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Archiv "Wissenschaftssprache und Umgangssprache in der Medizin" (27.07.1989)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Wissenschaftssprache und

Umgangssprache in der Medizin

Eberhard Buchborn

issenschaftssprache und Umgangs- sprache sind in der Medizin die bei- den wichtigsten Formen sprach- licher Kommunikation zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Sie sind damit im Umgang zwischen beiden die wichtigsten Möglichkeiten sprachlichen Verstehens und Mißverstehens. Jenseits davon beginnt die stum- me oder sprachlose Medizin: die Sprech-stunde ohne Gespräch, die Wortlosigkeit apparativer Techniken oder das Ausweichen in nichts-sagen- de Konversation. Dabei spielen in der ärztlichen Praxis unter den Kommunikationsstörungen die Schwierigkeiten der Verständigung zwischen Wissenschafts- und Umgangsprache eine zentra- le Rolle; denn die moderne Medizin ist nicht nur durch die Kompliziertheit ihrer wissenschaft- lichen Grundlagen, sondern auch durch die Komplexität des Krankseins unter heutigen Be- dingungen besonders auf sprachliches Verstehen zwischen Arzt und Patient angewiesen.

Für eine Analyse des sprachlichen Um- gangs zwischen Arzt und Patient genügt es nicht, nur isoliert die Wissenschafts- und Umgangs- sprache zu betrachten; denn die entscheidenden Fragen der Sprachkultur in der Medizin ergeben sich aus der „Mehrsprachigkeit" und aus den hieraus resultierenden „Ubersetzungsproble- men" zwischen der umgangssprachlichen Welt der Kranken, der Bildungssprache der Öffent- lichkeit, zumal ihrer Massenmedien und der Sprache des Arztes, die teils Fachsprache zur Verständigung innerhalb der Profession, teils Wissenschaftssprache ist, die methodisch gesi- cherte Tatsachenbehauptungen innerhalb eines theoretischen Zusammenhanges aufstellt und deshalb präziser, normierter und randschärfer ist und eine genauere Begründung erfordert als ei- ne Fachsprache.

Die Sprache des Kranken

Die unreflektierte Sprache des Kranken zeigt uns, was der Mensch als seine Krankheit empfindet, für deren Beschreibung er keine spe- zifische Begrifflichkeit besitzt, so daß er seine natürliche Umgangssprache hierfür benutzt. Die Untersuchungen von Dietlinde Goltz haben ge- zeigt, daß die Krankheit in den Äußerungen der A-2148 (34) Dt. Ärztebl. 86, Heft 30, 27. Juli 1989

Kranken einmal als eine unerklärliche und unbe- kannte Naturerscheinung erlebt wird („es zieht, es brennt, es ist mir elend", ähnlich wie "es regnet", ohne daß man weiß, was regnet) und zum anderen als ein von außen Hinzugekomme- nes und selbständig Existierendes („ich hole mir eine Erkältung, ich bekomme einen Anfall, ich kriege einen Schnupfen"). Möglicherweise han- delt es sich hierbei um unverstandene Relikte animistischer Vorstellungen, wonach Dämonen und böse Geister den Menschen anfallen und krank machen. Dagegen spricht nicht die alltäg- liche Frage des Arztes „Was fehlt Ihnen?", die etymologisch so viel bedeutet wie „mit etwas Fehlerhaftem belastet sein". Interessant ist, daß sich zum Teil wörtlich dieselben Angaben auch in alten babylonischen, ägyptischen und griechi- schen Texten wiederfinden, so daß die Sprache des Kranken die Grundphänomene des Krank- seins, seine Hinfälligkeit, sein Nicht-mehr-Kön- nen und sein Anderssein seit den vorgeschicht- lichen Anfängen bis heute konserviert hat.

Die Sprache des Arztes

Auch wenn der Arzt heute eine wissen- schaftliche Ausbildung erfährt und die moderne Medizin eine wissenschaftliche Grundlage hat, ist die medizinische Terminologie doch nicht von vornherein mit einer Wissenschaftssprache gleichzusetzen. Indem sie historisch bis in die Antike zurückreicht, ist die medizinische Fach- sprache ähnlich konservativ wie die Sprache des Kranken; denn ihre Fachausdrücke beinhalten Begriffe aus ganz unterschiedlichen, zum Teil lange zurückreichenden Erkenntnisschichten oder überlebten pathogenetischen Vorstellun- gen, wie zum Beispiel „Rheuma", dessen Patho- genese in der Antike im Herabfließen („Ka- tarrh") von Schleim aus dem Gehirn in die Kör- perperipherie vermutet wurde.

Ähnlich mehrdeutige Bezeichnungen benut- zen wir noch heute in der medizinischen Fach- sprache für unbestimmte Symptome und Be- schwerden, die keine objektivierbare Beziehung zu einem nosologisch definierten Krankheitsbe- griff aufweisen („Kreislaufstörungen", „Leber- schaden" oder „Erschöpfungszustand"). Dies gilt in der Allgemeinpraxis besonders dort, wo es

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keine scharfen Grenzen zwischen der Gesund- heit und den Zwischenstufen uncharakteristi- scher Befindensstörungen bis hin zur nosologisch klassifizierbaren Krankheit gibt.

Verwissenschaftlichung und Verrechtli- chung (!) der modernen Medizin verlangen je- doch von der ärztlichen Praxis eine Begründung ihrer diagnostischen und therapeutischen Ein- griffe durch eine methodisch gesicherte Medizin, deren Handeln objektivierbar und damit recht- lich nachprüfbar ist. Eine Wissenschaftssprache ist daher für die Medizin unerläßlich (1) zur Be- gründung und Vermittlung einer systematischen Krankheitslehre, (2) zur Präzisierung ärztlicher Entscheidungsprozesse und der Prognostik und (3) zur Legitimation ärztlichen Handelns vor sich selbst, vor dem Kranken, vor Kostenträgern und im Konfliktfall vor der Rechtsordnung.

Dabei benötigt jede Einzelwissenschaft zur Beschreibung der von ihr beobachteten Phäno- mene eine jeweils eigene Wissenschaftssprache mit semantischen Bedeutungsgrenzen. So wird zum Beispiel die Hochdruckkrankheit von der Wissenschaftssprache der Biologie als Störung im Verhältnis der physikalischen Größen Druck und Volumen im Kreislaufsystem definiert, von der Psychologie beziehungsweise Psychosomatik als Folge konflikthafter Erlebnisinhalte und bio- graphischer Zusammenhänge beschrieben und von der Soziologie beziehungsweise Sozialmedi- zin in den gesellschaftlichen Verhältnissen loka- lisiert. So sind nicht nur Arzt und Kranker durch Grenzen zwischen Umgangs- und Fachsprache getrennt, sondern auch die Ärzte sprechen unter sich verschiedene Wissenschaftssprachen, die ei- gene Wirklichkeiten mit unterschiedlichen the- rapeutischen Konsequenzen begründen.

Das ärztliche Gespräch

Verständigung und Verstehen zwischen Arzt und Krankem in einer gemeinsamen Sprache sind eine spezifisch humane Voraussetzung aller ärztlichen Eingriffe. Bei ihrem Verfehlen ist da- her die Gefahr der Inhumanität für einzelne Maßnahmen wie für die Medizin als Ganzes ge- geben. Dabei ist zu unterscheiden zwischen (1) sprachlicher Kommunikation zur Verständigung und zur Erklärung einer Erkrankung durch Ver- mittlung generalisierender Informationen und (2) sprachlicher Interaktion als Wechselwirkung durch gegenseitiges Verstehen, in dem das Beson- dere und Individuelle der momentanen Situa- tion, ihrer Zusammenhänge und ihres möglichen Sinngehaltes reflektiert wird. Inhaltliche Grund- lage der Kommunikation ist die wissenschaft- liche Erfahrung als das wichtigste allgemeingülti- ge Richtmaß ärztlichen Handeln. Die Interak- tion im Gespräch mit dem Patienten wird dage-

gen auf seiten des Arztes durch die ärztliche Er- fahrung bestimmt. Ihr geht es nicht nur um die Kenntnis möglichst vieler einzelwissenschaft- licher Resultate, sondern um die Gewichtung und Bewertung der damit erhobenen Befunde in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige und zu- künftige Lage des Patienten. Erst aus solcher in- dividualisierenden ärztlichen Erfahrung kann für den einzelnen Patienten ein umfassendes Be- handlungskonzept abgeleitet werden, um es dann — und das ist die entscheidende Aufgabe — in die Sprache des Patienten zu übersetzen. Wie in einem Brennglas gebündelt erscheint diese Pro- blematik im ärztlichen Aufklärungsgespräch.

Defizite der Kommunikation betreffen die Führung des ärztlichen Gesprächs, vor allem in- folge der funktionellen Asymmetrie zwischen fachlich kompetentem Arzt und emotional ab- hängigem Patienten. Dies kann zum Beispiel bei der Visite der Fall sein, wenn nicht mit, sondern über den Patienten gesprochen wird. Weitere Gründe auf seiten des Arztes können sein Zeit- mangel, Überfrachtung mit technischen Verrich- tungen, Fehlen sprachlicher Orientierungshilfen, Übergehen oder Nichtbeachtung von Fragen oder Ausweichen durch Themenwechsel. Nach entsprechenden Erhebungen verstehen mehr als 50 Prozent der Patienten nicht, was ihnen der Arzt über Krankheit und Behandlung sagt!

Defizite der Interaktion, das heißt der zwi- schenmenschlichen Wechselwirkung durch Spra- che sind schwieriger zu analysieren und auch zu vermeiden als die des Informationsaustauschs auf der Inhaltsebene; denn hierbei geht es um personale Beziehung, das heißt um emotionale Verarbeitung von Krankheit und von Fragen nach Werten und nach Sinnhaftigkeit von Krank- sein und Sterbenmüssen und damit auch um ge- genseitiges Vertrauen. Ein Beispiel für die Be- deutung der Sprache in solcher Interaktion bie- tet die Psychotherapie, in der es vorwiegend um die Heilung durch das Wort geht.

So ist Sprachlichkeit die spezifischste Eigen- schaft des Menschen, in der sich jede Erfahrung artikuliert. Deshalb kann die Medizin als die menschlichste aller wissenschaftlichen Bemü- hungen nicht auf die Wirkung der Sprache und auf eine ärztliche Sprachkultur verzichten, wenn sie nicht trotz vieler Worte im Umgang von Arzt und Patient sprach-los werden soll.

In Anlehnung an den Eröffnungsvortag beim 34. Internatio- nalen Fortbildungskongreß der Bundesärztekammer in Bad- gastein, 1989

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Eberhard Buchborn Medizinische Universitätsklinik Innenstadt

Ziemssenstraße 1 • 8000 München 2 Dt. Ärztebl. 86, Heft 30, 27. Juli 1989 (37) A-2149

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