Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 3819. September 2008 A1939
S E I T E E I N S
F
ür die Weltgesundheitsorganisation gilt die Niko- tinsucht schon längere Zeit als Krankheit, denn je- der Raucher stirbt im Durchschnitt 15 Jahre früher als ein Nichtraucher. In Deutschland zögerte man bisher, abhängigen Rauchern den offiziellen Stempel eines Kranken aufzudrücken. Vielleicht, weil die Nikotin- sucht im Vergleich zu anderen Drogen keine auffälligen Bewusstseinsveränderungen erzeugt und Raucher keine nennenswerten Persönlichkeitsveränderungen erleiden.Zudem war das Rauchen bisher traditionell gesell- schaftsfähig und überall anzutreffen.
Tatsache ist aber, dass in jedem Jahr Tausende von Rauchern zum Teil massive Folgeschäden ihrer Sucht erleiden – seien es Herz- und Gefäßerkrankungen oder Karzinome. Längst ist auch wissenschaftlich vielfach belegt, dass das Rauchen sowohl körperliche als auch psychische Abhängigkeiten schafft, die einen Leidens- druck erzeugen und damit Krankheitswert haben.
Neben dem persönlichen Leid hat die Nikotinsucht auch enorme gesellschaftspolitische Auswirkungen: In Deutschland sind rauchende Arbeitnehmer im Mittel 2,5 Tage pro Jahr häufiger krank als ihre nicht rauchen- den Kollegen. Und die Kosten der Folgekrankheiten be- lasten den Staat jährlich mit 17 Milliarden Euro.
Vor diesem Hintergrund ist es daher nur konsequent, dass die Bundesärztekammer (BÄK) anlässlich einer Anhörung im Bundesgesundheitsministerium zur Tabak- und Alkoholprävention fordert, die Nikotinabhängig- keit als Krankheit anzuerkennen und die Raucherbera- tung zu stärken. Eine Bewertung als „Lifestyle-Pro- blem, das durch reine Willensanstrengungen oder Grup- pengespräche zu beheben wäre, wird dem Problem nicht gerecht“, heißt es in einer Stellungnahme der BÄK. Die vom Drogen- und Suchtrat empfohlenen Strategien zur flächendeckenden Raucherentwöhnung griffen demnach zu kurz. Verkannt werde, so die BÄK, dass es sich bei der Mehrzahl der Raucher um Abhän- gigkeitserkrankte nach ICD-10, F17 handele, die kör- perliche Entzugserscheinungen entwickelten und – trotz des Nachweises schädlicher Folgen – eine nur ein- geschränkte Kontrollfähigkeit über Beginn, Beendigung und Menge des Konsums hätten.
Nichtraucherkurse seien regional kaum verfügbar und erreichten (wenn überhaupt) überwiegend Versi-
cherte mittlerer und höherer Schichten. Nach einer von den Spitzenverbänden der Krankenkassen durchgeführ- ten Auswertung erfreuen sich Nichtraucherkurse zudem einer nur geringen Akzeptanz: 2006 haben lediglich 0,9 Prozent aller Teilnehmer an Maßnahmen zur indivi- duellen Prävention an einem Kursangebot zum Sucht- mittelkonsum teilgenommen.
Wie sehr professionelle Hilfe vonnöten ist, zeigt auch die Statistik der Europäischen Union. Danach hat jeder dritte Raucher innerhalb des vergangenen Jahres versucht, sich seine Sucht abzugewöhnen. Allerdings hatten weniger als 20 Prozent dafür ärztliche Unterstüt- zung gesucht, in Deutschland waren es sogar noch we- niger. Da Ärzte berufsbedingt über einen guten Zugang zu Rauchern verfügen, hat die BÄK gemeinsam mit den Landesärztekammern die 20-stündige Qualifikati- on „Ärztliche Tabakentwöhnung“ entwickelt. Sie bietet die Voraussetzungen, um Ärzte umfassend für eine Be- ratung und Behandlung betroffener Patienten zu schu- len. Dies umfasst auch die Diagnostik einer bestehenden Tabakabhängigkeit sowie den fachgerechten Einsatz einer begleitenden medikamentösen Therapie.
Die Bundesärztekammer fordert nunmehr, der Ge- meinsame Bundesausschuss solle die Tabakabhängig- keit als Krankheit anerkennen und die entsprechenden
„vergütungsrechtlichen Rahmenbedingungen“ für eine Behandlung schaffen. Würde dem Rechnung getragen, erreichte man tatsächlich eine neue Qualität beim struk- turierten Kampf gegen die Nikotinsucht.
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn Ressortleiterin Medizinreport
NIKOTINSUCHT
Kranke Raucher
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn