KÖRPERBILDER: VINCENT VAN GOGH (1853–1890)
Brutalität der Selbstverletzung
D
ie Geschichte ist so makaber wie mysteriös, denn van Gogh selbst hat nur wenig über die Vorfälle in der Nacht des 23. Dezember 1888 preisge- geben. Doch so viel scheint klar: Nach einem heftigen Streit mit dem Maler Paul Gauguin, mit dem er seit zwei Monaten in Arles seinen Traum einer Künstlerge- meinschaft verwirklicht hatte, schnitt sich der nervlich zerrüttete und betrunkene van Gogh mit dem Rasier- messer ein Stück seines Ohrs ab. Danach rannte er los, um Gauguin zu suchen, der, wie er glaubte, für immer gegangen war. Sein verstümmeltes Ohr hatte er einge- wickelt in Zeitungspapier dabei, um Gauguin „zu zei- gen, was für ein schrecklicher Preis entrichtet worden war“, so die spannende Biografie von Naifeh/Smith.Als er Gauguin auch in dessen bevorzugtem Bordell nicht fand, drückte er das blutige Paket einer Prostitu- ierten in die Hand und schleppte sich nach Hause. Erst am nächsten Tag kam er ins Krankenhaus.
Im Selbstbildnis, heute im Besitz der Londoner Courtauld Gallery, zeigt er sich mit bandagiertem rech- tem Ohr und mit Mantel und Pelzmütze gegen die Janu- arkälte gewappnet. Nur im schmalen Gesicht und der Mütze krümmen sich seine typischen langen vertikalen Pinselstriche. Rechts von ihm weist ein Druck Sato To-
rakiyos, der sein Atelier schmückte, auf seine Japan- Faszination hin. Die leere Leinwand links mag andeu- ten, dass von diesem Künstler noch mehr Bilder zu er- warten sind. Van Gogh malte sich um den 7./8. Januar direkt nach seiner Entlassung aus dem Spital. Dafür hatte er kämpfen müssen, denn angesichts der Brutali- tät seiner Selbstverletzung und seiner wahnhaften An- fälle, die bis zum Jahresende andauerten, wollten ihn die Ärzte in eine der Irrenanstalten in Aix oder Mar- seille einweisen. Auch den Bruder Theo in Paris galt es zu beschwichtigen: „Um Dich völlig über meinen Zu- stand zu beruhigen, schreibe ich Dir diese Zeilen“, be- ginnt einer seiner Briefe im Januar. Dieselbe Absicht, die Dramatik seines Zustands herunterzuspielen, ver- folgte er offenbar auch mit seinem Porträt und dessen zweiter Version, einer Dauerleihgabe der Reederfamilie Niarchos im Kunsthaus Zürich. Die kürzlich publizierte These, Gauguin habe van Goghs Ohr im Streit mit sei- nem Degen abgehauen, erklärten Van-Gogh-Experten jedenfalls für unhaltbar. Sabine Schuchart
AUSSTELLUNG Permanente Aus - stellung The Courtauld Gallery, Raum 7, Somerset House, Strand, London;
www.courtauld.ac.uk tgl. 10–18 Uhr
LITERATUR
Naifeh S, White Smith G: „Van Gogh: Sein Leben“, geb. Ausgabe, 1 216 Seiten, S. Fischer 2012; 34 Euro
Vincent van Gogh: Selbstporträt mit verbundenem Ohr, 1889, Öl auf Lein- wand, 60 × 49 cm: Der Verband über dem rechten Ohr weist auf die frische Verletzung hin, van Goghs durchdringende Augen bli- cken stoisch, schicksalsergeben ins Leere.
So porträtierte sich der Künstler in seinem Atelier kurz nach seiner Selbstverstümme- lung, nachdem er gerade aus dem Kranken- haus entlassen worden war.
© Samuel Courtauld Trust, The Courtauld Gallery, London
S C H L U S S P U N K T
[52] Deutsches Ärzteblatt