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Archiv "Schwerkranke, Lebensqualität und finanzielle Engpässe" (10.11.1988)

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Schwerkranke, Lebensqualität und

finanzielle Engpässe

Rudolf Gross

und Axel Hoffmann

I I. Okonomische Grundlagen

Seit einigen Jahren wird die ge- sundheitspolitische Diskussion von der Kostensteigerung im Gesund- heitswesen bestimmt Vor allem in den 70er Jahren gab es zum Teil zweistellige Zuwachsraten, so daß die Ausgaben schneller anstiegen als das Bruttosozialprodukt. Das hat in fast allen Ländern politische Reak- tionen ausgelöst und in der Bundes- republik u. a. zu den Kostendämp- fungsgesetzen seit 1977 geführt. Es kam zur Einrichtung der Konzertier- ten Aktion im Gesundheitswesen, die ihrerseits Ende 1985 einen Sach- verständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ins Leben gerufen hat. Der Rat hat mit seinem im Februar 1988 dem Bun- desminister für Arbeit und Sozial- ordnung überreichten Gutachten die im vorigen Jahr begonnene Be- standsaufnahme der verschiedenen Sektoren abgeschlossen. Die beiden Berichte sind im „Nomos-Verlag"

Baden-Baden erschienen; ihre Lek- türe kann Ärzten nur empfohlen werden.

Hier seien einige wenige Zahlen genannt, welche die Dynamik der Entwicklung kennzeichnen können:

Setzt man das Volkseinkommen pro Kopf für 1970 auf 100, so hatte es bis 1984 251 erreicht; die Ausga- ben der gesetzlichen Krankenversi- cherung für Arznei-, Heil- und Hilfs- mittel (rund 15 Prozent der Gesamt- ausgaben) stiegen im gleichen Zeit- raum auf 392 pro Kopf der Bevölke- rung, für die GKV-Versicherten auf 421 (ohne Arzneimittel in den Kran- kenhäusern). Dabei ist nach einer Überverdoppelung von 1970 bis 1978 (von 4,2 auf 10,6 Milliarden

DM) ein langsamer, aber stetiger Anstieg bis 1984 zu verzeichnen (=

15,5 Milliarden DM). Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversiche- rung im stationären Bereich stiegen von 1972 bis 1984 von rund 9,4 Mil- liarden DM auf rund 35,1 Milliarden DM. In den USA stieg der Anteil der Intensivstationen an den Kran- kenhauskosten zwischen 1965 und 1979 von 20 Prozent auf 68 Prozent (14).

Wir sind weder kompetent, noch ist hier der Platz, die ökonomi- sche und soziale Relevanz dieser Zu- wachsraten zu diskutieren. Sinn die- ser Übersicht, deren vielschichtiger Problematik wir uns bewußt sind, ist vielmehr, einige in den medizini- schen Zeitschriften, vor allem der USA — auch hier einem Vorreiter der Probleme —, verstreuten Berich- te anzusprechen, berechtigte oder unberechtigte Ansprüche an die Ärzte zu erörtern und einige, insge- samt vielleicht gering ins Gewicht fallende, aber das berufliche Ethos berührende, Fragen zu erörtern.

Unsere Meinungen und Schlußfolge- rungen sind subjektiv, die wiederge- gebenen Fakten und Zitate (letztere als solche) objektiv.

II. Ursachen

des Kostenanstiegs

Die Ursachen des Kostenan- stiegs sind vielfältig, die Liste wahr- scheinlich unvollständig.

0 An erster Stelle steht in den meisten Staaten die höhere Bevölke- rungszahl. Diese spielt zwar in der Bundesrepublik nach den Schätzun- gen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2000 keine Rolle. Im Gegenteil dürfte durch den Gebur-

tenrückgang eine leichte Abnahme stattfinden. Doch sind die Schätzun- gen über Umsiedler und Flüchtlinge

— entgegengesetzt wirksam — von den politischen Entwicklungen ab- hängig und schwer absehbar. Nach den Schätzungen des Bureau of Cen- sus (8) für die amerikanischen Präsi- denten (7) betrug die Weltbevölke- rung 1975: 4,09 Milliarden; im Jahre 2000 werden 6,35 Milliarden erwar- tet mit Zuwachsraten in den entwik- kelten Ländern von 20 bis 30 Pro- zent, in den unterentwickelten Län- dern von 70 bis 80 Prozent. Es ist verständlich, daß damit auch eine entsprechend größere Zahl von Kranken — aus unterentwickelten Gebieten zusätzlich als Flüchtlinge — in der Bundesrepublik Deutschland ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt Es dürfte kaum möglich sein, eine

„Hochleistungsmedizin" für den größeren Teil der Weltbevölkerung zur Verfügung zu stellen.

0 Längere Lebensdauer bedeu- tet in zweifacher Hinsicht mehr In- anspruchnahme medizinischer Lei- stungen: einerseits durch die ver- mehrten Lebensjahre als solche, an- dererseits durch die verstärkte Krankheitsanfälligkeit im höheren Alter. In den USA waren 1950: 8,1 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre, 1960: 9,2 Prozent, 1977: 10,9 Prozent (6). Evans (6) kam zu der bösen Formulierung: „Die Bedürf- nisse dieser alternden, chronisch kranken und arbeitsunfähigen Men- schen zu befriedigen, hat zu einer kostspieligen und ausgetüftelten (so- phisticated) Technologie geführt."

Diese Technologie wird be- günstigt durch die häufig multinatio- nalen Gerätehersteller, die aus lega- len und normalen Gründen am Um- satz ihrer Entwicklungen interessiert sind.

A-3140 (28) Dt. Ärztebl. 85, Heft 45, 10. November 1988

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Ähnlich sieht es mit den Arzneimitteln aus. Jeder versteht, daß die billigsten Handelspräparate die Krankenkassenausgaben sen- ken. Uns erscheint dies allerdings als einseitige und kurzsichtige Maßnah- me. Hier wäre eine Arzneimittelpo- litik mit mehr Augenmaß und Aus- gewogenheit erforderlich. Abgese- hen von der oft recht unterschied- lichen Bioverfügbarkeit und Phar- makokinetik — die meist bei den teu- ren Spezialitäten am besten ist — soll- te unter diesen Einsparungen nicht die forschende Industrie leiden. Die Bundesrepublik Deutschland ist (noch) der größte Arzneimittelex- porteur der Welt mit einem (staat- lich nicht subventionierten) Devi- senüberschuß von etwa 4 Milliarden DM/Jahr und einem Pro-Kopf-Arz- neimittelverbrauch von etwa der Hälfte Frankreichs oder Italiens (15). Langfristig sind Devisenüber- schüsse und Arbeitsplätze nur von denen zu erhalten, die selbst neu entwickeln und sich nicht auf Kon- fektionierung im Großhandel billig erworbener Produkte beschränken Auch ist die Schutzzeit für die neu entwickelten Präparate — allerdings nur wirkliche „Novitäten"! — zu kurz, wenn man heute für den Weg von der Entwicklung im Reagenz- glas bis zur Apothekenfertigkeit et- wa 8 bis 12 Jahre rechnet.

Die bekanntgewordenen Inve- stitionen in den USA und in Japan sowie die Verlegung ganzer Ent- wicklungen durch deutsche und schweizerische Firmen in die USA sind hier ein Menetekel! Es besteht die Gefahr, daß eine kurzfristige Einsparung durch billige Generika zu unübersehbaren Folgen für die exportintensive deutsche Pharmain- dustrie führen.

Auf alle diese kostentreiben- den Faktoren haben, wenn über- haupt, allenfalls die Politiker Ein- fluß. Der Beitrag der Ärzte ist an an- derer Stelle gefragt. Dazu gehören:

Indikation, Art und Dauer der Be- handlung auf Intensivstationen, Art und Ausmaß der technologischen Untersuchungen, Verordnungsge- wohnheiten sowie, wie Iglehart (7) es nannte, methodisch ein „chaoti- scher Pluralismus". Und dies ge- schieht, obwohl es heute für fast alle

Krankheiten diagnostisch-therapeu- tische Empfehlungen gibt, deren Nutzen in randomisierten Studien erwiesen wurde oder die wenigstens einem allgemein anerkannten Stan- dard entsprechen. Dabei sind in bei- de Gruppen alle Todesfälle — nicht nur die vom Statistiker (subjektiv) dem neuen Medikament zugeordne- ten — einzubeziehen: Die Differen- zierung ist für den Sterbenden ohne Bedeutung und manchmal schwer zu erkennen (3).

In den USA stieg die Zahl der Laboruntersuchungen bei einem perforierten Appendix von durch- schnittlich 5,3 im Jahr 1951 auf 31,0 im Jahr 1971 (6). Paradoxerweise hat die Zahl der Fehldiagnosen, wie Goldmann (10) in einer sorgfältigen Studie anglo-amerikanischer Zeit- schriften feststellen konnte, trotz neuer Techniken in den letzten Jahr- zehnten kaum abgenommen (Lit.

bei 11).

Das deckt sich mit einer Analy- se der Doktorandin Frau Dr. Pietsch (12): Sie stellte an 700 unausgewähl- ten internistischen und chirurgischen Patienten mit 19 200 technischen Untersuchungen fest, daß Anamne- se, unmittelbarer Befund, dazu ein kleines technologisches Basispro- gramm in 23 Prozent zu pathologi- schen Befunden führte, gezielte (dis- kriminierte) weitere Untersuchun- gen bei 29 Prozent, ein indiskrimi- niertes breites technologisches Pro- gramm nur bei 2,1 Prozent. Uner- wartete Befunde durch technische Methoden fand sie 21mal unter ih- ren 700 Patienten, das heißt bei rund drei Prozent. Dafür waren im Durchschnitt 322 indiskriminierte Untersuchungen pro Diagnose er- forderlich — mit anderen Worten: ein Kostenaufwand pro Diagnose von 800 bis 1000 DM.

Das heißt - Anamnese, unmittel- bare Untersuchung und ein überall durchführbares Basisprogramm blei- ben unverändert die Grundlage der Diagnostik, gestützt auf Erfahrung, Wissen, Intuition und Logik. Diesen folgen diskriminierte (bestätigende, ausschließende, therapie-b estim- mende technologische) Untersu- chungen. Auch nach Evans (6) be- ruht ein wesentlicher Teil der Ko- stenlawine auf indiskriminierten

technischen Untersuchungen. Nach Bayer und Mitarbeitern (2) fallen dabei für grundlegende Untersu- chungen, wie das Computertomo- gramm, weniger Kosten an als für

„viele kleine Teste", die letztlich nur bereits erkannte Funktionsstörun- gen bestätigen, aber nicht oder un- wesentlich erweitern. Dies gilt in ge- ringerem Maße für Multikanal-Ana- lysatoren, die auch ungefragte Be- funde, etwa in der klinischen Che- mie, auswerfen (und damit die Ko- sten und letztlich auch den Personal- aufwand ohne wesentlichen Beitrag zur Differentialdiagnose in die Hö- he treiben), mehr für kosten- und personalintensive Untersuchungen (zum Beispiel in der Immunologie oder in der Bakteriologie).

Viele Kollegen ordnen diagno- stisch aus gedankenloser Routine oder zu ihrer vermeintlichen Sicher- heit wenig sinnvolle Untersuchun- gen an. Im therapeutischen Bereich erliegen manche dem „Zwang der Apparate", ohne an das wahre In- teresse der Kranken oder den lang- fristigen Nutzen zu denken.

Vor allem sind unnötige Teste zu vermeiden, wenn sie entweder kei- nen Einfluß auf die Therapiewahl haben, oder wenn die Zustimmung des Kranken zu etwaigen operativen oder anderen sich ergebenden Kon- sequenzen nicht vorher gegeben worden ist. Heuristisches Bedürfnis ist — abgesehen von forschenden Kli- niken — kein Indikator durchzufüh- render Maßnahmen! Dazu kommt, daß immer mehr Menschen chroni- schen statt akuten Krankheiten er- liegen. Schroeder und Mitarbeiter (14) fanden einerseits Differenzen in den Tageskosten zwischen 4000 und 4 US-Dollar und andererseits einen akut abwendbaren Tod auf sechs Todesfälle durch chronische Leiden.

Daß die wirklichen ärztlichen Leistungen (wenn auch vielleicht schwer meßbar und Mißbrauch zu- gänglich) trotz gewisser Verbesse- rungen in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber mehr oder minder automatisierten technischen Leistungen immer noch unterhono- riert erscheinen, soll hic et nunc nicht im einzelnen besprochen wer- den.

(3)

Tabelle: Verstorbene, Med. Universitäts-Klinik I, Köln 1976-81 (ohne Intensivstation) in % (n = 1106)

Prognose bei Aufnahme

„zweifelhaft"

Zahl der

Medikamente „gut"

14,7

0 bis 3 7,7

40,0

4 bis 7 36,0

36,8

8 bis 11 51,0

8,5

12 und mehr 4,7

100,0 100,0

10,2 47.3 38.3 4.2 100,0

„schlecht"

Seit langem stehen sich bei uns zwei Grundauffassungen gegenüber:

0 Der Arzt hat grundsätzlich zu helfen, auch wenn er damit, und seien es nur Tage, Wochen oder Mo- nate, mit hoffnungslosen Prognosen konfrontiert wird — etwa bei einem metastasierten oder systematisierten Tumorleiden. Über Art und Um- fang dieser Hilfe gehen die Meinun- gen weit auseinander (s. u.). Aller- dings weisen die Protagonisten bis- her wenig erfolgreicher „neuer Me- thoden" mit gewissem Recht darauf hin, daß es ohne Versuche auch zu keinem derzeitigen und künftigen Fortschritt (mit seinem Nutzen für viele Kranke) käme Damit läßt sich allerdings vieles rechtfertigen. Hier erhebt sich die Frage des wirklichen medizinischen Fortschritts.

©

Nach einer anderen weit ver- breiteten Meinung wäre es besser, mit diesem finanziellen, zeitlichen und pflegerischen Aufwand vielen Patienten mit besserer Lebenserwar- tung, aber höherem Leidensdruck (zum Beispiel durch eine rheumatoi- de Arthritis) zu gesteigerter Lebens- qualität zu verhelfen. Von den An- hängern dieser These wird öfters be- tont, daß etwa 80 Prozent der anfal- lenden Kosten in Klinik und Praxis durch etwa 20 Prozent der Kranken

(heilbare und unheilbare) verursacht werden.

Beide Grundauffassungen ge- hen von der kurz skizzierten, in je- dem Fall beschränkten Zuwachsrate ärztlicher und pflegerischer Leistun- gen aus. Die Free ist nur: Wem?

Wann? Wie? Wir sind auf diesem schwierigen Feld für die Entschei- dungen ethisch-moralische Maßstä- be mit finanzielle Gesichtspunkten zu verbinden?

Damit scheiden alle nach der ge- gebenen Situation und im Ziel kura- tiven Maßnahmen aus unserer Dis- kussion aus, die selbstverständlich erbracht werden müssen und in aller Regel auch erbracht werden. In Fra- ge stehen palliative Behandlungen, die zur Verlängerung des Lebens, zur Vermeidung von Komplikatio- nen, zur Vorbeugung von Rezidiven (zum Beispiel „adjuvante" bezie- hungsweise „neoadjuvante Thera- pie") dienen oder — wie Bayer und Mitarbeiter (2) es drastisch formu- lierten —: Nur marginal nützliche Maßnahmen

Damit kommen wir auf die Schwerstkranken und Morituros.

Für die Kranken im Finalstadium wurden nach einer Schätzung von Mushkin in den USA 1974 20 Pro- zent aller Kosten in nichtpsychiatri- schen Krankenhäusern und Alten- heimen aufgewendet. In einer chir- urgischen Intensivpflege-Einheit kam Civetta zu dem Ergebnis, daß

der finanzielle Aufwand umgekehrt proportional zu den Überlebens- chancen war (beide Zit. n. 2).

Einige Grundsätze seien wenig- stens kurz genannt, obwohl sie selbstverständlich erscheinen, aber leider in den Diskussionen der Me- dien immer wieder ins Zwielicht ge- zogen werden:

C) Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, ebenso auf einen würdi- gen, ihm gemäßen Tod.

C) Wenn er durch eigenhändige Verfügung maschinelle Hilfen in Notsituationen abgelehnt hat (soge- nanntes „Patiententestament") und kein Grund zur Annahme besteht, daß er inzwischen seinen Willen ge- ändert hat, ist dieser zu respektie- ren.

C) Zu einem würdigen und an- gemessenen Tod gehören die Frei- heit von Schmerzen und anderen Krankheits- oder Verletzungsfolgen, auch um den Preis einer vielleicht (geringfügig) verkürzten Lebens- spanne durch Analgetika, Sedativa usw. („passive Euthanasie").

(D Kein Arzt sollte sich — aus rechtlichen, ethischen und anderen, hier nicht im einzelnen zu diskutie- renden Gründen — dazu hergeben, unmittelbare oder mittelbare Ster- behilfe zu leisten („aktive Euthana- sie").

(D Besondere Pflege- und Be- treuungsstationen mit Ambulanz für unheilbar Kranke, wie sie zum Bei- spiel in Köln mit Unterstützung der Deutschen Krebshilfe betrieben werden (16, 17) haben sich in vieler Weise bewährt.

© Lebensverlängerung auf Ko- sten der Lebensqualität ist allenfalls nach völlig offener Aussprache zwi- schen Patient und Arzt erlaubt.

0 Mit die größte Schwierigkeit besteht darin, den bevorstehenden Tod eines Menschen positiv voraus- zusagen. Man wird nicht umhinkön- nen, zwischen (nach allen Kriterien)

„sicher", „wahrscheinlich" oder

„möglich" zu unterscheiden. Ähn- liches gilt für das Organ, an das die menschliche Identität gebunden ist:

das Gehirn. Selbst bei den Kranken mit scheinbar aussichtsloser Situa- tion hat jeder erfahrene Kliniker schon die Überraschung einer nicht mehr erwarteten Rekonvaleszenz

I III. Grundfragen ärztlichen Handelns

A-3144 (32) Dt. Ärztebl. 85, Heft 45, 10. November 1988

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und die Wiedergewinnung lebens- werten Lebens erlebt. Wir haben deshalb auf unserer (z. T. gemein- sam mit Prof. H. H. Hilger, Direk- tor der III. Med. Univ -Klinik Köln betriebenen) internistischen Inten- sivstation (s. u.) immer für vier bis sieben Tage das „volle Programm gefahren" und uns vom Neurologen mit allen seinen Möglichkeiten und Kriterien nach mindestens zwei von- einander unabhängigen Untersu- chungen die Irreparabilität des Hirn- schadens bescheinigen lassen. Nach Detsky und Mitarbeitern (13) verur- sachten die Verstorbenen in der schlechtesten Prognosegruppe (81 bis 100 Prozent Letalitätsprognose) Kosten von mehr als dem Vierfa- chen der Kosten derer mit der be- sten Prognose (0 bis 20 Prozent).

Intakte Familienverhältnisse und wechselseitiges Vertrauen vor- ausgesetzt, erleichtert bei bewußtlo- sen oder eingetrübten Kranken ein offenes Gespräch mit den Angehöri- gen über die Prognose die vorgese- henen oder zu unterlassenden Maß- nahmen. Sie muß aber auf deren ge- nauer Information und ihrer Ein- sicht beruhen; die hilflose Aufforde- rung, alles nur Mögliche zu tun, ist unergiebig.

Wenn man die Zahl der verab- folgten Arzneimittel bei unterschied- licher Anfangsprognose (siehe Ta- belle auf der voranstehenden Seite) verfolgt, so muß man sich bei acht oder mehr Arzneimitteln allerdings kritisch fragen, ob eine solche Viel- falt für den Kranken mit seinem Grundleiden wesentlich war, ob sie nicht vielmehr einer gedankenlo- sen Unterdrückung vordergründiger Symptome entsprang, ob der behan- delnde Arzt sich der Möglichkeiten der Interferenzen (bis zur wechsel- seitigen Aufhebung der Wirkung!) auch bewußt war.

Das gilt auch für die Praxis, wenn der Kranke (neuerdings mit der Arztwahl immer häufiger sein erster Differentialdiagnostiker!) ei- ne Anzahl von Spezialisten (mit schmalem Spezialgebiet und unter- schiedlichen Allgemeinkenntnissen) aufsucht und Medikamente erhält, die auf organgebundene Symptome, nicht aber auf ein zusammenhängen- des Grundleiden wirken.

IV. Intensivstationen

Aus ökonomischen und medizi- nischen Gründen sollten besonders die Kosten der Intensivstationen sorgfältig bedacht werden. Sie sollen sinngemäß kritische Tage oder Wo- chen überbrücken, nicht Sterben maschinell prolongieren. Das läßt sich am leichtesten für chirurgische Intensivstationen belegen. Dort hat die Behandlungsfähigkeit von Ein- oder Mehrfachkomplikationen den Schweregrad des Eingriffs, den prä- operativen Allgemeinzustand, das operationsfähige Alter u. a. wesent- lich verändert; trotzdem starben 1964 in der Kölner Chirurgischen Klinik 35 Prozent der Kranken, 1974 27 Prozent nach operativen Eingrif- fen. Allerdings kamen 1964 25 Pro- zent postoperativ zur Intensivthera- pie, 1974: 44 Prozent (18). Dieser Trend dürfte sich bis heute fortge- setzt haben, obwohl wir hier nicht über neueste Zahlen verfügen.

Schwieriger ist die Situation in der Inneren Medizin zu beurteilen.

Eine Übersicht von 21 Jahren (1966 bis 1986) ergab im Durchschnitt für verschiedene Krankheitsgruppen (zusammengestellt von den Dokto- randen N. Windelen, H. Weinzierl, Uta Markefka, siehe auch [9]) Leta- litäten zwischen 48 Prozent (Schock) und 3,8 Prozent (Überwachungsfäl- le). Insgesamt nahm die Letalität al- ler intensiv-medizinisch betreuten Kranken (einschließlich Tod nach Rückverlegung oder Entlassung) von 28,8 Prozent (1966 bis 1973) auf 15,3 Prozent 1980 bis 1986 ab, zwei- fellos eine Folge von vermehrten und besseren Geräten, von mehr und erfahrenerem Personal — durch- weg kostentreibenden Faktoren.

In der überwiegend von Kran- ken mit soliden Tumoren und mali- gnen hämatologischen Systemer- krankungen belegten Klinik wurde für die später Verstorbenen (n = 750) bei der Aufnahme die Prognose bei 79 Prozent als „schlecht" , bei 13 Prozent als „zweifelhaft", bei acht Prozent als „gut" eingestuft. Hatte es einen Sinn, bei Kranken mit schlechter Prognose noch aufwendi- ge Chemo- oder Strahlentherapie durchzuführen? Damit verbindet

sich die Erfahrung, daß zwar laufend neue Dreier-, Vierer- oder Fünfer- Kombinationen von Zytostatika her- auskommen, aber kaum Einzelsub- stanzen mit einem wirklichen Durchbruch (dies gilt nicht für die akute Leukämie des Kindes, das Hy- pernephrom, trophoblastische Tu- moren, nur in beschränktem Maß für einen Teil der Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphome).

Die überaus kostenaufwendige Intensivtherapie erfordert differen- zierte, oft rasche Entscheidungen, die durch die Unsicherheit der Pro- gnose beeinträchtigt werden.

O Auf einen Teil der Kosten- entwicklung im Gesundheitswesen — in den letzten Jahren allerdings kon- stant geblieben — haben die Ärzte als Gesamtheit wesentlichen Einfluß.

Sie könnten viele Beiträge im Klei- nen leisten, deren Summe ins Ge- wicht fiele.

(9

Im besonderen dienen Inten- sivpflegestationen nicht dazu, Ster- ben (maschinell) zu verlängern, son- dern kritische Phasen in der Wieder- herstellung lebenswerten Lebens zu überbrücken.

• Todkranke gehören auf so- genannte Palliativstationen oder in die Familie, um schmerzfrei und in Würde ihre Angelegenheiten zu ord- nen und ihren Tod zu erwarten.

O Bei intakter Familie und un- sicherer Prognose ist eine offene Aussprache mit den Angehörigen hilfreich, erfordert aber viel ärzt- liches Geschick und wechselseitige Offenheit.

(I)

Umfangreiche indiskrimi- nierte Untersuchungen sind umge- kehrt proportional zum ärztlichen Können. Dies zu verbessern haben wir in Form von sogenannten Stufen- programmen (20, 21), die je nach

Fragestellung und Erkrankung be- schränkt sind, schon mehrfach vor- geschlagen. Sie können sich aber nicht durchsetzen, solange sie an Gedankenlosigkeit oder Sicherheits- denken oder einfach dem „Zwang der Apparate" scheitern. Sie bedür-

I V. Schluß-

folgerungen

(5)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Neuorganisierung des Tropeninstituts

fen auch der Hilfe der Gerichte, die (nach entsprechender Aufzeichnung in den Krankenakten) bewußten und überlegten Verzicht nicht als Kunstfehler bewerten dürfen. Ohne ihr Verständnis wird der kostenspa- rende Faktor der Stufenprogramme nutzlos.

Ärztliche Ethik hat bei den (zahlenmäßig wenig ins Gewicht fal- lenden) Grenz- oder Zweifelsfällen den Vorrang vor Kostenfragen. Da- bei ist nicht nur zu fragen nach der Quantität zugewonnener Zeitspan- nen; mindestens ebenso zählt ihre Qualität. Dabei sind, wie auch Bay- er (12) betont, Kostenminderungen durchaus mit medizinischen und mo- ralischen Ansprüchen zu verbinden.

So verstößt jede nicht medizinisch indizierte Untersuchung – etwa aus ökonomischen Gründen – nicht nur gegen die gebotene Wirtschaftlich- keit, sondern auch gegen eine recht verstandene ärztliche Ethik.

Professor Dr. Michael Arnold/

Tübingen danken wir für die freund- liche Durchsicht und für wertvolle Ratschläge.

(Literatur beim Sonderdruck)

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Dr. med. h. c.

Rudolf Gross

Herbert-Lewin-Straße 5 5000 Köln 41

— ZITAT

Medical nonsense

„It is a misfortune, not a crime, to contract a disease. If we begin to treat victims like criminals we alienate those whose cooperation is most needed and encourage them to behave like criminals; not least we risk turning doctors into gaolers. In any case, the law is an unsuitable instrument for fighting AIDS. To use the courts punitively – by making it a criminal offence to pass an the virus – would prove a med- ical nonsense and impossible to enforce."

Roy Porter, Medizinhistoriker, London, im British Medical Journal

Das Hamburger Tropeninstitut, so alt wie das Jahrhundert, ist eine ehrwürdige Stätte deutschen For- schergeistes. Seit dem Frühjahr die- ses Jahres hat das traditionsreiche Institut einen neuen Leiter: Profes- sor Dr. Dr. h. c. Hans J. Müller- Eberhard. Durch eine organisatori- sche Umgestaltung hofft der Direk- tor, dem Tropeninstitut wieder zum Weltruhm vergangener Zeiten ver- helfen zu können.

Nicht, daß mit der Neuorganisa- tion des Tropeninstituts die traditio- nellen Gebiete der Tropenmedizin aufgegeben würden. Mit diesen hat Deutschland einst Weltgeltung er- langt. Allein Robert Koch, Vater der Tropenmedizin genannt, hat mehr als die Hälfte eines Forscherle- bens in den Tropen zugebracht. 1900 sind die klassischen Fächer, wie Pa- rasitologie, Entomologie, Helmin- thologie, Protozoologie, Epidemio- logie, Exotische Pathologie und – Bezugspunkt aller – die klinische Medizin der Tropenkrankheiten als Teil der Inneren Medizin, in das von Geheimrat Professor Dr. med.

Bernhard Nocht, Kochs Schüler und Freund, gegründete Tropeninstitut eingezogen.

Das Bernhard-Nocht-Institut hat die Aufgabe, Ursachen tropi- scher Krankheiten aufzudecken, Mittel und Wege zu ihrer Kontrolle zu entwickeln, Patienten zu behan- deln sowie auf dem Gebiet der Schiffahrtsmedizin zu beraten und zu forschen. Darüber hinaus ist das Institut von wichtiger, überregiona- ler Bedeutung für diagnostische wie therapeutische Beratung und Aus- bildung von Fachkräften in der Tro- penmedizin Eine Außenstelle des Tropeninstituts in Liberia ist in diese Aufgaben entsprechend mit einge- schaltet.

Die Reorganisation des Institu- tes ist in Angriff genommen Dabei sollen zunächst Sektionen für Mole- kularbiologie, Parasitologie, Medizi- nische Mikrobiologie und klinische Medizin gebildet worden. Weitere Strukturveränderungen sind im Ge- spräch. Zwei Arbeitsgruppen sind beabsichtigt: die eine umfaßt Mole-

kulare Genetik, Molekulare Immu- nologie und Zellbiologie, die andere anwendungsorientierte tropenmedi- zinische Forschung.

Die topographische Nähe der Städte Hamburg und Wuppertal, wo eine forschende Pharmaindustrie entstanden war, hat sich von Anfang an als günstig erwiesen. Hier wurden Pharmaka für die Welt entwickelt, die Aussicht boten, auch bei Krank- heiten der warmen Länder einge- setzt zu werden und erfolgreich zu sein. Mittel gegen Malaria, Schlaf- krankheit und Helminthosen wur- den aufgebaut.

Frischer Wind in traditionsreichen Mau- ern: das Hamburger Tropeninstitut.

Nach den Erschütterungen zweier Weltkriege geht der Blick wieder zu den Völkern der warmen Länder, die heute bestrebt sind, ih- ren Lebensstil europäischem anzu- passen, für ihre heimatlichen Gebie- te aber nicht nur den Forscher klas- sischer Fächer, sondern auch jenen aufrufen, der nicht an Eingefahre- nem, Überliefertem stehen bleiben will. Dafür müssen neue, erfolgver- sprechende Wege gesucht werden.

Moderne Wissenschaftszweige und Forschungsrichtungen, als da sind Biochemie, Biogenetik, Mole- kulargenetik, Enzymologie, Immu- nologie und Proteinchemie müssen dazu in Ansatz gebracht werden. Sie müssen die traditionelle Forschung durchdringen und mit ihr in die Zu- kunft gehen. Krankheit und Wohl- stand sind von einander abhängige A-3146 (38) Dt. Ärztebl. 85, Heft 45, 10. November 1988

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