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Archiv "Hippokrates über Hippokrates: Zeitliches, Überzeitliches und Unzeitliches zum hippokratischen Eid" (09.11.1978)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FORUM

Das Schrifttum über ihn ist wie ein Ozean. Wer ihn durchschwimmen will, ertrinkt. Neben den Klassikern E. Littrö (1839-1861), C. Friedrich (1899), U. v. Wilamowitz-Moellen- dorf (1901), H. Diels (1910), Th. Gom- perz (1910), H. Much (1926), M. Well- mann (1929), K. Deichgräber (1933), M. Pohlenz (1938), R. Kapferer (1940), A. Bier (1942), W. Capelle (1955) - um nur die bekanntesten und hauptsächlich jene des deut- schen Sprachraumes zu nennen -, welche das Corpus Hippocraticum mit seinen 52 Schriften in 72 Bü- chern erschlossen haben, gibt es kaum einen Medizinhistoriker, der nicht darüber publiziert hat, sei es Einzelheiten erforschend, sei es phi- lologisch deutend, sei es philoso- phisch referierend, alle fasziniert von einer Persönlichkeit, die für manche scharf umrissen hervortritt, für andere hinter Medizinschulen entschwindet, und von der H. E. Si- gerist (1953) behauptet, „wir wissen nichts von ihr, außer daß sie gelebt hat".

Die unter seinem Namen vereinigten Schriften stellen eine Sammlung verschiedenartigster Werke dar, Mo- nographien, Lehrbücher, Handbü- cher, Reden, Exzerpte, Notizen, be- rühren alle Gebiete der Medizin ein- schließlich der Chirurgie, verraten in ihrer Uneinheitlichkeit und auch ge- legentlichen Widersprüchlichkeit ei- ne Vielschaft von Autoren, und stel-

len eine späte, alexandrinische Zu- sammenfassung von Schriften unter seinem Namen dar, von welchen einige von ihm selbst verfaßt, alle aber als unschätzbar gelten, weil sie einen Querschnitt der griechischen Hochmedizin und der Vorstellungs- welt von Hippokrates wiedergeben.

Er war zu Lebzeiten ein berühmter Arzt neben anderen, er wuchs im Laufe der Jahrhunderte zum Heros, in den jede Epoche ihre Sehnsucht verlegte und in ihm ihre Ideale ver- körpert sah. Damals streifte die Me- dizin ihre magisch-religiösen Ele- mente ab und begann aufgrund von Beobachtung und Erfahrung wis- senschaftlich zu denken.

Es ist nicht meine Absicht, den Oze- an dieses Schrifttums auch nur um einen Tropfen zu vermehren. Viel- mehr möchte ich versuchen, Hippo- krates über Hippokrates urteilen, ihn stellvertretend für die damalige Schule auf diese zurückblickend und von dieser auf uns schauend jene und uns gegenseitig kritisieren zu lassen, selbstverständlich nicht im Bereich des Wissens, was töricht wäre, sondern im Bereich des Ge- wissens, wie es uns ethisch-mora- lisch-sozial aus dem nach ihm be- nannten, freilich älteren, auf ägypti- sche und indische Quellen weisen- den Berufseid entgegentritt, und uns immer noch bewegt, mit allem Respekt vor der Lauterkeit seiner Persönlichkeit, aber auch mit dem nen Wahlköprer und sind also re-

lativ stark vertreten. Wir haben auch andererseits in jedem Kran- kenhaus einen Vertrauensmann der Ärztekammer, der von den jun- gen Ärzten mitgewählt wird. Wir in der Steiermark beispielsweise ha- ben von der Ärztekammer aus in einer Stunde alle Vertrauensmän- ner durchtelefoniert.

Keine Neigung für Ambulatorien Frage: Haben denn die Kranken- kassen Schwierigkeiten, für ihre Ambulatorien Ärzte zu finden?

Antwort: Sie haben große Schwie- rigkeiten! Das Röntgen-Ambulato- rium in Graz zum Beispiel ist seit einem Jahr unbesetzt, weil sie kei- nen Röntgenologen finden, ob- wohl wir eine Universitätsklinik haben, die reichlich Röntgenolo- gen ausbildet. In den Zahnambula- torien müssen sie größtenteils Ausländer nehmen, die nach unse- rem Gesetz eigentlich gar nicht tä- tig sein dürften, weil sie gar keine gleichwertige Ausbildung haben.

Nur fürchte ich, wenn das Überan- gebot kommt, und der Existenz- druck sehr stark wird, dann . Frage: Haben Sie eigentlich inzwi- schen die Öffentlichkeit davon überzeugt, daß eine Ärzteschwem- me droht?

Antwort: Wir haben den Eindruck, daß die Meinung, daß wir recht haben, doch um sich greift. Man- che Politiker sagen allerdings noch immer, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Was sich nicht bewährt hat, das sind Aufklä- rungskampagnen, nicht Medizin zu studieren; es ist nur eine Refle- xion nach innen, dem eigenen Stand gegenüber. Zum einen wird uns das sofort als Zunftdenken um die Ohren geschlagen - und zum anderen: Was für eine Alternative des Studiums wollen Sie einem jungen Mann, der studieren will, außer Medizin und Theologie heu- te bieten? Alle akademischen Be- rufe sind ja hoffnungslos überlau-

fen.

Ei

Hippokrates über Hippokrates

Zeitliches, Überzeitliches und Unzeitliches zum hippokratischen Eid

August Vogl

Der Eid des Hippokrates - mancherorts wird er sogar noch wortwört- lich geschworen - erfordert zu seinem Verständnis die Kenntnis der äußeren und der geistigen Umstände von Ort und Zeit seines Entste- hens, aber auch eine intelligente Übertragung auf die äußeren und die geistigen Umstände seiner heutigen Anwendung.

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Hippokrates über Hippokrates

leisen Verdacht, er selbst habe sich darüber schon so seine Gedanken gemacht. Wie beim Wissen offen- kundig, müssen wir auch beim Ge- wissen Elemente der Unvergleich- barkeit berücksichtigen.

Kein Arzt, der Hippokrates über- haupt nicht verstünde, ihn nicht ir- gendwie bewunderte, ihn nicht we- nigstens in einer Falte seines We- sens liebte, und sei es auch nur in seinem Abgang, wie er, uralt noch immer Wanderarzt, auf dem Wege zwischen Gyrton und Larisa um 370 v. Chr. gestorben ist.

Der Kopf

Eine authentische Büste von ihm be- sitzen wir nicht. Die als solche aus- gegeben wird, zeigt ein ernstes, ja strenges, in Pflicht und Zucht ge- kerbtes Antlitz. Sohn des Arztes He- rakleides, war er — um 460 v. Chr. auf Kos geboren — ein Sproß aus altem dorischen Adelsgeschlecht, den Asklepiaden, einer Ärztegilde, also ein nüchterner Dorier, von denen selbst die Athener, die phantasiebe- gabteren und regsameren Jonier, sagten, es wären die echtesten Grie- chen gewesen.

Zur Zeit seiner Jugend flunkerten noch die Veteranen der Perserkrie- ge. Als junger Mann erlebte er das perikleische Zeitalter, den attischen Bund, als erwachsener Mann den 30jährigen Bruderkrieg zwischen Sparta und Athen. Die Weltge- schichte rauscht an ihm vorbei. Er befaßt sich nur mit Krankenge- schichten. Zur Zeit des Friedens- schlusses — etwa 60 Jahre alt — gilt er als ärztliche Autorität. Im hohen Al- ter erfährt er noch den Verlust der kleinasiatischen Griechensiedlun- gen an die Perser.

Sein Leben fällt in die Zeit der größ- ten Geniedichte, die wir kennen. Die großen Alten sind nicht allzulange vorher oder eben erst gestorben:

Xenophanes, Heraklit, Pythagoras, Aischylos, Alkmaion, Pindar. Ihre oder ihrer Schulen Werke sind ihm zugänglich, und er hat sie wohl ge- wiß studiert. Zeitgenossen sind Pe-

rikles, Anaxagoras, Empedokles, Leukipp, Protagoras, Herodot, Phi- dias, Polyklet, Polygnot, Sophokles, Antiphon, Euripides, Praxitelos, Dio- genes, Xenophon, Platon (der einzi- ge, der ihn erwähnt), um nur die Spitzen zu nennen, Altersgenossen Sokrates, Thukydides, Demokrit, Aristophanes, Aristoteles und De- mosthenes gehören bereits der nächsten Generation an. In einer solchen Umwelt findet selbst eine ärztliche Kapazität nur mäßige Be- achtung, zumal es viele hervorra- gende Ärzte gibt. Man konsultiert sie in der Not und vergißt sie nach der Genesung. Das war immer so. Als Wanderarzt ist Hippokrates wohl in ganz Hellas herumgekommen, auch auf vielen Inseln. Attika, Thessalien, Kos, Delos, Thasos sind verbürgt.

Seine Schriften lassen vermuten, daß er auch das Skythenland (Süd- rußland), Kolchis und Libyen bereist hat.

Seine Epoche war aufregend und anregend, verkündete zugleich die Bedeutung der Abstammung und der Umwelt, war in ständigen Aus- einandersetzungen und Vergleichen begriffen, rege, kritisch, weltoffen, in unserem Sinne modern, verlangte systematisches Denken, methodi- sche Beweisführung, glänzende Dialektik, strebte zu umfassendem, ganzheitlichem Denken, zeigte aber

— wie in jedem Zenith — bereits auch Verfallserscheinungen, zuerst auf religiös-sittlicher Ebene, wofür die ersten Sophisten und so schillernde Figuren wie Alkibiades zeugen. In Athen war man bereits mondän und wird bald über den alten Spinner in der Akademie namens Platon spot- ten — sofern man ihn überhaupt kennt —, der hinwieder von seinen lieben Mitbürgern meint, in ihnen bestehe nur ein Gleichgewicht der Begierden, welches sie bald sinnli- chen Freuden, bald literarischen Vergnügen, bald der Politik, bald dem Geschäft und bald dem Sport in die Arme treibe. Der oberste Grund- satz ihres Lebens wäre, keinen Grundsatz zu haben und jedem Ein- fall des Augenblicks nachzugeben.

In ihrem Kopf herrsche ein sittliches und geistiges Chaos, und sie wären der Inbegriff der Richtungslosigkeit.

Ein Dorier muß sich unter solchen Umständen bereits altfränkisch vor- gekommen sein, was einem Arzt aber immer gut ansteht, besonders wenn er dazu universell gebildet und überdies ein Philosoph ist. Nüch- tern, ehrlich, ohne Schwulst, fast trocken, ein hartgesottener Empiri- ker, der unbestechlich beobachtet, abschätzt, daraus urteilt und han- delt, dem jedes Imponiergehaben und Geschwätz zuwider ist, der lei- denschaftlich gegen alle die Zau- berer, Sühnepriester, Bettler und Schwindler polemisiert, die von der Unwissenheit und dem Aberglauben im Volke leben, und deren absurde Behauptungen als Gotteslästerung brandmarkt, der alle atavistischen Vorstellungen des Dämonenglau- bens schärfstens verurteilt, der selbst die Allnatur mit dem Göttli- chen identisch erfühlt, der frei von Frivolität und Zynismus auftritt, und tiefen sittlichen Ernst, hohes Verant- wortungsgefühl für alle Patienten, äußerste Gewissenhaftigkeit bei chirurgischen Eingriffen und zu- gleich Zuversicht und Selbstvertrau- en ausstrahlt.

Was sagen wir nun aus ihm zu „sei- nem" Eid, was sagt er durch „sei- nen" Eid zu unseren heutigen Ärzten?

Der Eid

(Übersetzung nach Reiner Müller, Hygiene, Urban & Schwarzenberg, 1949)

Ich schwöre bei Apollo, dem Arzt, bei Askiepios und Hygieia und

Panakeia und bei allen Göttern und Göttinnen als Zeugen, daß ich diesen meinen Eid und Pakt erfüllen werde,

so gut ich kann und weiß.

Jeder ehrsame Meister eröffnete sein Hauptbuch „Mit Gott". Berufs- eide kannten auch andere Gilden.

Sie waren so viel wert wie ein Glau- be sie trug. Ohne Überzeugung, daß eine höhere Instanz das Ich durch- schaut und jede falsche Aussage handfest richtet, bleiben Eide Leer-

2678 Heft 45 vom 9. November 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Hippokrates über Hippokrates

formeln, die allerdings auch je- der halbwegs intelligente Atheist schweigend leistet, einst und jetzt.

Sie hindern ihn nicht, allgemein gül- tige ethisch-moralische Richtlinien anzuerkennen und zu befolgen, so- fern sie sich noch mit seinen eige- nen Vorstellungen halbwegs dek- ken. Dies ist heute selbst in der Me- dizin nicht mehr überall der Fall.

Wer schwört, muß zuerst wissen, welche Götter was wollen. Hat er einen ihm passenden gefunden, dann hält der Eid. Es bleibt dann Sache der Götter, abweichende An- sichten untereinander zu glätten.

Bei allen Göttern und Göttinnen zu schwören, setzt ein geschlossenes Himmels- und Weltbild voraus. Aber, kann es eine Heilkunst höchsten Ranges ohne eine religiöse Bindung irgendeiner, auch nicht dogmati- scher Art, sagen wir ohne jegliche Sinngebung des Lebens, die über seine materielle Manifestation hin- ausreicht, überhaupt geben? Doch, doch, auch tarifgebundene Repara- turwerkstätten können ganz gut ar- beiten. Der Karren läuft wieder. Wo- hin und wozu kümmert sie nicht.

Wenn nur Lohn und Urlaub stim- men. Der Tod zählt als Unglücksfall, den man im Unterbewußtsein ablegt.

Die Eidesformel steht schon an rich- tiger Stelle, nur die rechten Schwur- genossen fehlen. Dabei macht sie es so leicht, denn sie verlangt ja nur,

„so gut man's kann und weiß". Da läßt sich viel unterpacken.

Wer mich in dieser Kunst unterwie- sen hat, den werde ich achten wie meine Eltern;

ich bin bereit, mein Brot mit ihm zu teilen und ihm zu leihen, was er

wünscht. Seine Söhne will ich wie Brüder betrachten und sie dieselbe Kunst lehren, wenn sie dies wollen; umsonst und ohne Verpflichtungsschein. Unsere Vor- schriften, die Vorträge und den übrigen Lehr- stoff will ich dozieren meinen und seinen Söhnen, und jenen Schülern, die nach

der ärztlichen Satzung eingeschrie- ben und vereidigt sind; doch keinem anderen.

Oh, gewiß nicht ironisch gemeint:

Achtung vor den Eltern war beispiel- hafte Gipfelachtung, eine tragfähige Basis. — Beitrittserklärung zur Kran- ken-, Arbeitslosen- und Altersversi- cherung für Ärzte. Zuerst Übernah- me der sich daraus ergebenden Pflichten, um später einmal in den Genuß der Rechte zu gelangen. Je- der Schüler wurde einmal Lehrer. — Bereits auch ein Numerus clausus, verankert in der Tradition, wie in al- len rechtschaffenen Handwerkerfa- milien, dadurch erb- wie umweltbe- dingte Kumulation der Begabungen, Hippokrates selbst ein Beispiel hier- für. Heute nur mehr Tier- und Pflan- zenzüchtern geläufig. Der Mensch ist dafür zu überwürdig geworden.

Der Numerus clausus sanft aufge- lockert zwecks Blutauffrischung und Schwiegersöhnen. Heute Ausle- se nach überwerteter Theorie und Punkten, sterile Gedächtnisleistung, Fakten-Paukerei, MC-Tests, engstir- niges Strebertum. Für Hippokrato- ide verläßlichste Gegenauslese. Ge- schäftstüchtige Medi ko-Tech ni ker, weitab vom Leitbild Arzt. — Verbot der Weitergabe medizinischer Kenntnisse an Laien, um dem Stand die Magie zu wahren, Vorausset- zung jeder erfolgreichen Therapie.

Heute Verbreitung medizinischen Wissens über alle Medien. Populär- medizin. Aufklärungsrummel. Räso- nierinstitute. Dafür steigt die Morbi- dität ständig. Denn wer seine Kör- perfunktionen immer genauer be- achtet, entdeckt zuletzt sicher eine wenn auch noch so belanglose Dys- funktion. Kranken- und Gesund- heitswesen ufern aus. Die Asklepia- den lächeln.

Die Behandlung der Kranken will ich zu ihrem Heile leiten, so gut ich's kann und weiß; sie soll nicht schaden und nicht Pfuscherei sein.

So verfährt man nicht nur redlich, sondern auch ökonomisch. Wer empfiehlt schon einen Arzt weiter, wenn er selbst gestorben ist? Einem Redner aber, selbst einem Partei-

feind, vor seinem Auftritt in der Volksversammlung ein Laxans zu verabfolgen, verbietet schon die Er- ziehung. Und: Pfuscherei und Psy- chotherapie, nur Uneingeweihten verschwimmen da die Grenzen. An- tiphon lehrte: „Für alle Menschen ist der Geist der Führer ihres Körpers zur Gesundheit wie zur Krankheit und zu allem anderen." Er schrieb ein Handbuch „Wie werde ich frei von Not?", vergleichbar der Be- handlung, wie sie Ärzte den Kranken angedeihen lassen. In Korinth miete- te er ein Haus in der Nähe des Mark- tes und kündigte an, daß er alle Un- glücklichen durch eingehende Aus- sprache heilen könne. So tröstete er die Leidenden, indem er sie über die Gründe ihres Zustandes befragte.

Aber er fand dann doch, daß diese Künste seiner Fähigkeiten unwürdig seien und wandte sich wieder der Rethorik zu.

Ein tödliches Mittel werde ich nie geben, selbst nicht, wenn es verlangt wird;

auch keiner Frau ein Abtreibezäpf- chen geben.

Denn meine Ehre und mein Gewis- sen sollen mein Leben und meine ärztliche Kunst leiten.

Euthanasie: Ein striktes Verbot läßt immer Übertretungen vermuten.

Schmerzlinderung und Sterbehilfe verwischen leicht. Der Wunsch eines unheilbaren, schmerzgepeinigten Schwerkranken nach Erlösung läßt sich in extremis nicht immer ab- schlagen, nicht nur nicht, wenn er Siegmund Freud heißt. So bleibt dem Ermessen der notwendige Spielraum, damals wie heute. Man muß hier auch die andere Einstel- lung jener Zeit zum Selbstmord be- achten. Die Selbstmordquote mag ungefähr gleich hoch wie heute ge- legen haben. Der Freitod wurde aber nicht als verabscheuenswert ange- sehen, sondern vielmehr einem Le- ben in Abhängigkeit, Schimpf und Entbehrung vorgezogen. Vermutlich ist deshalb das Ansinnen um Herga- be eines Tötungsmittels öfters ge- stellt, dem Arzt aber im Eid aus- drücklich verboten worden. Denn immer sollte gelten: Das Töten ha-

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Hippokrates über Hippokrates

ben die Gesetzgeber den Juristen, Henkern und Soldaten vorbehalten.

— Abortus: Abtreibungen waren auch damals keineswegs selten, und wurden in den ersten zwei bis drei Monaten gar nicht als solche ver- standen. Das waren Abgänge von Schleim und Blutklumpen, weiter nichts. Das Verbot bezog sich erst auf spätere Schwangerschaftsmo- nate, bedachte also den Schutz von Frau und Frucht zugleich. Die da- mals angewandten empfängnisver- hütenden Methoden versagten wohl oft. Die Übervölkerung wurde durch Kolonisation, Kriege, Seuchen und Hungersnöte abgefangen, aber auch durch Kindstötung. Selbst bei Natur- völkern ist Kinderreichtum keines- wegs immer geschätzt. Auch sie wehren sich besonders in Notzeiten gegen drohende Übervölkerung und entledigen sich des Nachwuchses durch Vernachlässigung der Säug- linge mit Tötungsabsicht, durch Aussetzen, Ertränken, Ersticken, Er- drücken. Griechenland war damals bereits lange Kulturland, wenn in weiten Teilen auch arm und bäuer- lich, in anderen arm und städtisch.

Athen machte nur vorübergehend eine Ausnahme. Es zählte um diese Zeit rund 230 000 Einwohner, davon 100 000 Freie, 100 000 Sklaven und 30 000 Ausländersteuer zahlende Fremde. Das Aussetzen von wirklich oder angeblich lebensunfähigen oder unerwünschten Kindern war in ganz Griechenland gebräuchlich.

Der Eid geht auf diesen Umstand nicht ein. Offenbar fühlten sich die Ärzte für Fragen der postnatalen Kindstötung nicht mehr zuständig.

Uns erscheint diese Einstellung schwer verständlich und gespalten.

Vielleicht hat sich das Gewissen seither verfeinert. Wir halten Abtrei- bung und Aussetzung gleicherweise für Mord und verurteilen beide. Wer das eine verbietet, das andere aber übersieht, gerät ins Zwielicht. Er wirkt in unseren Augen unaufrichtig, heuchlerisch. Oder zielte das Verbot der Abtreibung eben doch mehr auf den Schutz der Mutter? Schließlich läßt sich das allgemeine Verbot für Tötungsmittel auch auf Neugebore- ne anwenden, denn es läßt die Frage direkter oder indirekter Anwendung offen.

Trotzdem, trotzdem, hier hätte es eines zusätzlichen klarstellenden Wortes über die Aussetzung bedurft.

Was nützt das Abortusverbot, wenn das Neugeborene hernach unge- straft ausgesetzt werden kann?

Wahrscheinlich weht der Zeitgeist durch diese Zeilen, dem sich auch Hippokrates nicht entziehen wollte und konnte. Vielleicht war der Eid aber bereits damals eine ehrwürdige Reliquie, die man traditionsbewußt mitschleppte, jedoch nicht mehr buchstäblich nahm. Immerhin er- leichtert uns diese Widersprüchlich- keit die Annahme, daß unsere heuti- gen Regelungen der Abtreibung mit ihren medizinischen und sozialen Indikationen zusammen mit einer wirksamen Empfängnisverhütung auch von Hippokrates gebilligt wor- den wären, er sie in seiner Nüchtern- heit angesichts der Bevölkerungsex- plosion in einer bald sechs Milliar- den großen Menschenhorde abge- segnet hätte. Wer das Durch- schnittsalter von damals kaum 30 Jahren auf heute über 70 Jahre hochschraubt und sich die Rentner- schwemme als Verdienst anrechnet, der muß eben woanders wieder ein- sparen. Haben die Gesetzgeber jetzt nicht doch auch den Arzt in das Tö- ten einbezogen, wenigstens ein biß- chen, so am Rande, und sozial ent- schuldigt? Wer vermag auf dieser Welt schon prinzipiell zu leben? Die Askiepiaden klopfen uns begütigend auf die Schulter: Man muß 180pro- zentig auftreten, um 80 Prozent zu erreichen.

Nie will ich Steinkranke schneiden;

will solches den Männern überlas- sen, die dieses Fach betreiben.

Facharztbeschränkung. Warum aber nur in diesem Sonderfall der Urolo- gie? In Ägypten gab es damals be- reits nicht nur Fachärzte, sondern schon Organspezialisten. Der Ein- griff war zu gefährlich, verlangte große Übung und endete oft letal.

Man wollte sich nicht belasten und schob ab. Ein alter Brauch. Es be- stand auch die Mahnung, die Be- handlung Unheilbarer abzulehnen.

Sie war sogar in frühen Fassungen des Eides enthalten. Deshalb auch

die übermäßige Bewertung der Pro- gnose gegenüber der freilich oft ge- nug ohnmächtigen Therapie. Ging es schief, man hatte es prophezeit, auch ein Plus. Ging es trotzdem gut, ein Doppelplus. Die düstere Progno- se lohnt sich immer.

Zum Heile der Kranken will ich sie überall in den Häusern besuchen, ohne jede Absicht, zu beschwätzen

und zu schädigen oder gar zu verführen;

seien es Frauen oder Männer, Freie oder Sklaven.

Ein kleiner Ausschnitt aus dem bür- gerlichen Gesetzbuch, den man heute eigentlich für überflüssig hal- ten sollte, bis man — eines besseren belehrt wurde. Die Gilden müssen ihre Mitglieder an der Kandare hal- ten, nur heute diskreter. — Und bitte Gleichberechtigung mit einem Quentchen Courtoisie, und ja keine Unterschiede zwischen Privatpa- tienten und Kassenmitgliedern!

Was ich aber bei der ärztlichen Behandlung sehe oder höre, oder

auch außerhalb der Behandlung im gewöhnlichen Leben über meine Kranken erfahre, das will ich, wenn es nie offenbar

werden darf, verschweigen und als Geheim- nis hüten.

Schweigepflicht: Einverstanden. Ge- lingt aber nur ohne Schreibe- pflicht. Wo Aufzeichnungen stattfin- den, notwendig sind oder verordnet werden, kommt es bald zur Aus- kunftspflicht. Die Riesenorganisa- tionen unseres Krankenwesens be- nötigen sie zur Kontrolle und Ab- rechnung. Will heute ein Arzt ein Pa- tientengeheimnis absolut wahren, dann darf er es nirgends aufzeich- nen. Selbst wo verschlüsselt wurde, muß gegebenenfalls offenbart wer- den. Jedes Krankenblatt läuft durch so viele Hände, daß trotz Schweige- gelöbnis des Personals jede delika- te Leidensgeschichte Prominenter durchsickert. Die Nullen schützt ih- re Bedeutungslosigkeit wie einen Fisch der Schwarm. Noch mehr:

Karteikarten und Krankengeschich-

2680 Heft 45 vom 9. November

1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

ten gelten als juristische Dokumente mit langjähriger Aufbewahrungs- pflicht. Was der Arzt darin in treu- herziger Ehrlichkeit und Gewissens- plage als mißlungen festhält, daraus kann ihm ein Strick gedreht werden.

Hat man schon von einem Richter gehört, der wegen eines Fehlurteiles selbst verurteilt worden wäre?

Schweigepflicht und Beichtgeheim- nis unterscheiden sich eben in der Anonymität und am Kugelschreiber.

Erst wenn einmal alle Lebensdaten einschließlich aller erlittenen Krank- heiten in Computern gespeichert werden und von allen „zuständigen"

Behörden abgerufen werden kön- nen, dürfen, müssen, wird es wieder eine verläßliche Verschwiegenheit geben. Dann wird nämlich kein ver- nünftiger Mensch mehr Persönli- ches preisgeben und im Krankheits- fall nur Graphophobe konsultieren.

Die Schweigepflicht vollendet sich in der Schweigelust. Ja, so sieht das nach 2500 Jahren aus, verehrte Asklepiaden.

Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, möge Glück beschieden sein mir und meiner Kunst;

Achtung bei allen Menschen alle Zeit.

Wenn ich aber den Eid übertrete und falsch geschworen habe, treffe mich das Gegenteil.

Na schön, viel Glück! Amen. Man hat versucht, diesen Eid zu modernisie- ren und ihn, obwohl er nirgends als Zulassungshürde geschworen wer- den muß, den Erfordernissen der ge- genwärtigen Heilkunst anzupassen.

Indem man ihn als Allerweltsmantel zurechtschneiderte, hat sich die Problematik seiner Grundsätze je- doch in keiner Weise geändert oder gar vermindert, sondern im Gegen- teil in der Wirklichkeit der Praxis verstärkt. Denn viel größer als in der Antike ist heute das Spannungsfeld der Interessen (anspruchsvolle Pa- tienten ohne seelischen aber mit ju- ristischem Hintergrund, zwangsbe- wußt kalkulierende Krankenkassen, gedankenlos fordernde Allgemein- heit, Paragraphen laichender Staat, ideologisierte materialistische Welt- anschauung, allen festen Grund hin-

Hippokrates über Hippokrates

wegspülende Wissenssintflut, infla- tionär verunsicherter Lebens- und Altersunterhalt), in welchem Ärzte arbeiten und ihr Gewissen pflegen müssen.

So dürfen wir aus dem Eid nur den ebenso verblüffenden wie entwaff- nenden Anruf heraushören, ein möglichst anständiger Mensch zu sein. Wollten wir das- kulturgerecht und zeitgeprägt - aber nicht eigent- lich schon immer, privat wie im Be- ruf, soweit es uns das Gesetz noch gestattet, ewig hippokratisch nüch- tern?!

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. habil. August Vogl Grillchaussee 100

2208 Glückstadt

ZITAT

Falsche Weichenstellung

„Die Entwicklung mit einem stärkeren Trend zur Weiter- bildung zum Spezialisten, oft sogar zum Organ- und Sub- spezialisten, beginnt keines- wegs erst am Krankenhaus, wie man vermuten könnte, sondern schon im Studium bei der Zulassung zum Stu- dium aufgrund ungeeigneter Auswahlkriterien Die Fehler dieses Auswahlsy- stems werden dann im Rah- men der Ausbildung an der Hochschule verstärkt. Es wird immer noch zuviel de- tailliertes Spezialwissen ver- mittelt, es fehlt an einer Aus- bildungszieldefinition.

Hier

muß eine Änderung einset- zen!"

Dr. med. Karsten Vilmar (Bremen), Präsident der Bundesärztekammer und 1.

Vorsitzender des Marburger Bundes, beim 1. Deutschen Hausärztetag in Dortmund.

BRIEFE AN DIE REDAKTION

WECHSELDIENSTSYSTEM

Am Kinderkrankenhaus Hamburg-Ro- thenburgsort wird seit zwei Jahren ein sogenanntes Wechseldienstsystem prak- tiziert (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 35/1978, Seite 1956 ff; Heft 41/1978, Sei- te 2373 f). Eine kritische Leserzuschrift ergänzt diesen Beitrag; der Autor des Ursprungsaufsatzes nimmt abschließend Stellung.

Verwunderung

In dem Beitrag „Das Wechseldienst- system im Krankenhaus" hat sich Peter Clemens mit dem Problem der

„Ärzteschwemme" auseinanderge- setzt und ein Modell entwickelt, in dem 12 Ärzte auf 10 Planstellen an- gestellt werden können. Ich kann derartige Modelle nur mit äußerster Verwunderung zur Kenntnis neh- men. Ich habe dafür auch absolut kein Verständnis - genausowenig, wie ich dafür Verständnis aufbringe, daß in zahlreichen Großstädten, wie mir berichtet wird, an junge Ärzte Arbeitslosengeld oder Arbeitslosen- hilfe gezahlt wird, weil sie keine ad- äquate Stelle finden können.

Ich halte dieses Vorgehen der zu- ständigen Krankenhausbehörden oder auch im anderen Falle des zu- ständigen Arbeitsamtes für „kon- traindiziert", so lange noch in zahl- reichen gut qualifizierten Kranken- häusern Planstellen freistehen. Ich muß zum Beispiel trotz überdurch- schnittlicher Bezahlung seit Jahren mit einem Minimum an nachgeord- neten Ärzten zurechtkommen und muß, um Überlastungen zu vermei- den, die Hilfe von Bundeswehrärz- ten im Nachtdienst in Anspruch neh- men, während andernorts Ärzte, die ihre Erstausbildung beendet haben, die aber am Ort ihres ständigen Wohnsitzes eine adäquate Stelle nicht finden können, Arbeitslosen- unterstützung erhalten. Hier eine Änderung des gegenwärtigen Zu- standes herbeizuführen, ist eine vor- dringliche Aufgabe, an der nicht nur Arbeitsämter und Krankenhäuser, sondern auch die Landesärztekam- mer mitzuwirken hätte.

Ein wichtiger Weg, die jungen Ärzte aus ihrer Lethargie und aus ihrem Beharrungsvermögen herauszubrin-

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