• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Hippokrates und sein Erbe" (27.02.1975)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Hippokrates und sein Erbe" (27.02.1975)"

Copied!
7
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Hippokrates und sein Erbe

GESCHICHTE DER MEDIZIN:

Hippokrates und sein Erbe

THEMEN DER ZEIT:

Die Zukunft der Medizin

AUS DER FRAGESTUNDE DES BUNDESTAGES:

Homöopathische Arzneimittel bleiben Teilzeitarbeit bei Arbeitsunfähigkeit Zulässigkeit von psychologischen

Eignungsuntersuchungen Mißbrauch

bei „Peracon"

BEKANNTMACHUNGEN:

Beschlüsse aus der 36. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft gemäß § 19 Arzt/

Ersatzkassenvertrag

PERSONALIA

FEUILLETON:

Alte Gläser aus deutschen Apotheken

Medizingeschichte aus neuer Sicht

Aus Kapitel III: Die hippokratische medizinische Theorie. Der Geist der hippokratischen Medizin. Die Eigenleistung des Hippokrates im Rahmen der koischen Schule:

1. Die zwei Grundformen der hippokratischen medizinischen Theorie

Wir kehren zum Kernproblem unse- rer beiden hippokratischen Vorle- sungen zurück. Es lautete: Welche Stellung nimmt die hippokratische Medizin innerhalb der gesamten medizinischen Entwicklung ein?

Gehört sie noch der Archaik an, oder unterscheidet sie sich grund- legend von dieser durch das Auf- kommen einer neuen Denkform, der wissenschaftlichen medizini- schen Theorie? Um diese Frage zu beantworten, haben wir die Epide- mienbücher III und I und das Pro- gnostikon untersucht und in der hip- pokratischen Pathologie, Klinik und Prognose eine Reihe echter medi- zinischer Lehren erkannt. Läßt sich nun auf Grund dessen unsere an- fangs gestellte Arbeitshypothese

bestätigen? Enthalten diese Leh- ren schon eindeutig medizinische Theorie?

Zweifellos läßt sich solch eine Theorie in jenen Werken nachwei- sen. Sie äußert sich in zwei For- men. Wir verdeutlichen diese, in- dem wir die hippokratische Denk- weise mit der archaischen verglei- chen.

Schon die archaischen Ärzte ha- ben prognostische und therapeuti- sche Einzelbeobachtungen zusam- mengestellt und mehr oder weni- ger sinnvoll geordnet. Die Hippo- kratiker aber schaffen positive me- dizinische Lehrsätze von allgemei- ner Gültigkeit und verbinden sie gedanklich zu regelrechten Lehr- gebäuden. Ein erstes Beispiel da- für entnehmen wir der koischen Nosologie. Für die (abstrakte) Vor- stellung der Krankheitseinheit wird ein Terminus technicus geprägt (vgl. S. 126); zu jeder Krankheits- einheit gehören ein typisches Krankheitsbild und ein typischer Verlauf; zum erstenmal werden An- omalien als solche erkannt und In Kürze erscheint im Deutschen Ärzte-Verlag ein zweibändiges Werk „Geschichte der Medizin". Autor ist Professor Christian Lich- tenthaeler, Hamburg. Der Band 1 ist betitelt: „Vorgeschichte, Antike und Mittelalter", der Titel des Bandes II lautet: „Frühneuzeit, ei- gentliche medizinische Moderne, Zeitgeschichte und Futurologie".

Hier ein Vorabdruck aus dem ersten Band, sechste Vorlesung: Hip- pokratische Medizin II, Kapitel III.

(2)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Hippokrates und sein Erbe

schriftlich festgehalten. Ein ande- res Beispiel gibt uns die hippokra- tische „Doppelprognose" des künf- tigen und des bisherigen Krank- heitsverlaufs. Sie ist kunstgerecht und gültig für alle Kranken, und ihre beiden Komponenten verfol- gen eine jede ihren eigenen Zweck (vgl. S. 148 f.). Als letztes Beispiel führen wir die Prognose des humo- ralen Grundprozesses an mit ihren drei sich gegenseitig ergänzenden Leitsätzen (vgl. S. 147 f.). Kein alt- ägyptischer, kein „mesopotami- scher" medizinischer Text weist ähnliches auf. Aus hippokratischer Sicht verlieren sich die archai- schen Ärzte in Einzelheiten, sie

„ertrinken" im Detail!

Wenn sich die medizinische Ar- chaik um Erklärungen der norma- len und krankhaften Vorgänge im menschlichen Körper bemüht hat, so ist ihr manchmal der erste Schritt dazu geglückt — als be- scheidener Ansatz zu echter medi- zinischer Theorie (vgl. S. 98 ff.).

Aber erst die Hippokratiker haben es fertiggebracht, solche Erklärun- gen zu positiven und zusammen- hängenden Lehren auszubauen. Er- innern Sie sich an die Lehre von der Roheit und Kochung der Krankheitsstoffe: an die Lehre von der Ablagerung, Verlagerung und Ausscheidung der Materia pec-

cans; an die Lehre von den kriti- schen Tagen! Alle diese Erklä- rungsversuche sind noch mit „spe- kulativen Schlacken" verquickt, wir haben es immer wieder betont.

Und trotzdem ist der entscheiden- de Schritt getan: es kommt wenig- stens streckenweise zu folgerichti- gem Ergründen des Krankheitsge- schehens. Rationale Schlüsse wer- den konsequent an der klinischen Erfahrung erprobt. Es stimmt ja wirklich, daß die Säfte bei den ka- tarrhalischen Krankheiten Stufen eines „Reifungsprozesses" durch- laufen. Es trifft auch zu, daß die Krankheitsstoffe im Körper in Be- wegung geraten und sich oftmals an besonderen Stellen festsetzen.

Und es stimmt ebenfalls, daß die Krankheitstage bei den Wechselfie- bern nicht sämtlich gleichbedeu-

tend sind. In allen diesen Fällen haben wir es nicht mehr mit reiner Empirie zu tun: die klinischen Be- obachtungen werden auch verstan- den, und zwar „richtig" verstanden.

Was heißt das? Eine Lehre ist dann als richtig zu bezeichnen, wenn die ihr zugrunde liegenden Vorstellun- gen sich regelmäßig und hand- greiflich bestätigen lassen. Auch dann tappte die Archaik noch völ- lig im dunkeln.

Wir fassen zusammen: die wissen- schaftliche medizinische Theorie erscheint in den Epidemienbü- chern III und I und im Prognostikon in Form von normativen Lehrsätzen und von ausgearbeiteten Deutun- gen einzelner Krankheitsvorgänge.

Beide Formen sind positiv: sie ste- hen im Einklang mit der klinischen Wirklichkeit. In beiden Fällen ist die archaische Spekulation über- wunden. Eine neue Denkform be- ginnt sich in der Medizin durchzu- setzen.

Wir modernen Ärzte haben es be- sonders schwer, uns Wesen und Ausmaß der koischen Leistung vor- zustellen. Die technischen Fort- schritte der heutigen Medizin sind gewaltig und überlaut. Unsere me- dizinischen Theorien stehen auf ungleich höherer Stufe als die hip- pokratischen: im Laboratorium werden sie Schritt für Schritt expe- rimentell untermauert. So neigen wir dazu, der hippokratischen Schule jeden wissenschaftlichen Charakter abzusprechen und sie nicht höher einzuschätzen als die archaischen Medizinformen, die übrigen frühgriechischen Ärzte- schulen und die sogenannte vorso- kratische Naturphilosophie. Entwe- der wir üben Kritik an den hippo- kratischen Lehren, oder unser Lob

— falls wir sie doch bewundern — klingt unglaubwürdig.

Die Bedeutung der hippokratischen Theorie kann uns erst klarwerden, wenn wir die moderne Medizin

„vergessen" und den Lauf der Medizingeschichte von den ersten Anfängen bis zur Zeit des Hippo- krates im Geiste nachvollziehen:

von der magischen Medizin mit

ihrer fingierten, anthropomorphen Krankheitslehre über die archai- sche Empirie und Spekulation bis hin zur hippokratischen Prognose.

Erst wenn wir uns diese Entwick- lung der Medizin Stufe für Stufe vor Augen halten, wird es uns klar:

durch ihre wissenschaftliche Theo- rie — wie wir sie vorhin definiert haben — bedeutet die hippokrati- sche Medizin einen neuen Anfang in der Geschichte des medizini- schen Denkens. Die koische Medi- zin gehört daher nicht mehr zur Ar- chaik, sie eröffnet eine neue Phase der allgemeinen Medizingeschich- te. Aus diesem Grund sprechen wir von einem „Meister von Kos" und bewundern ihn als einen späten Zeitgenossen des Perikles.

Auch in der Medizin bleibt sich der Geist nicht gleich (B. Snell) — wie einstmalige Rationalisten es ge- lehrt haben —, er macht Sprünge, und einer dieser denkwürdigen Sprünge ist die wissenschaftliche medizinische Theorie.

2. Die hippokratische

wissenschaftliche Methodologie Da die Hippokratiker ihre medizini- schen Vorstellungen nicht experi- mentell bestätigten, es aber den- noch zu einer echt wissenschaftli- chen Theorie brachten, schließen wir, daß sich die koischen Ärzte von anderen Denkmethoden leiten ließen als wir heute. Eine unvorein- genommene Prüfung der hippokra- tischen Schriften zeigt, daß dieser Schluß berechtigt ist. Um die Ei- genart der koischen Methodologie zu erfassen, gehen wir von unserer heutigen aus. Die Konturen beider werden dadurch schärfer hervor- treten.

Moderne Medizin ist experimentel- le Medizin. Auch wenn der heutige Arzt nur beobachtet, tut er es in experimentellem Geiste. Er sucht Fakten, zwischen den Fakten Kau- salbeziehungen und hinter den Fakten sogenannte Naturgesetze.

Die Gelbsucht zum Beispiel ist ein wohlbekanntes Faktum. Dieses steht in Beziehung zu mehreren

(3)

anderen Fakten. Der mechanische Abschluß der Galle vom Darm führt zum Ikterus infolge des Übertritts von Gallenfarbstoffen in die Kör- pergewebe. Zum Ikterus kommt es ferner bei Destruktion des Leber- parenchyms, oder wenn das Ange- bot an Farbstoff die Leistung der Leber übersteigt, wie beim hämoly- tischen Ikterus. Unsere heutige Medizin besteht aus Millionen sol- cher Fakten und Beziehungen, die alle experimentell gesichert sind.

Zudem gelten für die moderne na- turwissenschaftliche Medizin die- selben Naturgesetze wie für die moderne Physik, Chemie und Bio- logie. Die Mendelschen Verer- bungsgesetze sind ein sprechen- des Beispiel dafür.

Einer völlig anderen Betrachtungs- weise entspringt die hippokrati- sche Methodologie. Hier gibt es keine experimentellen, gleichsam materiellen Fakten. Maßgebend ist allein die „Erscheinungswelt", die Welt der Phänomene (griechisch phainomenon „Erscheinung").

Das zeigt sich schon an der Art, wie die einzelnen klinischen Zei- chen berücksichtigt werden. Stellt der Hippokratiker zum Beispiel ei- nen Schweißausbruch an einem Patienten fest, dann denkt er nicht

— wie wir es tun — an die chemi- sche Beschaffenheit des Schwei- ßes oder an die Schweißdrüsen mit ihren Gefäßen und Nerven, son- dern er wirft andere Fragen auf: Ist der Schweiß warm oder kalt? Wo tritt der Schweißausbruch auf, am ganzen Körper oder etwa nur am Kopf oder im Nacken? Jedem die- ser „Phänomene" kommt nämlich eine bestimmte prognostische Be- deutung zu.

Das gleiche gilt für die hippokrati- sche Pathologie. Auch hier suchen wir vergeblich nach experimentel- len Fakten; auch hier geben die Phänomene den Ausschlag. Der moderne Forscher will die verbor- genen Ursachen der bereits er- kannten Fakten ausfindig machen.

Zu diesem Zweck stellt er Hypothe- sen auf, die er experimentell zu be- stätigen sucht. Diesen Forschungs-

weg vom Bekannten zum Unbe- kannten nennen wir die experimen- telle Induktion. Der Hippokratiker macht es genau umgekehrt. Er setzt sich nicht als Ziel, in die letz- ten Naturgeheimnisse einzudrin- gen, wie wir es in unseren Labora- torien tun. Sein Forschungsweg

Hippokrates-Büste aus Ostia

führt vom Unbekannten zum Be- kannten. Will er sich einen noch ungeklärten Krankheitsprozeß be- greiflich machen, dann sucht er nach vergleichbaren Prozessen in der ihm vertrauten Welt der Natur, Gesellschaft und Technik, und hat er ein solches Modell gefunden, so gibt er sich mit dieser „Klärung"

zufrieden. Wie werden die Krank- heiten geheilt? Durch — „Ko- chung"! Nach diesem Analogiever- fahren sind auch die anderen Be- griffe der koischen Pathologie ent- standen. So oder so verhält es sich in der Außenwelt, im Makrokos- mos, ergo verhält es sich im „Kos- mos" des menschlichen Körpers, im Mikrokosmos, genauso. Es wird nicht induziert — wie in unseren Laboratorien —, sondern (sozusa- gen unter freiem Himmel) dedu- ziert.

Der Vorsokratiker Anaxagoras von Klazomenai hat diesen For- schungsweg auf eine lapidare For-

mel gebracht. Das Fragment lautet:

„Sicht des Nichtoffenbaren: die Phänomene" (H. Diller). Das will heißen: „Die Welt der Erscheinun- gen bildet den Maßstab für die Er- kenntnis der unsichtbaren Vorgän- ge." Dieser Ausspruch ist für uns von doppelter Bedeutung: er zeigt den vorsokratischen Ursprung der hippokratischen Forschungsmetho- de und weist ausdrücklich auf die

„Phänomene" als Grundlage für diese Methode hin. Nur dem äuße- ren Anschein nach kann der Hei- lungsverlauf einer Krankheit mit ei- ner Kochung oder Reifung vergli- chen werden. Keinem Hippokrati- ker wäre es eingefallen, diesen Vergleich durch stoffliche Analysen zu stützen!

Der französische Physiologe Clau- de Bernard (1813-1878), der sich eingehend mit methodologischen Fragen befaßt hat, bezeichnet die

„Kochung" einmal als eine „Hypo- these" des Hippokrates. Das ist ein lehrreiches Mißverständnis. Hippo- krates hat die Kochung niemals dem Experiment unterzogen. Sie war auch keine Hypothese für ihn, sondern eine auf dem Wege der Analogie gewonnene, durch Erfah- rung tausendfach bestätigte ratio- nale Erkenntnis. Claude Bernard aber übersah diesen Sachverhalt, weil er nur in der eigenen Vorstel- lungswelt folgerichtig zu denken vermochte.

Und noch eine andere Behaup- tung Claude Bernards ist zu berichtigen: er spricht oft von der

„passiven" - Beobachtungsweise der Hippokratiker im Gegensatz zur „aktiven" der modernen Labo- ratoriumsforscher. Das ist zwar nicht eindeutig falsch, bedarf aber der Nuancierung. Die koischen Ärzte waren freilich keine Drauf- gänger; sie hatten nicht den ty- pisch neuzeitlichen Ehrgeiz, die Natur zu „besiegen", und paßten sich fügsam in ihre immanente Ordnung ein. Dennoch standen sie der natürlichen Welt nicht passiv gegenüber. Betrachten wir etwa die hippokratischen Analogien Ko- chung, Krise, Ablagerung: das sind keine bloßen Metaphern! Jedesmal

(4)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Hippokrates und sein Erbe

wird ein Krankheitsprozeß gedank- lich als Ganzes erfaßt; jedes- mal wird ihm ein Sinn zuge- sprochen. In gleicher Weise „aktiv"

ist die koische Prognose: jede Vor- hersage more hippocratico bei ei- nem Einzelpatienten setzt eine un- gewöhnliche denkerische Leistung voraus.

Kehren wir zurück zu den „phaino- mena". Sie bilden die Grundlage nicht allein für das koische Analo- giedenken, sondern auch für ein anderes Verfahren der koischen Methodologie, das die Prognose betrifft. Wir kennen die drei Lehr- sätze des Prognostikons hinsicht- lich der Vorhersage des humoralen Grundprozesses:

a) Man muß auch die anderen klini- schen Zeichen beachten.

b) Die günstigen und ungünstigen Zeichen sind gegeneinander abzu- wägen.

c) Es ist stets zweierlei zu berück- sichtigen: das gesamte klinische Krankheitsbild und die Eigenbe- deutung jedes einzelnen Zeichens bei jedem neuen Fall (vgl. Seite 147 f.).

Als Leitsätze von allgemeiner Gültigkeit sind sie außerdem ein prägnantes Beispiel für die erste Form der hippokratischen wissen- schaftlichen Theorie. Worin aber liegt ihre methodologische Bedeu- tung? Wir haben sie in zwei Eigen- schaften zu suchen, die diesen Leitsätzen gemeinsam sind. Sie be- herzigen, ein jeder auf seine Art, eine Vielfalt von prognostischen Faktoren, und — das ist der sprin- gende Punkt — sie führen den Kli- niker zu einem einzigen und ein- deutigen prognostischen Schluß (etwa: dieser Patient wird sterben, wird gesunden, diese Krankheit wird sich in die Länge ziehen, es wird zu Rezidiven kommen). Dank dieser Methode verdichtet sich also eine bunte Vielheit von Fakto- ren zu einem einzigen und einheit- lichen prognostischen Urteil. Ich nenne dieses methodische Verfah- ren das „Kongruenzprinzip".

Ein moderner Laboratoriumsfor- scher wird sich wahrscheinlich über die „Rückständigkeit" dieser hippokratischen Methodologie ent- setzen. Unsere heutige, ungleich umfassendere und genauere Kenntnis der Natur und des menschlichen Organismus verdan- ken wir der experimentellen Induk- tion und nicht vorsokratischen und hippokratischen Analogieschlüs- sen! Gleichwohl hat auch die expe- rimentelle Methode ihre Grenzen:

sie ist auf Analyse, nicht auf Syn- these gerichtet; sie bringt kausale, nicht finale Beziehungen an den Tag. Vor allem kommt es uns in diesem Zusammenhang gar nicht darauf an, wissenschaftlichen Wert und Leistungsfähigkeit der beiden Methodologien zu vergleichen; es gilt uns vielmehr festzustellen, daß der hippokratischen Krankheitsleh- re und Klinik eine positive und spe- zifische Methodologie zugrunde

liegt. Auch davon finden wir in der Archaik keine Spur.

3. Der Geist

der hippokratischen Medizin Im Anschluß an die hippokratische Theorie und Methodologie betrach- ten wir noch einige allgemeine und charakteristische Züge der koischen Medizin. Auch zwischen der grie- chischen „intellektuellen Idiosyn- krasie" und unserer heutigen be- stehen erhebliche Unterschiede.

Wir werden die koische Schule um so besser verstehen, je mehr wir uns mit ihrer besonderen Denkwei- se vertraut machen.

Der Hippokratiker ist stolz auf je- den neuen Baustein seiner Wissen- schaft, auf jede neue Einzeler- kenntnis, so bescheiden sie sein mag. Andererseits sucht er — wie alle griechischen Denker — in je- der Einzelerscheinung zugleich das Allgemeingültige und -verbind- liche: das Prinzip, das Gesetz, die Norm — auch auf die Gefahr hin, der Spekulation zu verfallen.

Der Hippokratiker begeistert sich an der bunten Vielfalt der Natur.

Ein verblüffendes Beispiel dafür

finden wir im ersten Buch der Epi- demien, in dem es heißt: „Von den Kranken starben vor allem Heran- wachsende, Jünglinge, Männer in jüngeren Jahren, Glatte, Hellhäuti- ge, Leute mit straffen und mit schwarzen Haaren, Schwarzhäuti- ge, Menschen mit leichtsinnigem Lebenswandel, Menschen mit trok- kener und rauher Stimme, Lispeler, Menschen mit erregbarem Tempe- rament ... " Es scheint den Autor geradezu zu treiben, alle diese ver- schiedenen Krankentypen aufzu- zählen. Dasselbe Epidemienbuch enthält aber auch Angaben von mathematischer Genauigkeit über die Krisentage der Dreitagefieber.

Es wird also beides beachtet: das übermütige Spiel der Natur und ihr Ordnungswille.

Der koische Arzt ist einerseits vor- sichtig-zurückhaltend und abwä- gend, andererseits von erstaunli- cher wissenschaftlicher Kühnheit.

Wird ihm etwa am Krankenbett ver- dächtiger Harn gezeigt, so beurteilt er ihn nicht vorbehaltlos im Kalkül seiner Prognose, sondern mit Skepsis: es könnte ja der Harn ei- ner anderen Person oder gar der eines Haustieres sein! Überhaupt stellt sich der Hippokratiker die verschiedensten Fragen prognosti- scher und anderer Art und weiß dabei sehr wohl, daß nicht alle lös- bar sind. Aber nicht minder reizt es ihn, gewagte Gedankensprünge zu versuchen. So wissen wir zum Bei- spiel, daß der hippokratische Krankheitsprozeß durch die „Abla- gerung" der Materia peccans zum Abklingen kommen kann. Für den Hippokratiker vermag aber auch eine zu dem bestehenden Leiden neu hinzukommende zweite Krank- heit (Viertagefieber, Ruhr unter anderen), jenem als „Ablagerung"

zu dienen und es auf diese Weise zur Heilung zu bringen. Der Begriff der Ablagerung ist hier unbeküm- mert auf eine ganze Krankheit aus- gedehnt worden.

Bei alledem stoßen wir auf eine ty- pische Geisteshaltung: man tut das eine, aber auch das andere. Das

(5)

Schlüsselwort dieser Denkart heißt nicht Entweder-Oder, sondern So- wohl-Als-auch. Dieses Prinzip der

„Harmonie der Gegensätze" (Con- cordia oppositorum) haben die Hippokratiker von den Vorsokrati- kern übernommen. Wenn wir heute auf solche Gegensätze treffen, wer- den wir skeptisch und versuchen, sie zu beseitigen; und wenn sie nicht auszugleichen sind, so „ver- drängen" wir sie. In unsere, von Scholastik und Rationalismus ge- prägte Denkweise passen sie nicht hinein. Der Grieche hingegen er- götzt sich an solchen polaren Spannungen; er hat nicht nur den Syllogismus, sondern auch das Pa- radoxon erdacht! Für ihn kommen die einzelnen gegensätzlichen Standpunkte gerade durch ihre Wi- dersprüche zu voller Geltung.

Er bewundert zwar das geordnete,

„kosmische" Wesen der Natur; er sucht sogar in den Krankheitspro- zessen eine natürliche Ordnung, einen „Kosmos" nachzuweisen (zum Beispiel in den Wechselfie- bern). Dennoch sind ihm die ech- ten Gegensätze nicht weniger maßgebend: sie reißen alles Sein in ihre Problematik hinein — und versöhnen es am Ende wieder ge- heimnisvoll mit sich selbst.

Noch andere Gegensätze als die schon erwähnten haben die Hippo- kratiker herausgestellt und ge- pflegt. Diese Ärzte haben einen of- fenen Sinn für die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt und nehmen auch viel fremdes und buntes Ge- dankengut in ihre Lehre auf. Aber sie verfallen darum weder dem blassen Eklektizismus noch der Zersplitterung. Ihr Leitwort heißt:

Einheit in der Vielheit.

Es kommt darin ein ausgeprägter Sinn für Geschlossenheit zum Aus- druck, der dennoch dem Fortschritt nicht entgegenwirkt. Das Ziel ist Kohärenz, aber bei offener Den- kungsart, die erfrischend absticht von der Starre späterer medizini- scher „Systeme".

Für die Hippokratiker ist der ewige Wechsel der Jahreszeiten, der

nach ihrer Anschauung die epide- mischen Krankheiten verursacht, ein Stück „Natur". Aber dieser ätiologische Faktor wird in der Schrift „Über die Umwelt" und wahrscheinlich auch im Progno- stikon ebenfalls als ein „Göttliches (im Griechischen theion) bezeich- net.

Wiederum schließt eins das andere nicht aus: natürliche Ordnung ist zugleich göttliche Ordnung. Das deutet auf einen höheren Begriff des Göttlichen hin, den Deichgrä- ber als erster erkannt hat. In der primitiven und archaischen Welt war das Göttliche vor allem das Unvorhersehbare, das für den Men- schen Unverständliche und Be- drohliche. Im Griechenland des 5.

Jahrhunderts aber vertieft und läu- tert sich die Religiosität. Deichgrä- ber schreibt: „Wunderbar ist eben jetzt nicht nur das Einmalige, scheinbar Singuläre, sondern gera- de auch das Regelmäßige." Und die Magie wird als Betrug be- kämpft.

Die medizinische Lehre der koi- schen Schule erscheint manchmal in schönem sprachlichen Gewand.

Darin äußert sich ein ästhetischer Sinn, der wahrscheinlich für Hippo- krates selbst charakteristisch ist.

Wahrheit verbindet sich mit Schön- heit. Einzelne Stellen des III. Epide- mienbuches sind geradezu Muster sophistischer Schreibkunst. Jedes Wort ist mathematisch genau auf das andere abgestimmt.

Diese Schriften offenbaren auch eine vortreffliche Gesinnung. Das Wahre schließt einen Bund mit dem Guten. Und wenn sich Hippo- krates selbst nur selten über seine moralischen Imperative äußert — allenfalls geschieht es in den chir- urgischen Schriften —, so ist auch dieser Wesenszug kennzeichnend für das Perikleische Zeitalter: das Werk spricht für sich selbst! (Die sogenannten ethischen Schriften der Hippokratischen Sammlung ge- hören fast alle in Wirklichkeit der redseligen hellenistischen Zeit an.)

Vielleicht trifft man die echte koi- sche Art am besten mit dem Wort

„Achtung". Der Hippokratiker hat Achtung vor dem Kranken, dem ge- holfen werden muß, nicht aus Barmherzigkeit und Nächstenliebe

— diese Empfindungen entstehen bei den Ärzten erst mit dem Spät- hellenismus und dem Christentum

—, sondern als verantwortungsbe- wußter Könner seiner Kunst. Auch seinem Beruf bringt er Achtung entgegen; die Kniffe und Ränke der Scharlatane lehnt er tadelnd ab;

schlicht und wirksam will er sein.

Und Achtung hat er vor der ärztli- chen Kunst; im 1. Epidemienbuch bezeichnet er sich als ihr „Diener'.

Eine ähnliche Ethik liegt dem be- rühmten „Eid des Hippekrates" zu- grunde, der aber nicht sicher zu den echten Schriften gehört. Louis Borgey hat tiefsinnig von einer hip- pokratischen „Weisheit" gespro- chen.

Und wie die homerischen Helden

„wohlberedt in Worten und rüstig in Taten" waren, so betrachten auch Hippokrates und seine Schü- ler die ärztliche Praxis als Krönung ihres medizinischen Denkens.

Sie bilden sich freilich zu eifrigen Theoretikern heran, aber stets im Hinblick auf ihre praktische Tätig- keit am Krankenbett. Typisch für diese Einstellung ist der Hauptab- schnitt des III. Epidemienbuches:

er berichtet ausschließlich von Pa- thologie und Klinik verschiedener epidemischer Krankheiten; sein letztes Wort aber lautet: „diaitan", die Diät verabreichen. Es gilt der Praxis; auf sie kommt es letztlich an. Dieser Einklang von Theorie und Praxis kennzeichnet die höch- ste denkbare Stufe griechischer medizinischer „Technö".

4. Die Eigenleistung des Hippokrates

innerhalb der koischen Medizin Wir haben bis jetzt von der koi- schen Medizin, der koischen Schu- le, von den koischen Ärzten, den Hippokratikern gesprochen. Was

(6)

Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Hippokrates und sein Erbe

ist es nun, was Hippokrates selbst zur koischen Medizin beigesteuert hat; warum trägt sie seinen Na- men?

Seit mehr als hundert Jahren ha- ben sich die Medizinhistoriker die- se Frage immer wieder gestellt.

Ihre Antworten aber sind weder einheitlich noch stichhaltig, wie sich leicht zeigen läßt. Die klini- sche Beobachtung des Hippokra- tes wurde als original empfunden;

scharf beobachtet haben aber schon die Altägypter und die „Me- sopotamier"! Auch die „klinische Erfahrung" des Hippokrates ist nichts grundsätzlich Neues: das bezeugen unter anderem die ar- chaischen Rezeptsammlungen. Es ist auch falsch, den Meister von Kos als den Vater der medizini- schen Prognose hinzustellen: auch diese Kunst war der Archaik be- kannt und wurde in den orientali- schen Reichen — und in Knidos fleißig betrieben. Selbst echte koi- sche Errungenschaften, wie das Prinzip der heilenden Kraft der Na- tur und die Individualprognose, treffen nicht den Kern der hippo- kratischen Originalität. Vergeblich haben die Modernen danach ge- sucht.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch das Paradox, wieso in den klassischen Lehrbüchern der Medizingeschichte der Meister von Kos im Hippokrateskapitel zwar gerühmt, seine Lehre im Re- naissance-Kapitel jedoch heftig angegriffen wird. Den modernen Medizinhistorikern ist der wahre Zugang zu den hippokrati- schen Schriften verschlossen ge- blieben.

Trotzdem ist von alters her von der

„hippokratischen" Medizin gespro- chen worden. Um für diese gewiß nicht zufällige Tatsache eine be- friedigende Antwort zu finden, neh- men wir den Umweg über die Hy- pothese.

Nach Platons Worten war Hip- pokrates ein koischer Asklepia- de. Der koische Meister lernt und

lehrt also innerhalb einer Ärztedy- nastie. Das verbürgen ebenfalls die

„echten" Schriften der Hippokrati- schen Sammlung, die internisti- schen wie die chirurgischen: wie hätte auch ein Arzt allein eine der- art reiche und vielfältige Erfahrung sammeln können! Hippokrates war mithin nicht der „Gründer" der koi- schen Medizin. Seine epochale Lei- stung liegt vermutlich in einer

„Neubegründung": er baute die wissenschaftliche Theorie in die koische Medizin ein.

Bemerkenswert in diesem Zusam- menhang ist die ruhige Autorität und die gelassene Sicherheit des Prognostikers Hippokrates. Der Autor der Epidemienbücher ist we- der zaghaft noch überheblich.

Er gibt offen zu, daß auch ihm gele- gentlich prognostische Fehler un- terlaufen. — Nur große Geister (magna ingenia), bemerkt richtig Celsus, können es sich erlau- ben, ihre Fehler freimütig zu- zugeben.

Bornierte Sophisten irren sich nie!

— Woher aber schöpfte Hippokra- tes diese Zuversicht, wie sie uns insbesondere im ersten und letz- ten Kapitel des Prognostikons auf- fällt? Wo liegt der Schlüssel dazu, wenn nicht in der prognostischen Methodologie und der (wenigstens zum Teil) positiven Pathologie — also in der Theorie? der archaische Prognostiker sagte am Krankenbett nur voraus, daß dies oder jenes eintreten würde; versuchte er sich an Erklärungen, so bleiben diese spekulativ oder gar magisch.

Hippokrates aber entwickelt eine zusammenhängende Lehre der Pro- gnose und weiß überdies durch seine Einsicht in den Krankheits- prozeß, warum dies oder jenes ein- treten wird. Und vor allem: er weiß es zum erstenmal „richtig": seine Erklärungen werden — zumindest teilweise — durch die klinische Er- fahrung bestätigt.

Darin liegt ein grundsätzlicher Fortschritt, der sich auch in einer neuen ärztlichen Gesinnung spie-

gelt. Nichts in den alten orientali- schen Schriften läßt diese neue und höhere Erkenntnisstufe auch nur ahnen! So stellt sich das „grie- chische Wunder" dem Medizinhi- storiker dar. Thukydides, ein Zeit- genosse des Hippokrates, strebte ähnliches in der Geschichtsschrei- bung an. Auch bei ihm treffen wir auf das unablässige Bemühen um wissenschaftliche Durchdringung der konkreten Tatbestände und — als beglückendes Ergebnis dieses Ringens — auf die souveräne Se- kurität des Urteils.

Der frühe Ruhm des Hippokrates bestätigt unsere Hypothese. Thu- kydides hat allem Anschein nach seine „Athenische Pest" unter dem Eindruck der Epidemienbücher III und I und des Prognostikons ge- schrieben. Platon nennt Hippokra- tes in einem Atemzug mit Praxite- les und Phidias; Aristoteles führt ihn als Beispiel menschlicher Grö- ße an.

Freilich ließe sich einwenden, ein nur erfolgreicher Praktiker hätte ebenfalls zu solchem Ruhm gelangen können. Es ist jedoch wahrscheinlicher, daß die beispiel- lose Autorität des Hippokrates durch seine im vorhergehenden dargestellte geistige Leistung be- gründet wurde. Schon die Antike hat ihn den ersten „Dogmatikos"

genannt!

Betrachten wir diese geistige Lei- stung kritischer. Mit der hippokrati- schen Medizin beginnt eine neue Hauptphase der Medizingeschich- te. Damit ist jedoch nicht gemeint, daß die archaische Spekulation von der wissenschaftlichen medizi- nischen Theorie des Hippokrates endgültig ausgerottet worden sei.

Das bekannte Wort des Celsus, Hippokrates habe die Medizin von der Philosophie getrennt (medici- nam ab studio sapientiae separa- vit), wirkt in dieser Verbindung nur verwirrend. Nein, die Spekulation blüht weiter, sogar in der Hippo- kratischen Sammlung, sogar bei Hippokrates selbst! Die Sachlage ist verwickelter und spannender: in den Epidemienbüchern III und I

596 Heft 9 vom 27. Februar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(7)

Fortsetzung und Schluß

Dies aber ist nun der Grund, war- um ich den „physischen Optimis- mus" durch einen „psychologischen Pessimismus" ersetze: Es ist nir- gends eine Kraft zu erblicken, wel- che Mentalitäten ändert. Höchstens der physische Zwang der Diktatur scheint das zu können. Die Hoff- nung einiger optimistischer Sozio- logen, es gelte, Änderungen der Gesellschaft einzuführen, welche die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheit und gesundheits- schädigendem Verhalten mindern, ist völlig utopisch. Ein Rezept hier- zu ist nirgends zur Hand. Mir scheint daher das verbreitete Zu- kunftsbild wenig realistisch, die wachsenden technischen Erfolge der Medizin, der Medizin in Chrom und Lack sozusagen, würden wei- ter zu steigern sein. Sie werden vielmehr im Integral die Schäden, die außerhalb ihres Wirkungsbe- reichs entstehen, nicht kompensie- ren. Das gleiche trifft auf die Phar- mazie zu. Der Nutzen der Pharma- ka wird heute schon durch Neben- wirkungen erheblich einge- schränkt. Fast alle spektakulären pharmazeutischen Erfolge (zum Beispiel der Antibiotika, der Ne- bennierenrindenhormone) erwei- sen sich auf die Dauer begrenzt in ihrer Wirkung und voller Probleme durch Arzneimittelschäden. Zwar retten wir zahllose Menschenleben mit Hormonsubstitution oder Infekt- abwehr. Aber es gehen andere Menschen an Sekundärphänome- nen zugrunde. Nicht als ob wir auf die Erfolge solcher Therapie ver- zichten sollten oder könnten. Kein Gedanke daran, die pharmazeuti- sche Industrie stillzulegen. Aber allzu große Zukunftshoffnungen hinsichtlich einer weiteren Steige-

rung unserer Lebenschancen sind nicht mehr berechtigt. Die pharma- zeutische Forschung ist längst in das Stadium eines beginnenden gi- gantischen Leerlaufs eingetreten.

Wenn also die Kosten aller Neuent- wicklungen (gerade auch in der Pharmaindustrie!) ständig steigen, so wird man voraussagen können, daß endlich der Durchschnittsbür- ger nicht mehr bereit sein wird, steigende Anteile seines Verdien- stes für sinkende medizinische Effi- zienzen zu opfern, vor allem, wenn andere Heilsapostel paramedizini- scher Art billigere und vielleicht sogar wirkungsvolle Konzepte an- bieten.

Vor diesem Hintergrund erschei- nen einige unserer Zukunftsproble- me sekundär, wie das klassenlose Krankenhaus, die finanzielle Lage der Ärzte, das Problem der ärztli- chen Versorgung überhaupt. So dringend Reformen hier wären (die durchzuführen ebenfalls, getreu nach Hans Habe, die Intelligenz der Beteiligten nicht ausreicht): Die personell-finanziellen Fragen wer- den weit überschattet vom Mangel an medizinischen Diensten einfa- cher Art. Insbesondere Kranken- schwestern, doch auch technische Assistenten, Gymnasten, Physio- therapeuten werden seltener. Ihre Standesorganisationen bemerken die politische Macht, die durch die- sen Mangel begründet wird: Sie werden bald Verdienste fordern, welche das finanzielle Prestige der Ärzte entscheidend bedrohen.

Gleich ob eine politische Soziali- sierung kommt oder nicht: Die Ver- staatlichung der Gesundheitsdien- ste löst meines Erachtens keines dieser Probleme, aber die kalte So- wie im Prognostikon durchbricht

die wissenschaftliche Theorie erst- mals die überkommene und unge- nügend kontrollierte Vorstellungs- welt der medizinischen Archaik in Krankheitslehre, Klinik und Pro- gnose.

Es ist dies ein erster bemer- kenswerter Vorstoß, und er beein- druckt uns heute auch dort noch, wo er nicht in allem von Erfolg ge- krönt wird. Wegbereiter zu dieser Leistung waren zwei Jahrhunderte lang einige „Politologen", Physio- logen, Mathematiker und auch Ärz- te gewesen, deren Schriften leider entweder verschollen oder nur bruchstückhaft erhalten sind. Aber erst aus dem Werk des Hippokra- tes läßt sich unmißverständlich er- kennen, daß der wissenschaftliche Logos auch in die Medizin einge- drungen ist.

Darin liegt die wahre Bedeu- tung der Epidemienbücher und des Prognostikons — trotz aller Mängel, die wir uns nie verhehlt haben.

Hippokrates hat in diesen Schriften ein Zusammenwirken von wissen- schaftlicher Theorie und Empirie angestrebt und teilweise auch er- reicht, das von späteren Ärzten als vorbildlich empfunden worden ist, sogar von solchen, die die hippo- kratische Herkunft dieses Ideals längst vergessen hatten. Wir erblik- ken darin das Urbild der abendlän- dischen Medizin oder deren „Idee"

im platonischen Sinn. Aus diesem Grunde wäre es angebracht, wenn die medizinische Fakultät den ech- ten hippokratischen Schriften die- selbe Bedeutung zuerkennte wie die rechtswissenschaftliche Fakul- tät sie dem römischen Recht ein- räumt. Hippokrates ist zwar nicht der „Vater der Medizin" — wie oft behauptet wurde —, wohl aber der Vater der wissenschaftlich-theore- tischen Medizin.

Professor Christian Lichtenthader (Vorabdruck aus dem in Kürze im Deutschen Ärzte-Verlag erscheinen- den Buch „Geschichte der Medi- zin".)

Die Zukunft der Medizin

Hans Schaefer

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Jugendarbeitsschutzuntersuchung: Sie muss innerhalb der letzten 14 Monate vor Beginn der Ausbildung durchgeführt worden sein und ist ein Jahr nach Auf- nahme der Ausbildung

Der Eingriff kann also nicht zum Erfolg führen, wenn die Beschwerden des Patienten vor allem bedingt werden durch: ¿ einen frei in den Wirbelkanal sequestrier- ten Prolaps ohne

Keine einzige läßt sich ein- deutig Hippokrates selbst zu- ordnen, sehr unwahrschein- lich ist dies für den sogenann- ten „Eid“, der keine züchtige, sondern eine züchtigende

Auf 340 Textseiten mit ei- nem qualitativ guten Bildan- hang ist es den Autoren ge- lungen, das gesamte Spek- trum maligner und benigner hämatologischer Erkrankun- gen für

Wartezeiten bis zu einem Jahr gibt es in 2,7 Prozent der Arztpraxen, länger als ein Jahr zu warten heißt es bei 1,4 Prozent der Praxen.. Zwi- schen Kassen- und Privatpra- xen

Mit dem Vorschlag der Kommis- sion der Europäischen Union für ei- nen dritten Aktionsplan „Europa ge- gen Krebs" ist erstmals eine Maßnah- me im Bereich der öffentlichen

■ In konkreten Fällen, die keine Notfälle sind und für die sich in der Interpretationshilfe keine Regelung findet, muss immer eine Kostenzusage VOR der ent- sprechenden

Wenn Krankheit aber das Leiden eines Menschen mit Bewusstsein, Sprache und sozialen Beziehungen bedeutet, dann muss das Therapieziel die Bereiche des Sozialen,