des Versorgungswerkes der

Ärztekammer Sachsen-Anhalt

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und stationäre allgemein- und fach- ärztliche Versorgung wie bisher ge- währleisten wollen.

3. Die zeitliche Befristung für er- teilte Qualifikationen muß erreicht werden. Fortbildung ist zu einem we- sentlichen Pfeiler der Qualitätssiche- rung auszubauen.

4. Ein entscheidender Mangel in der Gestaltung der ärztlichen Tätig- keit ist die Trennung der Ärzteschaft in angestellte und niedergelassene Ärzte. Die Bewertung der ärztlichen Tätigkeit muß mit gleichen Maß- stäben leistungsbezogen im Kranken- haus und im ambulanten Bereich er- folgen. Materiell induzierte Gruppen- interessen müssen durch geeignete Maßnahmen zum Wohle aller ausge- schaltet werden. Im Vordergrund ärztlicher Tätigkeit muß die Versor- gung der Patienten stehen.

Diese genannten Punkte sind natürlich schon lange bekannt, ange- sprochen worden, und es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen zu ihrer Änderung. Wer die Auswirkungen ei- nes staatlich dirigistischen Gesund- heitswesens kennengelernt hat, weiß, wovon er spricht. Wir möchten dieses in keiner noch so moderaten Form wieder erleben und nachdrücklich zur prophylaktischen Anwendung unse- rer Werkzeuge in einer Phase der

„Vorfahrt für die Selbstverwaltung“

aufrufen, bevor es zu spät ist.

Meiner Analyse und den Vor- stellungen zur weiteren Entwicklung entspricht es, daß die neuen Länder nach dem Aufbau ihrer Strukturen der ärztlichen Selbstverwaltung in ei- nem hohen Maße jetzt ihre Kraft ein- setzen, notwendige Reformen durch- zuführen und zu vollenden. Wir wollen damit unseren Beitrag dazu leisten, daß wir dieses System der ärztlichen Selbstverwaltung weiter- hin erhalten.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-2975–2980 [Heft 45]

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. Walter Brandstädter Vizepräsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages

Doctor-Eisenbarth-Ring 2 39120 Magdeburg

21. Oktober 1996: Mein erster Arbeitstag. Die Eingangshalle der Poliklinik glich einem Bahnhof zu Ferienbeginn. Unsere Patienten gehörten fast alle zur ärmeren, schwarzen Bevölkerungsschicht. Die Ärzte kommen aus Bulgarien, Ruß- land, Nigeria, Bangladesh, Indien und Südafrika.

Zusätzlich zum üblichen OP-Pro- gramm wurden an diesem Tag eine junge Frau mit Bauchschuß und ein Mann mit einer Stichverletzung ope- riert. Die Diagnosen werden mit

„gunshot“ oder „stab“ und dem be- troffenen Körperteil bezeichnet. Die Tatmotive sind meist banale Streite- reien oder Eifersucht.

24. Oktober: Jeden vierten Tag hat unsere Abteilung (Unit) „Intake“, das bedeutet 24 Stunden Dienst in der Ambulanz. Dienstbeginn ist um sie- ben Uhr morgens. Alle Patienten, die noch vor Schichtende eintreffen, müs- sen vom gleichen Team versorgt wer- den. In unserer Unit arbeiten zwei Housemen (entsprechen dem AiP), zwei Registrars (Assistenzärzte) und zwei deutsche Studenten. Zu jeder Unit gehören außerdem ein Chefarzt und ein Consultant, die hauptsächlich bei geplanten Operationen und in der Poliklinik eingesetzt werden.

Es fällt mir schwer zu tolerieren, wie die Patienten zum Teil behandelt werden. Sie werden angeschrien, ge- ohrfeigt, einmal sah ich, wie ein Arzt

einen Patienten trat. „Alles Killer und Gauner“, lautete sein Kommentar.

Wer aufmuckt, fliegt raus – egal, wie schwer er verletzt ist. George, der Houseman, bereitet einen Patienten auf eine Pleuradrainage vor: „You will scream and shout. Do this in your mind or you can go.“

Eine junge Frau mit tiefen septi- schen Wunden am Hinterkopf wurde eingeliefert. Sie hatte zwei Tage auf der Straße gelegen, bevor sie jemand ins Krankenhaus brachte. Sie war kaum ansprechbar und halbseitig gelähmt. Im CT zeigte sich ein Herd, der ein Viertel des Hirns einnahm. Ihr Körper war übersät mit blauen Flecken. Mißhandlungen von Frauen sind hier an der Tagesordnung.

Ein Mann mit einer Kugel im Po humpelte herein. Die Kugel saß zu tief, um sie in der Ambulanz zu entfer- nen. Er wurde nach Hause geschickt mit der Empfehlung, sich zu melden, falls er Beschwerden hat. Er wird kaum wiederkommen, denn 30 Minu- ten später fragte die Polizei nach ihm.

Sie hatte den Schuß abgefeuert.

Um drei Uhr wurde ein 17jähri- ger mit zerschossener Schulter einge- liefert. Die Kugeln der selbstgebastel- ten Gewehre, mit denen viele Schußverletzungen verursacht wer- den, zerplatzen in hundert Teile.

Raj, der indische Houseman, meinte:

„I hope your bone is broken that I can send you to the Orthopedics. I’m fucking tired.“ Der Junge war mit sei-

Praktisches Jahr in Südafrika

Kriminalität und Gewalt prägen den Alltag

Hillbrow Hospital liegt in einem schwarzen Viertel von Johan- nesburg. Das Krankenhaus ist groß und einigermaßen gut ausgestattet. Allerdings ist die Kriminalität im Stadtteil so hoch wie in kaum einem anderen. Täglich müssen Ärzte und Pfle- gepersonal in der ständig überfüllten Notaufnahme schwere Schuß- und Stichverletzungen versorgen. Alltag auch für Kathrin Brand, die drei Monate im Hillbrow Hospital arbei- tete und auch die Burn-out-Symptome der Kollegen erlebte.

Kathrin Brand

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und stationäre allgemein- und fach- ärztliche Versorgung wie bisher ge- währleisten wollen.

3. Die zeitliche Befristung für er- teilte Qualifikationen muß erreicht werden. Fortbildung ist zu einem we- sentlichen Pfeiler der Qualitätssiche- rung auszubauen.

4. Ein entscheidender Mangel in der Gestaltung der ärztlichen Tätig- keit ist die Trennung der Ärzteschaft in angestellte und niedergelassene Ärzte. Die Bewertung der ärztlichen Tätigkeit muß mit gleichen Maß- stäben leistungsbezogen im Kranken- haus und im ambulanten Bereich er- folgen. Materiell induzierte Gruppen- interessen müssen durch geeignete Maßnahmen zum Wohle aller ausge- schaltet werden. Im Vordergrund ärztlicher Tätigkeit muß die Versor- gung der Patienten stehen.

Diese genannten Punkte sind natürlich schon lange bekannt, ange- sprochen worden, und es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen zu ihrer Änderung. Wer die Auswirkungen ei- nes staatlich dirigistischen Gesund- heitswesens kennengelernt hat, weiß, wovon er spricht. Wir möchten dieses in keiner noch so moderaten Form wieder erleben und nachdrücklich zur prophylaktischen Anwendung unse- rer Werkzeuge in einer Phase der

„Vorfahrt für die Selbstverwaltung“

aufrufen, bevor es zu spät ist.

Meiner Analyse und den Vor- stellungen zur weiteren Entwicklung entspricht es, daß die neuen Länder nach dem Aufbau ihrer Strukturen der ärztlichen Selbstverwaltung in ei- nem hohen Maße jetzt ihre Kraft ein- setzen, notwendige Reformen durch- zuführen und zu vollenden. Wir wollen damit unseren Beitrag dazu leisten, daß wir dieses System der ärztlichen Selbstverwaltung weiter- hin erhalten.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-2975–2980 [Heft 45]

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. Walter Brandstädter Vizepräsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages

Doctor-Eisenbarth-Ring 2 39120 Magdeburg

A-2980 (36) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 45, 7. November 1997

T H E M E N D E R Z E I T

50 JAHRE BUNDESÄRZTEKAMMER/BLICK INS AUSLAND

21. Oktober 1996: Mein erster Arbeitstag. Die Eingangshalle der Poliklinik glich einem Bahnhof zu Ferienbeginn. Unsere Patienten gehörten fast alle zur ärmeren, schwarzen Bevölkerungsschicht. Die Ärzte kommen aus Bulgarien, Ruß- land, Nigeria, Bangladesh, Indien und Südafrika.

Zusätzlich zum üblichen OP-Pro- gramm wurden an diesem Tag eine junge Frau mit Bauchschuß und ein Mann mit einer Stichverletzung ope- riert. Die Diagnosen werden mit

„gunshot“ oder „stab“ und dem be- troffenen Körperteil bezeichnet. Die Tatmotive sind meist banale Streite- reien oder Eifersucht.

24. Oktober: Jeden vierten Tag hat unsere Abteilung (Unit) „Intake“, das bedeutet 24 Stunden Dienst in der Ambulanz. Dienstbeginn ist um sie- ben Uhr morgens. Alle Patienten, die noch vor Schichtende eintreffen, müs- sen vom gleichen Team versorgt wer- den. In unserer Unit arbeiten zwei Housemen (entsprechen dem AiP), zwei Registrars (Assistenzärzte) und zwei deutsche Studenten. Zu jeder Unit gehören außerdem ein Chefarzt und ein Consultant, die hauptsächlich bei geplanten Operationen und in der Poliklinik eingesetzt werden.

Es fällt mir schwer zu tolerieren, wie die Patienten zum Teil behandelt werden. Sie werden angeschrien, ge- ohrfeigt, einmal sah ich, wie ein Arzt

einen Patienten trat. „Alles Killer und Gauner“, lautete sein Kommentar.

Wer aufmuckt, fliegt raus – egal, wie schwer er verletzt ist. George, der Houseman, bereitet einen Patienten auf eine Pleuradrainage vor: „You will scream and shout. Do this in your mind or you can go.“

Eine junge Frau mit tiefen septi- schen Wunden am Hinterkopf wurde eingeliefert. Sie hatte zwei Tage auf der Straße gelegen, bevor sie jemand ins Krankenhaus brachte. Sie war kaum ansprechbar und halbseitig gelähmt. Im CT zeigte sich ein Herd, der ein Viertel des Hirns einnahm. Ihr Körper war übersät mit blauen Flecken. Mißhandlungen von Frauen sind hier an der Tagesordnung.

Ein Mann mit einer Kugel im Po humpelte herein. Die Kugel saß zu tief, um sie in der Ambulanz zu entfer- nen. Er wurde nach Hause geschickt mit der Empfehlung, sich zu melden, falls er Beschwerden hat. Er wird kaum wiederkommen, denn 30 Minu- ten später fragte die Polizei nach ihm.

Sie hatte den Schuß abgefeuert.

Um drei Uhr wurde ein 17jähri- ger mit zerschossener Schulter einge- liefert. Die Kugeln der selbstgebastel- ten Gewehre, mit denen viele Schußverletzungen verursacht wer- den, zerplatzen in hundert Teile.

Raj, der indische Houseman, meinte:

„I hope your bone is broken that I can send you to the Orthopedics. I’m fucking tired.“ Der Junge war mit sei-

Praktisches Jahr in Südafrika

Kriminalität und Gewalt prägen den Alltag

Hillbrow Hospital liegt in einem schwarzen Viertel von Johan- nesburg. Das Krankenhaus ist groß und einigermaßen gut ausgestattet. Allerdings ist die Kriminalität im Stadtteil so hoch wie in kaum einem anderen. Täglich müssen Ärzte und Pfle- gepersonal in der ständig überfüllten Notaufnahme schwere Schuß- und Stichverletzungen versorgen. Alltag auch für Kathrin Brand, die drei Monate im Hillbrow Hospital arbei- tete und auch die Burn-out-Symptome der Kollegen erlebte.

Kathrin Brand

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ner Verletzung durch halb Johannes- burg gekrochen.

28. Oktober: Intake. Als ich am Morgen in die Ambulanz kam, lag dort eine junge Frau mit Messersti- chen in Brust, Rücken und in einem Bein, einer großen Skalpierungsver- letzung, die Nase vom Augenwinkel bis zu den Nasenlöchern aufge- schlitzt, einem Schnitt an der Wange

und einer tiefen Muskelverletzung am Arm. Der Täter war ihr „boyfriend“.

Mahmood, unser Registrar, ein ruhi- ger, gewissenhafter, indischer Arzt, meinte: „Your patient.“ Scherzkeks!

Ich kann nicht nähen. Er zeigte mir mit drei Stichen, was ich zu tun habe, und überließ mir die Frau. Ich „ba- stelte“ über zwei Stunden herum, Mahmood kam ab und zu vorbei und nähte schließlich die völlig aufge- klappte Nase. Die Frau wurde drei Tage später entlassen.

29. Oktober:Heute war „outpa- tients day“. Ambulante Fälle werden in Windeseile durch die Sprechstun- de geschleust. „Speak quick, baba, there is no time.“ Die Männer wer- den mit „baba“ (Vater) angespro- chen, Frauen mit „mama“ (Mutter oder Tante).

1. November:Bis Mitternacht die üblichen Schnitt- und Prügelverlet- zungen. Mit allen möglichen Gegen- ständen werden hier Köpfe einge- schlagen, vorzugsweise mit Ziegel- steinen und Stöcken. Mit Schädel- bruch dürfen die Patienten zwei bis drei Tage bleiben, ansonsten heißt es

„Hamba kaya“ (geh nach Hause).

Viele Schwarze sprechen nur Zulu, was die Anamnese schwierig macht.

Ein Mann mit einer stark bluten- den Stichverletzung am Arm kam in die Ambulanz. George fand die Blu- tungsquelle nicht und entschied sich für eine feste Hautnaht. Es funktio- nierte nicht. Auf leichten Druck spritzten Fontainen aus den Zwi- schenräumen. Gut, daß Mahmood zur Stelle war. Nach einer Muskelnaht stand die Blutung. Der Patient hatte mittlerweile einen Blutdruck von 70/45, Schweiß auf der Stirn, Puls von 160 und antwortete nicht mehr. Er be- kam zwei Liter Volumenersatz und

zwei Stunden Erholungszeit. Danach hieß es: „Hamba kaya“.

Gegen Mitternacht wurde ein junger Mann mit Schußwunde in der Leiste im hypovolämischen Schock eingeliefert. Außer den Housemen und uns Studenten war niemand da.

Unter dem Ambubeutel blubberte Erbrochenes. Eine Schwester suchte gemütlich nach einem Absaug- schlauch, Pulse waren nicht mehr tast- bar. George begann mit der Herzmassage.

Das Erbrochene wur- de in die Lungen ge- beutelt, dann kam endlich der Absaug- schlauch. Nun suchte die Schwester nach EKG-Elektroden, und George versuch- te erfolglos zu intu- bieren. Nach fünf Mi- nuten hatten wir end- lich EKG-Kontrolle.

Trotz Hypovolämie wurde kein Volumen gegeben. Nach zehn Minuten entschied der Houseman: „Let’s leave it, he’s dead.“

Der Registrar, der später eintraf, fand eine alte Bauch- schußwunde: „He didn’t learn, now he’s dead.“

5. November:In- take. Gegessen habe ich nur im Stehen, um 2.30 Uhr konnte ich mich für drei Stunden hinlegen. Später kam ein Notruf aus der Ambulanz. George trug mir auf, die Kopfverletzungen ei- nes Mannes zu nähen, der mit einem Hammer attackiert worden war. Zwi- schen den zertrümmerten Schädel- knochen quoll eine weiche, rötliche Masse hervor. Hirn? Hirnhäute? Ich bat Raj um Hilfe. Er meinte nur:

„Don’t mind, he’ll die anyway.“ Ich deckte die Wunde zunächst nur steril ab und verband. In der Aufnahme hängt die Glasgow Koma Skala; wer sechs Punkte erreicht, wird in die Neurochirurgie des General Hospital gebracht, wer darunterliegt, hat Pech

Der Weg vom Schockraum in den OP ist ein Abenteuer für sich.

Es dauert ewig, bis der Aufzug kommt, und oft fährt er erstmal in die falsche Richtung.

Foto: Pro 7, „Die Reporter“, 22. Juli 1997

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gehabt. Unser Patient bekam fünf Punkte.

11. November: Freitags-Intake.

Ich legte meine erste IC drain (Pleu- radrainage). Mein Patient war 17 und zitterte mit mir um die Wette. Später wurden vier Patienten mit „stabbed chests“ und einer mit Gesichtsschuß eingeliefert. Als wir den Verband ab- wickelten, mußten wir feststellen, daß der halbe Unterkiefer fehlte. Das Ge- sicht wurde schnell wieder zuge- wickelt. Der Patient muß auf den pla- stischen Chirurgen warten.

Wenig später wurde ein gutge- kleideter Schwarzer in den Schock- raum geschoben. Aus einer Ein- schußwunde im Brustkorb quoll Blut.

Er sagte: „They took my car.“ Er war Highjackern zum Opfer gefallen. Das kommt hier häufig vor. Die meisten Opfer werden erschossen, bevor ih- nen das Auto gestohlen wird.

Der Weg vom Schockraum in den OP ist ein Abenteuer für sich. Es dauert ewig, bis der Aufzug kommt, und oft fährt er erst mal in die falsche Richtung. Der sehr lange Gang zum OP führt bergauf. Oben angekom- men, muß man auf einen weiteren Aufzug warten. „We are rushing to theater“ heißt so ein Unternehmen.

Als der Chirurg den Bauch des High- jacker-Opfers öffnete, glich die Leber einem auseinandergefallenen Vanille- pudding und blutete extrem. Der Ma- gen und die Därme waren durch- löchert, die Kugel saß in der rechten Hüfte. Bereits seit einer Stunde war- teten wir auf das bestellte Blut. Als es endlich kam, hatte es sich die Anästhesistin in den Kopf gesetzt, zunächst arteriell Blut zu entnehmen, und ließ das ersehnte Blut noch zehn Minuten liegen. Nach 30 Minuten mußten wir reanimieren. Es half alles nichts, der Mann starb.

13. November: Ein ruhiger In- take. Am Tag etliche verschleppte, in- fizierte Wunden, Vulva-Ca. mit Rek- tumfistel, Mamma-Ca. mit Hautmeta- stasen, Hämorrhoiden, zwei Patien- ten mit HIV und TBC. Viele der Pati- enten mit Abszessen und schlecht hei- lenden Wunden haben AIDS.

Vier gunshots werden eingelie- fert. Ist kein Gelenk betroffen, bleibt die Kugel, wo sie ist. Manche Ärzte

schneiden den Wundrand aus, andere kleben nur ein Pflaster drauf. Die Leute werden mit einem Tütchen An- tibiotika nach Hause geschickt. Nur Wadenschüsse dürfen bleiben, sie ent- wickeln häufig ein Kompartment- Syndrom.

Schwerverletzten wird ein roter Aufkleber mit „urgent“ auf die Stirn geklebt. Die Aufkleber leuchten in der Warteschlange. Ungewöhnlich, aber es funktioniert.

19. November:Mein erster Sams- tag war ein Alptraum. Schon tagsüber standen wir mit einem gunshot durch

Brust, Leber und Niere im OP. Leber und Zwerchfell wurden geflickt, der Rest blieb, wie er war. Unser OP ver- fügt nicht über einen Aufwachraum, frisch Operierte werden in eine Art Auffüllraum geschoben, wo der Anästhesist ab und zu vorbeikommt.

George und Raj haben in dieser Nacht trotz einbrechenden Chaos friedlich geschlafen. Im Hotel ge- genüber gab es eine Messerstecherei, und vier stabbed chests wurden gleichzeitig eingeliefert. Drei davon brauchten eine Pleuradrainage. Ich rüttelte an Rajs Liege. Er grunzte, wir sollten schon mal anfangen, und gab mir im Liegen Instruktionen. Da ich im vierten ICR nicht den Pectoralis tastete, nahm ich den fünften. Mein Schnitt saß zu nah an der Brustwarze und zu weit unten. Ich hätte den Pati- enten bitten sollen, den Arm hinter den Kopf zu legen, damit der Pectora- lis hochrutscht. Auf diesen Einfall bin ich um 3.30 Uhr nachts leider nicht

mehr gekommen. Beim Vorschieben der Drainage stieß ich an das Zwerch- fell und wußte nicht mehr weiter. Ich habe Raj angebrüllt, bis er endlich aufstand, um dem Patienten die Drai- nage in den Brustkorb zu rammen.

Der Patient sprang vor Schmerz fast von der Liege. Das Röntgenbild zeig- te eine abgeknickte Drainage, die ans Herz drückte. Vor Schmerz schrie der Patient fast eine Stunde lang. Erst dann wurde die Drainage entfernt.

Was mache ich eigentlich hier?

Nun mußte ich mir von einem nigeria- nischen Arzt anhören, es sei Zeitver- schwendung, mich Chirurgie zu leh- ren, da ich als Fachrich- tung Anästhesie anstre- be. Vor einigen Tagen hatte ich Streit mit ihm, als er meinte, europäi- sche Ärzte seien Träumer und Spinner. Ich hielt da- gegen, wir verteilten die Prioritäten anders, arbei- teten aber genauso hart.

Nicht nur spektakuläre Sachen machen Arbeit.

Ich sprach ihn auf Phille- mon an, einen 42jährigen mit Ösophagus-Ca. Er liegt seit zwei Wochen auf der Station, und noch nie- mand hat mit ihm gespro- chen. Erst nach einer Wo- che bekam er ein Schmerzmittel.

Nach der Visite rief er uns hinterher, er habe Frau und Kinder und müsse wissen, wie lange er bleiben muß.

Mahmoods Aufklärung bestand in ei- ner Zeichnung und den Worten: „We cut here and here, suture and finish, you have got a tumor.“ Ich warf ihm vor, hier werde der Mensch vernach- lässigt, er schnaubte verächtlich und meinte, wir versuchten mit Worten zu heilen. Als Phillemon mich alleine auf der Station antraf, fragte er: „What is a tumor?“ Ich versuchte ihm zu er- klären, daß etwas in seinem Körper wächst, das niemand kontrollieren kann. Er fragte, ob nach der Ope- ration alles gut sei, ich antwortete:

„I can’t promise, sometimes it comes back.“ Die Tage bis zur Operation starrte er nur noch stumm vor sich hin. Ich fühlte mich scheußlich.

25. November: Phillemon ist operiert worden. Auf und zu, der Tu- A-2983 Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 45, 7. November 1997 (39)

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Themen der Zeit

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mor war mit der Rückwand verwach- sen. Nach der Operation sagten sie ihm, alles sei gut verlaufen, und schickten ihn vier Tage später nach Hause. Ich hätte heulen können.

Im Intake gestern ist ein Mann mit Brustschuß noch auf dem Weg in den OP gestorben. Wir haben wie so oft vergeblich auf Blut gewartet. Eine Stunde lang hatten wir erfolglos den Blutläufer angepiepst. Dann mußten wir feststellen, daß er den Piepser ein-

fach in die Ecke gelegt hatte und nach Hause gegangen war. Wir haben im- mer nur einen Blutläufer, die Blut- bank liegt eine Straße weiter. Die ha- ben hier Nerven!

3. Dezember:Die langen Bänke der Ambulanz quellen über, egal, wie viele Patienten man bereits behandelt hat. Am Abend kam Tanja, eine PJle- rin aus dem modernen General Hos- pital, und wollte Nähen üben. Sie konnte sofort gunshots ausschneiden und Platzwunden nähen. Ein 19jähri- ger, dem man mit einem jambok, ei- ner peitschenähnlichen Waffe, zuge- setzt hatte, wurde eingeliefert. Arme, Beine, Rücken und Gesicht waren voller Striemen, er konnte sich kaum bewegen. Diese Patienten rutschen nicht selten ins Nierenversagen und

werden deshalb einige Tage gehütet.

Später nahm ich einen Anruf von der Station entgegen. Ein Patient habe seit zehn Minuten einen Atemstill- stand. Ich wollte wissen, warum die Schwester erst jetzt anruft. „Your phone was engaged“, kam es gedehnt vom anderen Ende. Ich klingelte Mahmood aus dem Bett und flitzte mit Tanja los. Es war nichts vorbereitet.

Ich bat um Ambubeutel, Notfallkoffer und Intubationsbesteck. Wir beutel-

ten schon fleißig, als Mahmood ange- bummelt kam. Beim Intubationsbe- steck fehlte die Batterie. „Get another one“, meinte Mahmood zur Schwester.

„There is no other one.“ „Go to an- other ward.“ Die Schwester stand dort wie ein Fels in der Brandung. Mir war, als ob Mahmood nur uns zuliebe tätig war, und ich fragte nach. Sein Kom- mentar: „Wenn die Schwester zehn Minuten zugibt, hat der Patient schon viel länger ohne Luft dagelegen.“

7. Dezember: Den ganzen Tag über hing ein unglaublicher Gestank im Raum. Ein Mann hatte es ver-

säumt, seinen Gips entfernen zu las- sen. Aus dem Gips schwappte eine stinkende Brühe, unter dem Gips tummelten sich unzählige Maden. Da heute die Putzfrau nicht erschienen ist, blieben die stinkenden Reste den ganzen Tag liegen.

11. Dezember: Eine Woche ver- brachte ich im Kreißsaal des Barag- wanah Hospital in Soweto. Dort wer- den täglich um die 50 Kinder geboren.

Zunächst arbeitete ich in der Aufnahme, von wo aus die Frau- en entweder in den Kreißsaal, auf die Sta- tion oder in die high- care unit geschickt wurden. Ein Arzt er- klärte mir kurz, wie man Schwangere un- tersucht, und überließ mich meinem Schick- sal. Ab acht Zentime- ter Muttermund soll- te ich die Frauen in den Kreißsaal schicken.

Eine meiner Pati- entinnen hatte einen steinharten Bauch.

Die Wehe schien gar nicht mehr auf- zuhören. Das war et- was für einen richti- gen Arzt. Das Sono zeigte ein totes Kind.

„Okay sissi, your ba- by is dead.“ Das war deutlich. Die Frau verzog keine Miene.

Ich ging davon aus, daß sie nur Zulu spricht, und bat einen Pfleger zu über- setzen. Ihre Reaktion änderte sich nicht. Es ist schwer zu verstehen. Die Reaktion der meisten Frauen auf eine Totgeburt bleibt recht diskret.

Am folgenden Tag hatte ich Dienst im Kreißsaal. Es wimmerte und stöhnte aus 22 Boxen, an der Kreißsaaltür standen zehn Liegen mit frisch Entbundenen. Ein junges Mädchen schrie ganz erbärmlich.

Nach dem Untersuchungsprotokoll war sie seit acht Stunden nicht mehr untersucht worden. Meine Anfänger- untersuchung ergab sechs Zentime- ter, das gleiche wie vor acht Stunden.

Da heute die Putzfrau nicht

erschienen ist, bleiben die stinkenden Reste den ganzen Tag liegen.

Foto: Kathrin Brand

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Am Kopf tastete ich eine dicke Ge- burtsgeschwulst. Vergeblich bat ich eine der vielen Hebammen um Kon- trolle. Bei der Visite um 16 Uhr sah der Arzt nicht ins Untersuchungspro- tokoll; um 23 Uhr stellte er fest, daß sie noch immer bei sechs Zentimeter war. Kaiserschnitt.

Als wir Richtung OP liefen, sa- hen wir, daß eine Frau mit EPH-Ge- stose unbemerkt in ihrer Box krampf- te. Der Arzt erinnerte sich, ihr ein Zäpfchen zur Austreibung eingeführt zu haben. Er sah auf die

Uhr und meinte: „You want to learn delivery?

Do it.“ Ich zog eine maze- rierte Beckenendlage in der 29. Woche heraus.

Beim Entwickeln der Ar- me zog sich die Haut ab.

Der kleine Kopf hing bombenfest, nicht dage- gen das zweiteilige Bett.

Es fiel auseinander, die Frau setzte sich auf ihr halbgeborenes Kind. Als es endlich verdreht und halb enthäutet in der Nie- renschale lag, sagte der Arzt: „Look at your child, mama“ und hielt ihr die Schale unter die Nase.

Meine erste Geburt hatte ich mir anders vorgestellt.

Am Donnerstag wa- ren eine Menge Hebam- menschülerinnen da. Ei- ne Schülerin entband ein Kind mit Nabelschnur- umschlingung. Nachdem sie den Kopf entwickelt hatte, schnitt sie die Na- belschnur unabgeklemmt durch. Es gab ein un-

glaubliches Blutbad. Wenn ich hier eins gelernt habe, dann, daß man enorm viel überleben kann!

16. Dezember: Wieder in Hill- brow. Der Intake war die Hölle. Wir müssen mindestens um die 100 Pati- enten versorgt haben. Alle arbeiteten ohne Pause. Wir verbrauchten über 50 Nahtsets, die Katastrophenschrän- ke waren schon geplündert. Ich nahm eine junge Frau mit jambok injury auf, es war wie immer der „boy- friend“. Sieben Stunden lang hat er mit einem Elektrokabel auf sie einge-

droschen, weil sie vaginalen Ausfluß hatte. So etwas bekommt man seiner Ansicht nach nur vom „Fremdge- hen“. Ich fragte, ob sie ihn verlassen wird, doch sie weiß nicht, wohin. Im Elternhaus vergewaltigt sie der Stief- vater, sie hat ein Kind und kein Geld.

Eine andere Frau erklärte uns, sie könne ihren zwei boyfriends nichts von der HIV-Infektion sagen, sie zahl- ten für die Wohnung und die Kinder.

Unser zweiter Registrar ist nicht zum Dienst erschienen, antwortete

weder auf Funk noch auf Telefon.

Mahmood operierte die ganze Nacht.

Ich hatte keinen Überblick mehr, wie viele gunshots wir behandelten. 20?

30? Ausschneiden, Pflaster drauf,

„Hamba kaya“.

Es ist unglaublich, wie oft man zustechen kann, ohne zu töten. Die Sanitäter brachten uns einen Mann mit 80 bis 100 Messerstichen. Er blu- tete aus allen Wunden. Wir nähten zu dritt über drei Stunden lang, nur große Stiche mit 2/0 Faden, verschos- sen acht Tackersets. Der Mann war trotz allem am Morgen stabil. Am

nächsten Tag erfuhr ich, daß er ge- storben sei. Die Schwester hatte den Respirator ausgeknipst. Die Bemer- kung unseres Chefs, wir sollten prü- fen, ob der Patient spontan atmet, hatte sie falsch verstanden.

26. Dezember: Mahmood hat gekündigt, nun haben wir nur noch zwei unerfahrene Chirurgen.

2. Januar 1997:Am ersten Januar haben die neuen Housemen ihren Dienst angetreten. Sie haben gerade ihr Examen bestanden und müssen nun selbständig arbeiten. Zu Neujahr muß hier ein Krieg getobt haben. Ein Houseman war an seinem ersten Ar- beitstag alleine in der Ambulanz, der Rest der Besatzung stand im OP. Eine Unit mußte aus Ärztemangel ge- schlossen werden, nun sind wir jede dritte Nacht im Intake.

11. Januar: Mein letzter Intake.

Es gab nicht sehr viel zu tun, aber der Schockraum war ständig besetzt. Mei- ne letzte Aufgabe bestand darin, ei- ner jungen Frau das Gesicht „zusam- menzubasteln“. Jemand hatte mit ei- ner Flasche auf sie eingeschlagen.

Ende des Jahres wird Hillbrow Hospital, in dem auch viele engagier- te und kompetente Ärzte und Schwe- stern arbeiten, aus Unwirtschaftlich- keit geschlossen. Die Zustände in Jo- hannesburg werden immer schlim- mer, immer mehr Ärzte verlassen das Land. Statt dessen soll hier ein Ge- sundheits- und Beratungszentrum eingerichtet werden, wahrscheinlich eines wie im Artikel von Michael Po- povi´c (DÄ, Heft 6/1997) beschrieben.

Ob ein solches Haus mit diesen Pati- enten fertig wird, ist zweifelhaft.

Kaum ein Patient, der hier behandelt wird, ist zahlungsfähig, die umliegen- den privaten Häuser können sich nur wenige leisten. Das Baragwanah liegt am anderen Ende von Johannesburg und ist mit dem eigenen Einzugsge- biet überlastet. Mir wurde von Wo- chenenden berichtet, an denen die Ambulanz wegen Überfüllung ge- schlossen werden mußte.

Anschrift der Verfasserin Kathrin Brand

Neuenhofer Straße 122 42657 Solingen

A-2988 (44) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 45, 7. November 1997

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Schwerverletzten wird ein roter Aufkleber auf die Stirn geheftet, der in der Warteschlange leuchtet.

Foto: Pro 7, „Die Reporter“, 22. Juli 1997

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