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Archiv "Der Öffentliche Gesundheitsdienst: Standortbestimmung mit hoffnungsvollem Ausblick" (02.03.2012)

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DER ÖFFENTLICHE GESUNDHEITSDIENST

Standortbestimmung

mit hoffnungsvollem Ausblick

Seit einigen Jahren ist eine (Wieder-)Annäherung von Public Health und öffentlichem Gesundheitsdienst zu beobachten. Diese Annäherung beinhaltet die Perspektive für eine Modernisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes im 21. Jahrhundert.

Joseph Kuhn, Manfred Wildner, Andreas Zapf

F

einstaub, Mobilfunk, Drogen- konsum, Kindesmisshand- lung, Vogelgrippe, Adipositas bei Kindern, EHEC, Dioxin in Eiern

…, die Reihe ließe sich fortsetzen.

Fast täglich berichten die Medien über echte oder vermeintliche Ge- sundheitsgefahren, denen ein Ap- pell an die Verantwortung des Staa- tes folgt. In der Tat ist Gesundheit mehr als eine individuelle Angele- genheit. Gesundheitslehren waren, so der Heidelberger Medizinhistori- ker Schipperges, stets

auch Ordnungslehren (1), in denen öffentli- che und private Verant- wortung für die Ge- sundheit wechselnde Amalgame miteinan- der eingingen. Unser heutiges Verständnis von staatlicher Verant- wortung für die Ge- sundheit ist geprägt durch die Herausbil- dung des neuzeitlichen Interventionsstaats in der Aufklärung. Jo- hann Peter Frank hat mit seinem „System ei- ner vollständigen me -

dicinischen Policey“, dessen erster Band 1779 und dessen sechster Band 1819 erschienen, den gesund- heitlichen Verantwortungsbereich des modernen Staates aufgeblättert, insbesondere was das Teilsegment des öffentlichen Gesundheitsdiens- tes (ÖGD) als der unmittelbaren Hand des Staates im Gesundheits- wesen angeht. Von der Gesund- heitsberichterstattung über die Hy- giene bis hin zur Aufsicht über die

Gesundheitsberufe findet man dort bereits weitgehend das Spektrum der Aufgaben, das der öffentliche Gesundheitsdienst bis heute wahr- nimmt.

Vertrauensverlust und versäumte Chancen

Die weitere Entwicklung des öffentli- chen Gesundheitsdienstes in Deutsch- land ist von zwei Zäsuren mit bis heute anhaltenden Wirkungen ge- prägt: Die erste Zäsur ist die flächen-

deckende Schaffung staatlicher Ge- sundheitsämter durch das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheits- wesens 1935, mit dem zugleich der ÖGD für die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in- strumentalisiert wurde (2).

Die zweite Zäsur war die Folge dieser Instrumentalisierung: Nach dem Krieg waren sozial- und bevöl- kerungsmedizinische Ansätze in der Bundesrepublik diskreditiert. Aus

der Gesundheitsversorgung haben sich die Gesundheitsämter in der Folge fast vollständig zurückgezo- gen. Auch in der Prävention sind sie eher zu „Nachlassverwaltern“ ver- bliebener Aufgaben geworden.

1956 ist der Versuch gescheitert, dies mit dem Gesetz über die vor- beugende Gesundheitsfürsorge neu zu regeln. Vorsorgeuntersuchungen und Impfleistungen sind in den fol- genden Jahren in die Zuständigkeit der kassenfinanzierten Versorgung

übertragen worden (3).

Andere präventive Auf- gaben, etwa in der Ge- werbehygiene oder der Lebensmittelüberwa- chung, gingen bereits früher auf eigene Behör - den über. Die Schwä- che der Prävention in Deutschland – mit ei- nem Anteil von gerade einmal vier Prozent an den Gesundheitsausga- ben des Jahres 2008 – und die Schwäche des öffentlichen Gesund- heitsdienstes hängen durchaus zusammen.

Allerdings wäre es ver- fehlt, darin nur einen Verfallspro- zess des ÖGD wahrzunehmen: Es kommt darin auch eine Veränderung des gesellschaftlichen Umfelds zum Ausdruck. Mit der Ausdifferenzie- rung des Gesundheitswesens und seiner Institutionen ist in vielen Be- reichen die Aufgabenerfüllung un- mittelbar durch den Staat nicht mehr zweckmäßig.

Die Länder machten nach dem Krieg von der Möglichkeit, die Or-

Bayerisches Landes- amt für Gesundheit und Lebensmittelsi- cherheit: Dr. PH Kuhn, Prof. Dr. med. Wildner, Dr. med. Zapf

Foto: picture alliance [m]

Deutsches Ärzteblatt

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2. März 2012 A 413

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ganisation der Gesundheitsverwal- tung durch Landesrecht zu regeln, zum Teil nur sehr zögerlich Ge- brauch. So galt das Vereinheitli- chungsgesetz zunächst als Landes- recht weiter und wurde erst mit Be- ginn der 1980er Jahre schrittweise durch Ländergesetze über den öf- fentlichen Gesundheitsdienst abge- löst, zuletzt 2006 in Niedersachsen und 2007 in Hessen. In Thüringen arbeitet der ÖGD auf der Grundlage einer Rechtsverordnung. 2006 ist das Vereinheitlichungsgesetz mit seinen drei Durchführungsverord- nungen im Zuge eines Rechtsberei- nigungsgesetzes (4) auch formell als Bundesrecht aufgehoben wor- den – das Ende eines unrühmlichen Kapitels des ÖGD, das eigenarti- gerweise selbst in Fachkreisen weit- gehend unbeachtet blieb.

Eine landesrechtlich geprägte Vielfalt

Im Folgenden soll nur der ÖGD im engeren Sinne betrachtet werden, das heißt, auf die Bundesbehörden wird nicht weiter eingegangen. In vielen Ländern findet man auf der unteren Verwaltungsebene eine Kommunalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes. In Baden- Württemberg und Bayern gibt es noch staatliche Gesundheitsämter, die aber verwaltungsorganisato- risch ebenfalls in die Landratsämter eingebunden sind. In den Stadtstaa- ten Hamburg und Berlin existiert

mit den Gesundheitsämtern der Be- zirke mit ihrer besonderen Rechts- beziehung zur staatlichen Ebene ei- ne weitere Strukturvariante. In Bay- ern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen werden Aufgaben des ÖGD auch auf der mittleren Verwaltungsebene wahrgenommen (Regierungspräsi- dien, in Sachsen: Landesdirektio- nen). Je nach Bundesland sind zu- dem verschiedene Sonderbehörden (gerichtsärztliche Dienste, polizei- ärztliche Dienste et cetera) sowie Landesbehörden (Landesgesund- heitsämter, Landesinstitute, Unter- suchungsämter, Landesprüfungs- ämter et cetera) Teil des ÖGD. Zum Teil sehen die Gesundheitsdienst - gesetze auch die Übertragung von Aufgaben des ÖGD an Dritte vor.

Ein positiver Aspekt der Kom- munalisierung von Gesundheitsäm- tern wird darin gesehen, dass damit bessere Voraussetzungen für eine Integration der Gesundheitsämter in die kommunale Gesundheitspoli- tik geschaffen werden. So könnte der ÖGD eine stärkere Rolle bei der Gestaltung „kommunaler Gesund- heitslandschaften“ (Luthe) spielen (5). Allerdings zeigen Studien, dass das Thema Gesundheit kommunal- politisch häufig keine besondere Relevanz besitzt (6), das heißt, das Integrationspotenzial der Kommu- nalisierung wird selten ausge- schöpft, abgesehen von der in vie- len kommunalisierten Ämtern aus-

geprägten Inanspruchnahme der Ärzte für Gutachtertätigkeiten.

Über die Zahl der Beschäftigten in den circa 400 Gesundheitsämtern in Deutschland liegen keine detail- lierten Daten vor. Die Größenstruk- tur der Gesundheitsämter wurde in einer Erhebung 2007 erfasst. Dem- nach entfällt auf die Größenklassen

„unter 20 Beschäftigte“, „zwischen 20 und 40 Beschäftigte“ und „mehr als 40 Beschäftigte“ je ein Drittel der Gesundheitsämter.

Aus sektoralen Leistungserhe- bungen ist bekannt, dass in den letzten Jahren im ÖGD weiter Per- sonal abgebaut wurde und deshalb die Aufgabenerfüllung zum Teil spürbar erschwert ist.

Hinsichtlich des Aufgabenspek- trums lässt sich trotz der 16 ver- schiedenen Rechtsgrundlagen ein gemeinsamer Kernbestand an Auf- gaben ausmachen:

Gesundheitsschutz (Hygiene, In- fektionsschutz, Umweltmedizin, Über wachung im Pharmaziebereich et cetera)

Prävention, Fürsorge, Aufklä- rung (Schulgesundheitspflege, Ge- sundheitsförderung, Schwangeren- beratung, Sozialpsychiatrie, Sucht- beratung, Behindertenberatung, Hil- fen für Obdachlose et cetera)

Steuerung, Qualitätssicherung, Kommunikation (Gesundheitsbericht- erstattung, Koordinationsaufgaben, Medizinalaufsicht, Begutachtungswe- sen, Öffentlichkeitsarbeit et cetera).

Es gibt – trotz 16 verschiedener Rechtsgrund- lagen – einen gemeinsamen Kernbestand an Aufgaben für den ÖGD beim Gesundheitsschutz, bei

Prävention und Qualitätssicherung.

Fotos (3): dpa

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Um diesen gemeinsamen Kern gruppieren sich länderspezifisch be- sondere Aufgabenzuweisungen. In einigen Ländern ist der ÖGD für die Jugendzahnpflege zuständig, in manchen für den gesundheitlichen Verbraucherschutz oder auch – meist auf Ebene der Landesbehörden – für gewerbeärztliche Aufgaben. Unter- schiedliches Gewicht hat auch die Wahrnehmung sozialkompensatori- scher Aufgaben, zum Beispiel in der Fürsorge und Beratung von sozial Benachteiligten. Ämter mit Zustän- digkeiten für soziale Brennpunkte in Städten wenden häufig einen erheb- lichen Teil ihrer Ressourcen für sol- che Aufgaben auf.

Neue Konzepte

in Richtung Public Health

1998 unternahm die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwal- tungsvereinfachung (KGSt) einen Versuch, die Aufgaben des ÖGD vor dem Hintergrund der zwischenzeit- lich intensiv verfolgten Verwal- tungsreformbestrebungen neu aus- zurichten – mit einer Verschiebung des Leistungsspektrums von fallbe- zogenen Leistungen hin zu gruppen- und lebensraumbezogenen Leistun- gen, einer Konzentration auf die sozial Benachteiligten, mehr Ma- nagement- und Qualitätssicherungs- leistungen statt unmittelbarer Dienst- leistungen und einer Stärkung von präventiven Leistungen gegenüber Kriseninterventionen (7).

Darüber hinaus ist absehbar, dass sich der ÖGD künftig auch stärker auf die gesundheitlichen Folgen gesellschaftlicher Megatrends ein- stellen muss:

Die Globalisierung bringt durch den grenzüberschreitenden Waren- verkehr neue und oft unbekannte Probleme der Produktsicherheit mit sich, durch Reisen können Infekti- onskrankheiten schneller verbreitet werden, Migranten benötigen be- sondere gesundheitliche Hilfen und so weiter.

Die wissenschaftlich-technische Entwicklung stellt neue Anforde- rungen an die Risikoanalyse und -bewertung, mit erhöhten Ansprü- chen an Fachlichkeit und Effizienz.

Mit dem Klimawandel treten neue Gesundheitsgefahren auf, zum Beispiel durch das Einwandern von Zecken- und Mückenarten aus süd- lichen Ländern oder durch Hitze- wellen, die insbesondere für ältere Menschen lebensbedrohlich sein können.

Der demografische Wandel führt zu neuen Herausforderungen auch für den öffentlichen Gesundheits- dienst, zum Beispiel in der Qualitäts- sicherung der stationären Pflege (Heimaufsicht) oder in der Notwen- digkeit, in Regionen mit stark sin- kender Bevölkerungszahl Defizite der ambulanten Versorgung auszu- gleichen.

Die soziale Entwicklung hat vor allem in sozialen Brennpunkten in

den Städten gesundheitliche Fol- gen, die zum Teil von den Gesund- heitsämtern aufgefangen werden müssen.

Der anhaltende Trend zur Indivi- dualisierung von Lebensverläufen führt dazu, dass Gesundheitsvorsor- ge einerseits immer weniger als pa- ternalistische Fürsorge nach ein- heitlichem Muster organisiert wer- den kann und die Autonomie des Einzelnen zu respektieren ist, ande- rerseits darf dies aber eingedenk der Komplexität und prägenden Kraft der gesellschaftlichen Rahmenbe- dingungen nicht dazu führen, dass der Einzelne in seiner Selbstverant- wortung überfordert wird.

Das anzustrebende Profil des öf- fentlichen Gesundheitsdienstes ak- zentuiert sich damit weiter in Rich- tung eines modernen Public-Health- Ansatzes. Um dem gerecht zu wer- den, muss der ÖGD vernetzter, in- terdisziplinärer und wissenschaftli- cher als bisher arbeiten, er muss als kompetenter Partner für andere wis- senschaftlich arbeitende Institutio- nen fungieren können.

Allmähliches Aufgreifen des Erbes . . .

Unter der Bezeichnung „Public Health“ konnten seit den 1980er Jahren wieder bevölkerungsmedizi- nisch orientierte Ansätze in Deutsch- land etabliert werden. Erst allmäh- lich beginnt sich der öffentliche Gesundheitsdienst dem inhaltlichen

Notwendig ist eine intensive Diskussion im ÖGD über das Selbstverständnis, die bisherige Entwicklung und die möglichen Hindernisse auf dem künftigen Weg.

Fotos (3): dapdFoto: mauritius images

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2. März 2012 und methodischen Angebot von

Public Health umfassender zu öff- nen – ein Prozess, den die Weiter- bildungsakademien für öffentliche Gesundheit aktiv unterstützen. Dies schließt die künftige Profilierung des Facharztes für Öffentliches Ge- sundheitswesen ein. Die Facharzt- weiterbildung für Öffentliches Ge- sundheitswesen beinhaltet eine in- tensive mehrmonatige theoretische Kursweiterbildung (720 Stunden Prä- senzzeit, siehe auch die [Muster-]

Weiterbildungsordnung der Bun- desärztekammer), die erst durch Kooperationen mit universitären Public-Health-Studiengängen in das europäische System der postgradu- ierten allgemeinen Public-Health- Qualifikationen eingeordnet wer- den kann.

Bisher gibt es in Deutschland keinen „ÖGD-Lehrstuhl“, der sich in gleicher Weise mit Strukturen, Strategien und Handlungsfeldern des ÖGD beschäftigt, wie es die Versorgungsforschung mit den Ab- läufen der stationären und ambulan- ten Versorgung tut. Wissenschaftli- che Reflexion und Forschung dar - über, wie der ÖGD in der Kranken- haushygiene agiert oder wie sich die Schuleingangsuntersuchungen bewähren, gibt es an den Public- Health-Instituten ebenso wenig wie ein wissenschaftliches Nachdenken über die Kosteneffizienz solcher In- terventionen oder die Zweckhaftig- keit und den Erfolg der staatlichen Gesundheitsberichterstattung (8).

Im Bereich öffentlicher Gesundheit liegen große Teile der Praxis akade- misch brach.

. . . und Umsetzung konkreter Reformschritte

Es gibt derzeit einige vielverspre- chende Ansätze, den öffentlichen Gesundheitsdienst und Public Health näher zusammenzubringen.

Das Berliner Gesundheitsdienstre- formgesetz von 2006 formuliert zum Beispiel in § 1 explizit: „Der öffentliche Gesundheitsdienst ori- entiert seine Arbeit am Programm des Gesunde-Städte-Netzwerks und an den Grundsätzen von Public Health.“ Dazu soll sich der ÖGD auf eine sozialindikative Gesund- heitsplanung stützen, die die groß-

stadttypischen Problemlagen nach Sozialräumen differenziert be- schreibt. Prävention und Gesund- heitsförderung für verschiedene Zielgruppen werden als Pflichtauf- gaben definiert. In Nordrhein-West- falen wurde bereits in den 1990er Jahren im ÖGD die Arbeit mit Ge- sundheitszielen und Gesundheits- konferenzen etabliert. Damit wird der beschriebenen Notwendigkeit, stärker als früher kooperativ zu ar- beiten, Rechnung getragen.

Ein einheitliches Leitbild steht immer noch aus

In Bayern wird ebenfalls versucht, diese Trennung in einem langfristig angelegten Organisationsentwick- lungsprozess zu überwinden (9).

Ein wichtiger Meilenstein dabei ist der Aufbau der Pettenkofer School of Public Health unter Beteiligung des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsi- cherheit. Damit soll auch die (Wie- der-)Verwissenschaftlichung wich- tiger Handlungsfelder des ÖGD in Form sogenannter Brückenprofes- suren verfolgt werden. Eine erste Brückenprofessur „Public Health Policy and Administration“ ist 2010 eingerichtet worden. Des Weiteren ist in Bayern die Amtsarztausbil- dung in einen postgradualen Studi- engang mit dem Abschluss „Master of Public Health (Health Adminis- tration and Management)“ inte- griert worden.

Auf der programmatischen Ebe- ne setzt sich mit Blick auf den ÖGD und auch im ÖGD immer mehr ein Denken durch, das der von der Ottawa-Charta der Weltge- sundheitsorganisation schon 1986 geforderten Neuorientierung der Gesundheitsdienste in Richtung auf präventives, settingorientiertes, ver- netztes und befähigendes Handeln entspricht. In der Alltagspraxis des ÖGD steht dem eine brisante Mi- schung aus Personalmangel und ei- nem gesetzlich fixierten traditio- nellen Aufgabenspektrum entge- gen. Den Beschäftigten des ÖGD wird es dadurch erschwert, ein ein- heitliches Leitbild für ihre Arbeit auszumachen. Ideen von öffentli- cher Gemeinwesenarbeit koexistie- ren beispielsweise weitgehend un-

reflektiert neben Vorstellungen von subsidiärer Versorgung oder einem primär gesundheitspolizeilichen Pa- radigma (10, 11). Eine moderne, an Public Health orientierte Amtsarzt- ausbildung ist auch daher ein un- verzichtbarer Teil der Organisati- onsentwicklung im ÖGD.

Die skizzierten Perspektiven, die letztlich die in der Ottawa-Charta geforderte Neuorientierung der Ge- sundheitsdienste in Richtung auf ein lebensweltbezogenes, präven - tives und partnerschaftliches Han- deln befördern, lassen sich ab - sehbar nur in einem langfristigen Prozess realisieren (10–15). Dazu gehören eine intensivierte Diskus - sion des ÖGD über das eigene Selbstverständnis, die Reflexion der bisherigen Entwicklung und das Benennen der Hindernisse auf dem einzuschlagenden Weg.

Dabei kann der Blick über die Grenzen, wie ihn zum Beispiel die beiden „Drei-Länder-Symposien“

mit Vertretern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz 2006 in Lindau und 2009 in Wildbad Kreuth organisiert haben (16, 17), durchaus aufschlussreiche Ein - sichten über die Parallelität von Problemlagen und Lösungsper- spektiven liefern. Der Erfolg dieses Prozesses hängt einerseits wesent- lich davon ab, wie individuelle Ver antwortung, gesellschaftliche Verantwortung und staatliche Auf- gaben künftig austariert und wel- che Ressourcen dem ÖGD für sei- ne Rolle künftig zur Verfügung gestellt werden. Umgekehrt bleibt dieses Austarieren auch nicht un - berührt davon, wie sich der öf - fentliche Gesundheitsdienst kon- zeptionell selbst positioniert und welchen Anspruch er in dieser Hinsicht an sich stellt.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2012; 109(9): A 413–6

Anschrift für die Verfasser Dr. PH Joseph Kuhn

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Veterinärstraße 2 85764 Oberschleißheim joseph.kuhn@lgl.bayern.de

@

Literatur im Internet www.aearzteblatt.de/lit0912

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LITERATUR

1. Schipperges H: Gesundheit und Gesell- schaft: Ein historisch-kritisches Panora- ma. Berlin: Springer 2007.

2. Donhauser J: Das Gesundheitsamt im Na- tionalsozialismus. Eine Dokumentation.

Gesundheitswesen 2007; 69 (S1).

3. Lindner U: Gesundheitspolitik in der Nach- kriegszeit. München: Oldenburg-Verlag 2004: 65.

4. Gesetz über die Bereinigung von Bundes- recht im Zuständigkeitsbereich des Bun- desministeriums für Arbeit und Soziales und des Bundesministeriums für Gesund- heit vom 14. 8. 2006. BGBl. I Nr. 39 vom 17. 8. 2006; 1869.

5. Luthe E-W: Kommunale Gesundheitsland- schaften. NDV 7/2010: 304–310 und 8/2010: 342–7.

6. Siehe z. B. die Fallanalyse von Ziemer B, Grunow-Lutter V. Lokale Gesundheitspoli- tik und Gesundheitsplanung aus der Sicht der EntscheidungsträgerInnen des kom- munalen politisch-administrativen Sys- tems. Gesundheitswesen 2007; 69:

534–40.

7. Kommunale Gemeinschaftsstelle für Ver- waltungsvereinfachung (KGSt): Ziele, Leis- tungen und Steuerung des kommunalen Gesundheitsdienstes. KGSt-Bericht 11/1998. Köln: KGSt 1998; 7–8.

8. Vgl. auch Kuhn J: Die arbeitsweltbezogene Gesundheitsberichterstattung der Länder.

Frankfurt: Mabuse 2006; 192.

9. Kerscher GF, Hingst V, Zapf A, Kuhn J, Wildner M: 200 Jahre Öffentlicher Ge- sundheitsdienst in Bayern: Schlaglichter zu Historie, aktuellen Entwicklungen und Zukunftsperspektiven. In: Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz (Hrsg.). Gesund le- ben in Bayern 1808–2008. München:

StMUGV 2008; 67–80.

10. Grunow D, Grunow-Lutter V: Der Öffentli- che Gesundheitsdienst im Modernisie- rungsprozess. Weinheim: Juventa 2000.

11. Steen R: Soziale Arbeit im Öffentlichen Gesundheitsdienst. München: Ernst Rein- hardt-Verlag 2005.

12. Müller W: Haben ÖGD und Public Health getrennt eine Zukunft? Bundesgesund- heitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheits- schutz 2005; 48: 1145–52.

13. Kurth B-M: ÖGD und Public Health: Vom Fremdeln übers gegenseitige Akzeptieren zur Liebesheirat? Bundesgesundheitsbl- Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 2005; 48: 1093–4.

14. Maschewsky-Schneider U: Zur Situation von Public Health in Deutschland. Bundes- gesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Ge- sundheitsschutz 2005; 48: 1138–44.

15. Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V.

(Hrsg.) 1950–2010: 60 Jahre BVÖGD. En- gagement für die Gesundheit der Bevölke- rung. Aalen: Eigenverlag 2010.

16. Locher WG, Wildner M, Kerscher GF (Hrsg.): Veränderung gestalten. Der Öf- fentliche Gesundheitsdienst im internatio- nalen Vergleich – Euregio Bodensee. Ger- mering: Zuckschwerdt-Verlag 2009.

17. Wildner M, Günter S, Kerscher GF, Zapf A (Hrsg.): Brücken bauen. Die Rolle des Arz- tes und seine Tätigkeit in einem modernen ÖGD. Germering: Zuckschwerdt-Verlag 2010.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 9/2012, ZU:

DER ÖFFENTLICHE GESUNDHEITSDIENST

Standortbestimmung

mit hoffnungsvollem Ausblick

Seit einigen Jahren ist eine (Wieder-)Annährung von Public Health und Öffentlichem Gesundheitsdienst zu beobachten. Diese Annäherung beinhaltet die Perspektive für eine Modernisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im 21. Jahrhundert.

Joseph Kuhn, Manfred Wildner, Andreas Zapf

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