ANEURYSMEN IM GEHIRN
Standardisierung ist unmöglich
Gefäßfehlbildungen verlangen eine individuelle Therapie. Die Literatur zeigt zwar bei bestimmten Aneurysmen gewisse Vorteile für Kathetereingriffe (Coiling) gegenüber Operationen (Clipping). Eine Verallgemeinerung lässt sich daraus aber nicht ableiten.
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ank bildgebender Verfahren lassen sich Gefäßfehlbildun- gen im Gehirn leichter und früher feststellen als je zuvor. Ob akuter Behandlungsbedarf besteht, hänge von der Form der Anomalie sowie ihrer Größe und anatomischen Lo- kalisation ab, berichtete Prof. Dr.med. Volker Seifert, Frankfurt/Main, bei der 62. Jahrestagung der Deut- schen Gesellschaft für Neurochir - urgie in Hamburg.
Die meisten Gefäßfehlbildungen im Gehirn sind Seifert zufolge an- geboren. Einige Formen würden aber auch durch eine genetische Disposition, durch Hypertonie oder Nikotinabusus begünstigt. Meist führten sie nur zu unspezifischen Symptomen wie Kopfschmerzen, gelegentlich auch zu Krampfanfäl- len oder Lähmungen. „Die meisten Gefäßfehlbildungen sind allerdings Zufallsbefunde, wenn aus anderen Gründen eine Computer- oder Ma - gnetresonanztomographie durchge- führt wird“, betonte Seifert.
Fünf Prozent der Bevölkerung haben ein Aneurysma
Im Bereich des Gehirns gibt es drei wichtige Formen von Gefäßfehlbil- dungen: Aneurysmen, arteriovenö- se Angiome und Kavernome. „Die- se drei Formen unterscheiden sich in ihren Symptomen, in ihrer Gefährlichkeit und damit auch in ihrer Behandlungsnotwendigkeit“, erklärte Seifert. Das größte Risiko gehe von einem Aneurysma aus.
Schätzungsweise fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung haben sol- che blasenförmigen Aussackungen großer Hirngefäße an der Schädel- basis, die allerdings meist erst durch eine Subarachnoidalblutung symptomatisch werden.
„Betroffen von einer solchen Blutung sind meist Patienten im
produktiven Lebensalter, die durch Familie und Beruf mitten im Leben stehen“, erläuterte Seifert. „Jede Blutung ist hier ein hochdramati- sches Ereignis, das tödlich verläuft oder schwere Behinderungen hin- terlassen kann.“ Werde ein Aneu- rysma als Zufallsbefund diagnosti- ziert, könne man anhand der Größe und Lage des Aneurysmas annä- hern, wie groß die Gefahr einer Blutung ist und gegebenenfalls eine geeignete Therapie einleiten.
„Aber auch patientenindividuelle Faktoren müssen bei der Entschei-
dung für oder gegen einen Ver- schluss des Aneurysmas berück- sichtigt werden“, gab Seifert zu be- denken: „Ein junger Patient hat na- türlich ein größeres statistisches Ri- siko, dass sein Aneurysma im Laufe der Jahre platzt.“ Im Rahmen der patientenindividuellen Beratung müsse also über die prospektive Le- benserwartung sowie die Größe und die Konfiguration des Aneurysmas gesprochen werden – aus der Rela- tion beider Faktoren könne man die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Therapie ableiten.
Bei einem therapiebedürftigen Aneurysma sollten Neurochirurgen und Neuroradiologen gemeinsam entscheiden, ob eine Operation oder eine Katheterbehandlung günstiger ist. Beim Clipping wird das Aneurys- ma im Rahmen eines mikrochirurgi- schen Eingriffs durch einen Titan- Clip verschlossen. Beim endovasku- lären Coiling hingegen werde das Aneurysma von der Leiste aus über den Gefäßweg mit Platinspiralen ausgefüllt. „Die aktuelle Literatur zeigt gewisse Vorteile des Coilings gegenüber dem Clipping“, berichtete Seifert. Dieses lässt aber bei der Vielfalt der Aneurysmenformen und -größe keine Verallgemeinerungen zu. Allerdings sei die Aneurysmachir - urgie ein sehr individuelles Betäti- gungsfeld und damit „ganz anders als die übrige Neurochirurgie, die in hohem Maße standardisiert ist.“
Blutungen bei Angiomen sind nur selten lebensgefährlich
Mit wenigen Tausend Fällen pro Jahr sind arteriovenöse Angiome deutlich seltener als Aneurysmen. „Hier sind die Gefäße ineinander verschlun- gen“, beschrieb Seifert die zweite wichtige Gefäßfehlbildung im Ge- hirn. Das Blut gelange über die Arte- rien direkt in die häufig erweiterten 3-D-Angiographie:komplexes Aneurysma der Arteria cerebri media
Foto: Institut für Neuroradiologie, Goethe Universität Frankfurt/Main
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28. Oktober 2011 Venen, weil das üblicherweise zwi-schengeschaltete Kapillarbett fehle.
Auch hier könne es zu einer Blutung kommen, die – anders als beim Aneurysma – aber nur selten lebens- gefährlich sei. Sobald Angiome ein- mal geblutet haben, müssten sie al- lerdings behandelt werden, um einer erneuten Blutung vorzubeugen.
Intrakranielle Kavernome wie- derum, die dritte und seltenste wichtige Gefäßfehlbildung, neigen Seifert zufolge nicht zu stärkeren Blutungen. Sie bestehen aus er - weiterten kapillaren Gefäßen ohne dazwischen gelegenes normales Hirnparenchym. Häufige kleinste Blutungen im Kavernom können allerdings zu einer Größenzunahme führen, die dann neurologische Ausfälle auslösen kann. „Sowohl Angiome als auch Kavernome kön- nen sich durch epileptische Anfälle bemerkbar machen“, erklärte Seifert.
Weil sich kavernöse Hämangi - ome häufig in tiefer gelegenen Hirn- regionen, wie den Stammganglien oder dem Hirnstamm, befinden, könne die Operation schwierig sein.
„Bei insgesamt geringem Blutungs- risiko muss die Behandlungsnot- wendigkeit daher sorgfältig gegen- über den Risiken abgewogen wer- den“, betonte der Neurochirurg.
Generell sprach sich Seifert für die interdisziplinäre Versorgung von Patienten mit Gefäßfehlbildungen aus – idealerweise an einem Hirn- gefäßzentrum mit einem großen Pa- tientenaufkommen und mindestens 50 Aneurysmeneingriffen pro Jahr.
Die interdisziplinäre Zusammen- arbeit an einem spezialisierten Zen- trum sei auch in der Behandlung kindlicher Hirntumoren entschei- dend, wie Priv.-Doz. Dr. med. Marti- na Messing-Jünger, Asklepios-Kin- derklinik, St. Augustin, erläuterte.
Mit jährlich etwa 300 bis 350 Fällen seien Hirntumoren nach der Leukä- mie die zweithäufigste Krebserkran- kung im Kindesalter. In Deutschland gebe es etwa zehn Zentren, die über die erforderliche Expertise verfügten und in denen Neurochirurgen, Kin- deronkologen und Strahlentherapeu- ten ein integriertes Team bilden.
„Da das kindliche Gehirn noch nicht ausgereift und vulnerabler ist als das eines Erwachsenen, benötigt es eigene Verfahren – zumal die Tu- mortherapie sein Entwicklungspo- tenzial stark beeinträchtigen kann“, sagte Messing-Jünger. Außerdem
Aneurysmen treten gehäuft an Gefäßen der Hirnbasis (Circulus arterio- sus Willisii) und dort insbesondere an den Teilungsstellen der Arterien auf. Nicht alle Hirnbasisarterien sind gleichermaßen von Aneurysmen betroffen: Etwa 85 Prozent betreffen den vorderen Kreislaufabschnitt, nur 15 Prozent sind im hinteren Abschnitt des Hirnkreislaufes zu finden.
Prädilektionsstellen sind die Arteria cerebri anterior mit A. communicans anterior, A. carotis interna, A. communicans posterior, die Bifurkation der A. cerebri media und die Spitze der A. basilaris (Basilariskopf).
Häufig werden Aneurysmen erst im Rahmen einer manifesten Ruptur diagnostiziert, da sie primär keine Symptome verursachen, sofern sie nicht aufgrund ihrer Ausdehnung angrenzende Hirnstrukturen klinisch wirksam verdrängen. Typische Kompressionssymptome nicht rupturierter Aneurysmen sind Okulomotoriusparesen, die insbesondere bei Aneurys-
men der A. carotis interna auftreten können. Große Aneurysmen der A.communicans anterior, A.cerebri anterior und A.carotis interna führen in seltenen Fällen zu Sehstörungen und Gesichtsfeldausfällen, wenn sie Kompression auf die Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum) ausüben.
Chronische Schmerzsyndrome, Migräne und Konzentrationsstörun- gen in der Vorgeschichte werden von vielen Aneurysmaträgern be- schrieben. Etwa 30 Prozent der Patienten mit Subarachnoidalblutungen berichten über bereits vor der eigentlichen Blutung aufgetretene starke Kopfschmerzereignisse, die einige Stunden bis Tage andauern können und typischerweise einige Tage bis Wochen vor der Hauptblutung eintre- ten. Man geht hier von minimalen Blutaustritten aus kleinsten Gefäß- lecks aus, die in der Regel einer bildgebenden Darstellung nicht zugäng-
lich sind. EB
WARNHINWEISE FÜR EIN ANEURYSMA
gebe es im Kindesalter eine deut- lich größere Vielfalt der Tumorar- ten und -lokalisationen: „Oft sind kindliche Hirntumoren an Stellen gelegen, wo ein Neurochirurg, der vor allem Erwachsene operiert, sich anatomisch nicht so gut auskennt.“
Ziel der Operation sei es, den Tu- mor möglichst vollständig zu ent- fernen und dabei alle Hirnfunktio- nen zu erhalten. Häufig müsse die Operation durch eine Chemo- oder Strahlentherapie ergänzt werden.
Eine Radiatio bei Kindern möglichst lang hinauszögern
Allerdings seien der Strahlenthera- pie insbesondere bei kleinen Kin- dern enge Grenzen gesetzt, da sie die Entwicklung des Gehirns und der Intelligenz wesentlich beein- trächtigen kann, warnte Messing- Jünger. Eine Chemotherapie schä- dige zwar nicht das Gehirn, belaste aber den übrigen Körper stark. Die Neurochirurgin berichtete, dass El- tern dennoch häufig mehr Angst vor einer Operation ihrer Kinder haben als vor einer Strahlentherapie: „Da- bei ist es genau umgekehrt.“Eine radikale chirurgische Thera- pie habe oberste Priorität, damit man die Strahlentherapie möglichst lang hinauszögern könne. Bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren ver- zichte man heutzutage auf die Radia- tio. „Wenn das Gehirn nach ein paar Jahren robuster ist, kann man es bei Bedarf später immer noch bestrah- len“, sagte Messing-Jünger.
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Antje Thiel Das grund -
legende Prinzip des Aneurysma- Coilings besteht in der Auffüllung des Gefäßsackes mit Platinspiralen.
Hierdurch wird ein weiterer Bluteinstrom in das Aneurysma verhindert, das Lumen thrombo- siert.
Foto: Stryker