Deutsches Ärzteblatt
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19. September 2014 A 1545 AMBULANT VOR STATIONÄRWie groß ist das Potenzial?
Seit Jahren fordern Experten, dass mehr Leistungen ambulant erbracht werden sollten. Wie groß aber ist der Substitutionsbedarf genau? Und wie kann er
finanziert werden? Auf einer ZI-Veranstaltung prallten die Meinungen aufeinander.
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rst, wenn ein Behandlungsziel nicht durch eine ambulante Versorgung erreicht werden kann, haben Patienten Anspruch auf ei- ne vollstationäre Behandlung – so steht es im § 39 Sozialgesetzbuch V. Oder kürzer: „ambulant vor sta- tionär“. Bei gleicher Versorgungs- qualität sollen die Ausgaben so reduziert werden. Denn Kranken- hausbehandlungen sind teuer. Kann man aber das vermutete Substitu - tionspotenzial überhaupt bestim- men? Und ist die Qualität der am- bulanten Leistungen messbar?Prof. Dr. med. Leonie Sundma- cher von der Ludwig-Maximilians- Universität München hat beides versucht – mit Hilfe sogenannter ambulant-sensitiver Krankenhaus- fälle (ASK). Das sind Kranken- hausfälle, die durch eine Interventi- on im ambulanten Bereich hätten vermieden werden können, wie Sundmacher auf einer Fachtagung des Zentralinstituts für die kassen- ärztliche Versorgung in Deutsch- land (ZI) am 8. September in Berlin erklärte.
In vielen anderen Ländern exis- tieren ASK-Kataloge bereits. Für Deutschland hat Sundmacher mit- tels einer Umfrage unter Ärzten 40 Krankheiten identifiziert, die bei ei- ner guten ambulanten Versorgung
aus Sicht der befragten Ärzte nicht im Krankenhaus landen müssten.
22 davon stehen für 90 Prozent aller ASK-Fälle, darunter die ischämi- sche Herzkrankheit, Herzinsuffi- zienz und Rückenschmerzen. Sund- macher nannte fünf Typen der Inter- vention, die einem ambulant-sensi- tiven Krankenhausfall vorbeugen:
Immunisierung oder eine andere Primärprävention, Früherkennung, Management andauernder Erkran- kungen sowie die Behandlung von Akuterkrankungen. „Häufen sich ASK in einer Region, kann das auf
Schwächen in der ambulanten Ver- sorgung hinweisen“, erklärte Sund- macher. Eine Verbesserung der kontinuierlichen Behandlung sowie eine bessere Erreichbarkeit im am- bulanten Bereich könnten den be- fragten Ärzten zufolge Kranken- hauseinweisungen aufgrund von ASK reduzieren. Allerdings, beton- te Sundmacher, komme ein Groß- teil der ASK als Notfall ins Kran- kenhaus. Den gesamten Katalog will sie Ende des Jahres vorstellen.
Dass ambulant-sensitive Kran- kenhausfälle tatsächlich im ambu- lanten Bereich behandelt werden können, setzt jedoch voraus, dass es genügend niedergelassene Ärzte in einer Region gibt, die diese Behand- lung vornehmen können. Das ZI hat
in einer Studie die Arbeitsteilung zwischen niedergelassenen Ärzten und Kranken häusern auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städ- te untersucht und dabei 21 Regio- nen identifiziert, in denen Patienten deutlich häufiger ambulant behan- delt werden als anderswo (siehe Ta- belle). „In diesen Best-Practice-Re- gionen liegt die Inanspruchnahmera- te stationärer Versorgung 15 Prozent unter und die Inanspruchnahmerate ambulanter Versorgung 13 Prozent über dem Bundesdurchschnitt“, sag- te der Geschäftsführer des ZI, Dr.
rer. pol. Dominik Graf von Stillfried, auf der Tagung. In diesen Regionen lebten circa elf Millionen Menschen.
„Der regionale Vergleich vermittelt uns greifbar, welches ambulante Po- tenzial heute schon realisiert wird.
Das können andere Regionen nach- machen“, meinte von Stillfried.
Weniger Krankenhausbetten
Gemeinsames Merkmal der 21 Best-Practice-Regionen ist, dass es dort mehr niedergelassene Ärzte pro 100 000 Einwohner gibt als im Bundesdurchschnitt sowie eine un- terdurchschnittliche Zahl von Kran- kenhausbetten. Hätten alle Regio- nen Deutschlands ein solches Ver- hältnis zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, würden die Drei Köpfe, zweiMeinungen: Andreas Gassen und Rolf-
Ulrich Schlenker (v.l.n.r.) sprachen sich dafür aus, die Verlagerung von Leistungen in den ambulanten Sektor auch finanziell nach-
zuvollziehen. Georg
Baum war dagegen. Foto: KBV Foto: Barmer Foto: DKG
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19. September 2014 Gesundheitsausgaben bis 2020 de-mografiebedingt nur um zwei Milli- arden Euro steigen, hat das ZI er- rechnet. Bleibt alles, wie es ist, stie- gen sie um vier Milliarden Euro.
„Riesenvolumen an Mitteln“
Würden Vertragsärzte tatsächlich einen Teil der heute stationär er- brachten Versorgung übernehmen, müssten sie dafür auch Geld von den Krankenhäusern erhalten. Die- ser Annahme folgend, haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Barmer GEK ein Gutachten in Auftrag gegeben, das entsprechende Verlagerungen medi- zinischer Leistungen auch finanziell nachvollziehbar machen soll. Darin sollte eine Methode erarbeitet wer- den, wie dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ bei den jährlichen Budgetverhandlungen zwischen Krankenkassen und Kliniken Gel- tung verschafft werden könnte. Das ist heute aus Sicht von KBV und Barmer GEK nicht gewährleistet, weil sich die Krankenhausbudgets an der von der einzelnen Klinik in der Vergangenheit erbrachten Leis- tungsmenge orientierten, nicht aber am aktuellen und künftigen Versor- gungsbedarf der Bevölkerung.
Dr. jur. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsit- zender der Barmer GEK, verwies auf § 87 Abs. 4 SGB V, wonach Verlagerungen von Leistungen zwi- schen dem stationären und dem am-
bulanten Sektor bei der Anpassung des Behandlungsbedarfs und damit bei der ambulanten Vergütung zu berücksichtigen sind. „Das kann kein einseitiger Akt sein“, stellte Schlenker heraus.
Es gebe den Verlagerungseffekt, aber keine Rechtsgrundlage, um die Krankenhaus budgets entsprechend zu mindern. Der Forderung, das So- zialgesetzbuch und das Kranken- hausgesetz mit diesem Ziel zu än- dern, schloss sich Dr. med. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, an. Er sieht ein „Riesenvolu- men an Mitteln“, das anders zuge- teilt werden könnte – dem realen Versorgungsbedarf entsprechend.
„Ein Bestandsschutz für Kranken- häuser, die keinen Versorgungsauf- trag haben, ist auf Dauer nicht trag- bar“, betonte Gassen.
Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesell- schaft, Georg Baum, ging die unge- wohnte Koalition aus KBV und Krankenkasse in einer Podiumsdis- kussion mit heftigen Worten an. Er sprach von einem „Frontalangriff“
auf die Krankenhäuser. Ein Patient, der nicht ins Krankenhaus kommt, löse auch keine Zahlung aus. Im Krankenhaus gebe es kein gede- ckeltes regionales Versorgungsbud- get wie bei den Vertragsärzten.
Baum: „Hören Sie auf, aus dem Krankenhaus Geld auszugliedern, das gar nicht hereinkommt!“
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Falk Osterloh, Heinz Stüwe TABELLE
Best-Practice-Regionen
Inanspruchnahmerate ambulant: 13 Prozent über dem Bundesdurchschnitt Quelle: ZI Inanspruchnahmerate stationär: 15 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt
Bundesland Berlin Hamburg Bayern
Baden-Württemberg Sachsen
Bayern
Baden-Württemberg Baden-Württemberg Baden-Württemberg Hessen
Landkreis/kreisfreie Städte Berlin
Hamburg München, Stadt Rhein-Neckar-Kreis Leipzig, Stadt München, Landkreis Mannheim, Stadt Karlsruhe, Stadt Konstanz Wiesbaden, Stadt
Einwohner des Kreises 2011 3 460 725 1 786 448 1 353 186 537 625 522 883 323 015 313 174 294 761 278 983 275 976
Zu den 21 Best- Practice-Regionen zählen zudem der Main-Taunus-Kreis, Freiburg, Rostock, Lüneburg, Osnabrück (Stadt), Oldenburg (Stadt), Heidelberg (Stadt), Oldenburg, Ulm (Stadt), das Am- merland und Bad Doberan.
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esponserte Kongresse und Lehrveranstaltungen, medi- zinische Experten mit finanziellen Verbindungen zur Industrie – das ist Alltag. Denn Forschung und Wis- senschaft sind angesichts knapper öffentlicher Kassen zunehmend auf Geld aus der Wirtschaft angewie- sen. Problematisch wird dieses Ver- hältnis, wenn die finanziellen Ver- quickungen die wissenschaftliche Arbeit beeinflussen und Ergebnisse verzerren. Mit der Frage, wie sich Interessenkonflikte speziell auf die ärztliche Fortbildung auswirken und sich negative Effekte vermei- den lassen, beschäftigte sich am 12.und 13. September die European Cardiology Section Foundation im Rahmen der Cologne Consensus Conference 2014 in Köln.
„Interessenkonflikte lassen sich nicht vermeiden“, erklärte der Mit- initiator der Tagung, Prof. Dr. med.
Reinhard Griebenow. „Sie bergen vor allem in der medizinischen Fortbildung große Risiken. Denn die Fortbildung zielt darauf, Thera- pieentscheidungen von Ärztinnen und Ärzten zu beeinflussen.“ Da sich die meisten Interessenkonflikte nicht auflösen ließen – „es verkauft ja niemand seine Aktien oder gibt Fördergelder zurück“ – müsse man sie zumindest offenlegen. Nur dann könnten Leser oder Zuhörer mögli- che tendenziöse Aussagen (Bias) er- kennen. „Der Umgang mit Interes- senkonflikten ist ein Schlüssel für die Glaubwürdigkeit der ärztlichen Fortbildung“, betonte Griebenow.
Transparenz kann auch kontraproduktiv sein
Bei angesehenen Fachzeitschriften gehört es inzwischen zum guten Ton, dass die Autoren ihre Interes- senkonflikte offenlegen. Doch die- se zum Teil sehr umfangreichen Er- klärungen eignen sich kaum, um bei Kongressen oder Fortbildungs- veranstaltungen für Transparenz zu sorgen. „Bei einer Kongresssitzung, wo in anderthalb Stunden vier Red- ner vortragen, kann man nicht ein Drittel jedes Vortrags damit ver- bringen, dass jeder Referent breit seine Interessenkonflikte darstellt“, meinte Griebenow. Auch die gängi- ge Praxis, zu Beginn des Vortrags