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Archiv "Gesundheitspolitik - ökonomisch oder medizinisch orientiert" (01.06.1984)

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Gesundheitspolitik -

ökonomisch oder medizinisch orientiert

Dr. med. Karsten Vilmar

Referat bei der Eröffnungsveranstaltung am 15. Mai 1984

Gesundheit und vor allem die wirksame Behandlung von Krank- heiten finden das Interesse der Öffentlichkeit in besonderem Ma- ße - allerdings mit wechselnden Schwerpunkten. Die Sicherung der dem jeweiligen Stand medizi- nisch-wissenschaftlicher Erkennt- nisse und technischer Möglich- keiten entsprechenden Versor- gung kranker Menschen stand da- bei zunächst im Vordergrund. Ko- stenfragen wurden dem unter- und nachgeordnet. Wenn es um echte Lebensbedrohung und um Menschenleben ging, galt die Fra- ge nach den Kosten als inhuman.

Die von jeher in der Dualbezie- hung zwischen Patient und Arzt bestehenden Regelungsmecha- nismen erwiesen sich bei der Lö- sung auch von Finanzproblemen zumeist als wirksam. Für den Arzt war und ist wichtigste Motivation die sich aus seinem Auftrag erge- bende Verpflichtung, Gesundheit zu schützen, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern.

Der Kranke oder auch seine Ange- hörigen wünschen und erhoffen Befreiung von Leiden und Schmerzen, Rettung aus vitaler Bedrohung und möglichst Wie- derherstellung der Gesundheit.

Dafür erscheint in der Situation der Not keine Aufwendung zu hoch -eine Einstellung, die sich nicht selten nach der Behandlung mehr oder weniger stark verän- dert. Richtung und Ausmaß der Veränderung werden bestimmt durch den Erfolg der Behandlung,

durch Intensität und Dauer der Pa- tient-Arzt-Beziehung sowie durch die Bewertung der künftigen Ent- wicklung dieser Beziehung.

Seitdem es Medizin gibt und so- lange sich Patienten Ärzten anver- trauen, wird deren Beziehung ge- prägt von subjektivem Schmerz- gefühl oder existentieller Bedro- hung sowie von der Effektivität der Behandlung, außerdem beein- flußt von vielleicht unterschied- lichen Erwartungen über deren Nutzen, Risiken und Kosten, so- wie von der oftmals unterschied- lichen Beurteilung des Erfolges.

Wert und Bewertung ärztlicher Behandlungsmaßnahmen erge- ben sich heute allerdings nicht mehr allein aus dieser Dualbezie- hung. Andere Faktoren verschie- dener Art haben starken, manch- mal prägenden Einfluß gewon- nen. Dazu gehören bei uns in der Bundesrepublik Deutschland ..,. Die Verlagerung des finanziel- len Krankheitsrisikos auf Solidar- gemeinschaften der Versicherten oder auf alle Bürger in Bund, Län- dern oder Gemeinden

..,. Die Ausweitung des in den ge- setzlichen Krankenkassen versi- cherten Personenkreises auf über 90 Prozent der Bevölkerung ..,. Die Beibehaltung des ur- sprünglich als Sicherung für die Ärmsten der Armen eingeführten Sachleistungssystems auch in ei- ner Wohlstandsgesellschaft

..,. Die Bemessung der Beiträge als Prozentsatz des Einkommens, unabhängig von der Zahl der mit- versicherten Familienangehöri- gen und die Begrenzung der Bei- tragshöhe durch eine Beitragsbe- messungsgrenze

..,. Die Ausweitung des Krank- heitsbegriffes und die Erweite- rung des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversiche- rung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung

..,. Die Wissenschafts- und Tech- nikgläubigkeit

..,. Die Machbarkeitsideologie und Anspruchshaltung als Folge enormen wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes und de- ren Publizität

..,. Das vermehrte Schadenersatz- begehren, wenn der erhoffte Be- handlungserfolg nicht eingetreten ist, und eine sich daraus entwik- kelnde .. Defensiv-Medizin"

..,. Die unrealistische Definition der Gesundheit durch die Weltge- sundheitsorganisation als Zustand vollständigen physischen, psychi- schen und sozialen Wohlbefin- dens

..,. Utopische gesundheitspoliti- sche Zielformulierungen wie .,Recht auf Gesundheit" oder .,Gesundheit für alle bis zum Jah- re 2000".

Mit Geißler begann die Kostendiskussion

Seit Anfang der Siebziger Jahre trat - geradezu gegenläufig - die Kostenproblematik immer mehr in den Vordergrund der öffent- lichen Diskussion. Die durch enor- me medizinisch-wissenschaft- liche und technische Fortschritte, erweiterten Leistungsumfang und demographische Verschiebungen mit einer relativen Überalterung bei gleichzeitigem Geburtenrück- gang eingetretene Kostenexpan- sion veranlaßte 1974 den damali-

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gen Rheinland-Pfälzischen Ge- sundheits- und Sozialminister Dr.

Heiner Geissler unter Mitwirkung des heutigen Berliner Gesund- heitssenators Ulf Fink zu einer Hochrechnung mit dem Ergebnis, daß bei weiterer linearer Steige- rung ein stetig größer werdender Anteil des Bruttosozialproduktes für die Gesundheit aufgewendet werden müsse. Die Begrenzung der Ausgabenzuwächse im Ge- sundheitswesen wurde gefordert, weil sonst für das Jahr 2000 Auf- wendungen in Höhe von 50 Pro- zent des Gesamt-Bruttosozialpro- duktes allein für die gesetzliche Krankenversicherung befürchtet werden mußten.

Dennoch wurde gleichzeitig wei- ter und zum Teil verschärft in Poli- tik und Publizistik über eine Un- terversorgung der Bevölkerung durch Mangel an Ärzten und durch Bettenmangel in Kranken- häusern geklagt. Die öffentlichen Auseinandersetzungen über Pro- bleme im Gesundheitswesen wur- den und werden dabei nicht nur kontrovers, sondern oft außeror- dentlich zwiespältig und zudem je nach augenblicksbezogener In- teressenlage mit rasch wechseln- den, sich oft widersprechenden Argumenten sogar der gleichen Diskussionsteilnehmer geführt.

Anspruchs- und Wohlstandsden- ken, die außerordentlich materia- listische Betrachtungsweise unse- rer Zeit sowie ein falsches Ver- ständnis von „Chancengleich- heit", das Schicksal oder geneti- sche Prädispositionen außer acht läßt, münden indes in reines Ko- stendenken. Die Effizienz der Me- dizin, also die Relation zwischen Kosten und Nutzen, wird dabei nicht aus der Dualbeziehung Pa- tient-Arzt, sondern aus der Sicht der Beitragszahler, also der Mehr- heit der Gesunden beurteilt.

Obwohl der Gesetzgeber im § 405 a der Reichsversicherungs- ordnung im Jahre 1977 bei der Gründung der „Konzertierten Ak- tion im Gesundheitswesen" aus- drücklich vorgesehen hat, daß die

an der gesundheitlichen Versor- gung der Bevölkerung Beteiligten gemeinsam

• medizinische und wirtschaft- liche Orientierungsdaten und

• Vorschläge zur Rationalisie- rung, Erhöhung der Effektivität und Effizienz im Gesundheitswe- sen entwickeln mit dem Ziel, eine den Stand der medizinischen Wis- senschaft berücksichtigende be- darfsgerechte Versorgung der Be- völkerung zu sichern und eine ausgewogene Verteilung der Be- lastungen zu erreichen,

wurde die weitere Diskussion von der Ideologie einer einnahme- orientierten Ausgabenpolitik be- stimmt und bisher nahezu aus- schließlich unter Kostenaspekten geführt.

Die Ärzteschaft ist selbstverständ- lich in hohem Maße daran interes- siert, die Systeme unserer sozia- len Sicherung in Zukunft finan- zierbar zu halten. Das gilt auch für die gegliederte gesetzliche Kran- kenversicherung. Dennoch muß gefragt werden, ob eine Politik der Anbindung der Kostenent- wicklungen im Gesundheitswesen an das Bruttosozialprodukt oder die Grundlohnsummenentwick- lung sachgerecht ist. Ist damit tat- sächlich langfristig nicht nur den Wünschen gesunder Beitragszah- ler, sondern auch den individuel- len Bedürfnissen kranker Men- schen gerecht zu werden? Muß ri- gorose Kostendämpfungspolitik nicht geradezu zwingend zu Lei- stungseinschränkungen und da- mit zu schlechterer Versorgung der Kranken führen?

Der medizinische Fortschritt orientiert sich nicht am Anstieg der Grundlohnsumme Es muß doch wohl berücksichtigt werden, daß in der Medizin die Entwicklungen ebensowenig wie Entwicklungen in anderen Berei- chen stets parallel zur Entwick- lung des Bruttosozialproduktes

oder zum Grundlohnsummenan- stieg verlaufen. Derartige Parame- ter ergeben sich nämlich erst als Durchschnittswert höchst unter- schiedlicher Entwicklungen in den verschiedensten Bereichen unserer Gesamtwirtschaft.

So lag zum Beispiel die Entwick- lung der durchschnittlichen Mo- natsverdienste in Industrie und Handel in den letzten Jahren bis zu 7,7 Prozent über dem Anstieg des Bruttosozialproduktes. Auch die Staatsverschuldung nahm im- mer schneller zu als die Geldwert- schöpfung aller in einem Jahr pro- duzierten Güter und Dienstlei- stungen. Auf der anderen Seite war zum Beispiel bei Fernsehge- räten und in der Unterhaltungs- elektronik eine gegenüber dem Grundlohnsummenanstieg nega- tive Preisentwicklung feststellbar

— ohne daß dies allerdings zu ei- ner Bildungskatastrophe führte.

Und aus all dem soll sich für alle Zeiten die Meßgröße für die Wei- terentwicklung der Medizin „er- mitteln" lassen?! Zwangsläufige Folge wäre doch wohl eine „Mit- telmaß-Medizin"!

Entwicklungen im Gesundheits- wesen können auch nicht anhand von Meßgrößen beurteilt werden, die sich in der allgemeinen Wirt- schaft und der Verwaltung be- währt haben mögen, die aber den Besonderheiten bei der ärztlichen Behandlung und pflegerischen Versorgung kranker Menschen sowohl im ambulanten wie im sta- tionären Bereich nicht gerecht werden können und daher zur ob- jektiven Beurteilung von Lei- stungsfähigkeit und Wirtschaft- lichkeit im Gesundheitswesen un- geeignet sind.

Wenn Effizienz Wirksamkeit, Lei- stungsfähigkeit im Verhältnis zu den aufgewandten Mitteln, also besondere Wirtschaftlichkeit be- deutet, ist sie nur dann eine ma- thematisch exakt zu definierende Größe, wenn Wirkung und aufge- wandte Mittel exakt bestimmbar sind. Und schon an diesem Punkt 1770 (30) Heft 22 vom 1. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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beginnen die Berechnungs- schwierigkeiten im Gesundheits- wesen. Vermeintliche ökonomi- sche Effizienz darf nämlich kein humanitäres Defizit bewirken.

Zwar sind die aufgewandten oder aufzuwendenden Mittel noch hin- reichend genau bestimmbar- für die erreichte, die erreichbare oder auch nur erwünschte Wir- kung ist dies jedoch nur schwer oder überhaupt nicht möglich. Schon die Auffassungen darüber, was eigentlich diese Wirkung sein soll, sind je nach Standpunkt oder Aufgabenstellung der beteiligten Personengruppen oder Institutio- nen höchst unterschiedlich. Si- cher ist der Begriff der Arbeitsfä- higkeit zur Beurteilung der Effi- zienz nicht verwertbar. Die viel- fach nötige Linderung von Leiden, die Behandlung von Todkranken und Sterbenden, bei denen es un- möglich ist, Gesundheit oder gar Arbeitsfähigkeit wiederherzustel- len, wäre ja dann ineffizient. Der Wert der Leistung wird also im Einzelfall durch unterschiedliche individuelle Erfordernisse, Wün- sche und Bedürfnisse subjektiv geprägt, er hängt entscheidend von physischen und psychischen Faktoren des Einzelnen ab.

Stellt man lediglich ökonomische Daten in den Mittelpunkt der Überlegungen und berücksichtigt nicht die sprunghaften Fortschrit- te der Medizin mit stark erweiter- ten Möglichkeiten, durch Präven- tion, verfeinerte Diagnostik und Therapie sowie Rehabilitation vielfach vorzeitigen Tod zu verhin-

dern, gerät man schnell in die Ge-

fahr, vordergründig aus der zu- nehmenden Zahl der Behand- lungsbedürftigen und wegen der steigenden Kosten im Gesund- heitswesen auf Ineffizienz der Me- dizin zu schließen. Dabei wird je- doch übersehen, daß nach der weitgehenden Überwindung der

"klassischen" Infektionskrank-

heiten heute chronische Krank- heiten anderer Art, Fehl- oder Mißbildungen vielfach lebens- längliche Behandlungsnotwen- digkeit bewirken. Wegen der hö- heren Lebenserwartung infolge

der besseren Möglichkeiten der Medizin ist ferner die Wahrschein- lichkeit größer geworden, daß ein Mensch im Laufe seines Lebens an mehreren Krankheiten nach- einander oder gleichzeitig er- krankt und jedesmal nur unter

Karsten Vilmar: "Die Einhaltung ethischer Normen muß vorbild- lich vorgelebt werden. Dann ist und bleibt ärztliche Haltung überzeugend."

Einsatz höherer Mittel gerettet werden kann und danach weiter- behandelt werden muß.

Neben dem Wandel im Morbidi- tätsspektrum, der Multimorbidität älterer Menschen und der Not- wendigkeit der Langzeitbehand- lung chronisch Kranker ist die starke Zunahme von Krankheiten infolge selbstschädigenden Ver- haltens insbesondere durch Alko- hol- und Drogenmißbrauch zu be- rücksichtigen.

Der Alkoholabusus hat geradezu das Ausmaß einer Volksseuche angenommen. Man kann davon ausgehen, daß etwa 2 bis 3 Pro- zent der Bevölkerung alkoholab- hängig sind. Allein in der Bundes- republik Deutschland sind das 1,5 bis 2 Millionen Menschen. Als Ur- sache kommen psychische und soziale Faktoren in Betracht. Über die Kostenauswirkungen dieser Selbstschädigung durch Alkohol gibt es in Deutschland bislang kei- ne Untersuchungen. in der Schweiz sind die Aufwendungen dafür mit umgerechnet rund 1,5 Milliarden DM pro Jahr errechnet worden. Übertragen auf die Bun- desrepublik Deutschland würde dies einen Kostenaufwand für Al- koholismus und seine Folgen, wie Unfälle, Krankheiten, Todesfälle, Arbeitsunfähigkeit und Minde- rung der Erwerbsfähigkeit, von rund 15 Milliarden DM jährlich be- deuten.

Auch die Zahl der Patienten mit chronisch obstruktiven Atem- wegserkrankungen hat erheblich zugenommen. Durch Steigerung ihrer durchschnittlichen Lebens- erwartung um rund 20 Jahre wird die Zeit ihrer Dauerbehandlungs- bedürftigkeit entsprechend ver- längert. Die wichtigsten Ursachen sind sehr "gemischt":

..,.. Verbesserte Diagnostik, ..,.. stärkere Luftverunreinigung ..,.. und vor allem das Rauchen als Risikofaktor Nr. 1

Im Jahre 1983 wurden in der Bun- desrepublik Deutschland mehr als 45 Milliarden DM für alkoholische Getränke und fast 25 Milliarden DM für Tabakwaren, zusammen also 70 Milliarden DM allein für diese beiden Suchtmittel ausge- geben. Das sind 70 Prozent der Gesamtausgaben der gesetzli- chen Krankenversicherung in Hö- he von 100,5 Milliarden DM im Jahre 1983. Dennoch spricht er- staunlicherweise bei diesen Suchtmitteln noch niemand vom Erreichen einer "Belastungsgren-

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ze". Die Einführung — zum Bei- spiel — einer 3prozentigen „Ge- fährdungshaftung" auf die Sum- me der Ausgaben für Alkohol und Nikotin könnte die Solidargemein- schaft der gesetzlichen Kranken- versicherung von den Folgen des selbstschädigenden Alkohol- und Tabakmißbrauchs kostenmäßig spürbar entlasten.

Der zunehmende Alkoholver- brauch ist ein Indikator dafür, daß die Zahl der Alkoholiker weiter an- steigen wird, damit aber auch die Zahl der Folgeerkrankungen, vor allem von Leber und Bauchspei- cheldrüse, Herzmuskel und Ner- vensystem — natürlich alles mit Kostenauswirkungen.

Die Belastung der Solidargemein- schaft mit derart riesigen Kosten könnte spürbar verringert wer- den, wenn es gelänge, durch ge- eignete Präventionsmaßnahmen die Verhaltensweisen der Men- schen zu beeinflussen. Aufklä- rung allein ist dafür nicht ausrei- chend, denn die schädigenden Einflüsse von Alkohol- und Tabak- mißbrauch dürften allen Men- schen hinlänglich bekannt sein.

Sie ziehen daraus aber nicht die Konsequenzen und werden so trotz aller Warnungen zu „Ge- sundheitsverbrauchern", sie „ver- brauchen" dabei nicht nur ihre ei- gene Gesundheit, sondern über die Belastung der Solidargemein- schaft auch Gesundheit und Ar- beitskraft anderer.

Fortschritte — allerdings auch Ko- stensteigerungen — sind in der Onkologie aufzuweisen. Für eine große Zahl von Patienten mit Tu- moren konnte in den letzten 20 Jahren die Überlebensrate um ein Vielfaches erhöht werden. Aus neuen Veröffentlichungen des Deutschen Krebsforschungszen- trums ist zu entnehmen, daß in Mitteleuropa heute etwa 40 Pro- zent der Turmorpatienten geheilt werden können. Sicher haben da- zu die seit gut einem Jahrzehnt durchgeführten Untersuchungs- programme zur Früherkennung beigetragen — trotz mancher Kritik

und der immer noch ungenügen- den Inanspruchnahme.

Weitere Fortschritte sind durch den Einsatz nicht-invasiver bildge- bender Verfahren in der Früher- kennung von Tumoren zu erwar- ten, so daß künftig noch mehr Tu- moren als bisher erfolgverspre- chend behandelt werden können.

Damit ist eine Verlängerung der Überlebenszeit verbunden, die wiederum zu einer Zunahme der Zahl dauerbehandlungsbedürfti- ger Patienten führt.

Die Frage, ob Kosten und Nut- zen von Früherkennungsuntersu- chungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, ist zwar für den einzelnen, der recht- zeitig wirksam behandelt werden kann, zu bejahen, ob allerdings bei der Durchuntersuchung gan- zer Bevölkerungskollektive die dafür aufzuwendenden Kosten im Hinblick auf andere Anforderun- gen vertreten werden können, ist problematischer. Hier wird unter Beachtung medizinisch-wissen- schaftlicher Erkenntnisse eine Beschränkung auf bestimmte Ri- sikogruppen nötig sein. Keines- falls sollte jedoch aus Kosten- gründen auf Früherkennungsun- tersuchungen verzichtet werden, etwa nach dem Motto: „Du bist nichts, die Versichertengemein- schaft ist alles."

Eine epidemiologisch gesicherte Beweisführung, ob die Therapie tatsächlich zu einer Lebensver- längerung führt, ist bei manchen Behandlungsverfahren deshalb kaum möglich, weil aus ethischen Gründen allein zum Zwecke der Beweisführung keine unbehan- delten Vergleichsgruppen gebil- det werden können, die gleich- sam ihrem Schicksal überlassen werden. Dies trifft zum Beispiel zu auf die moderne Koronarchirurgie mit Bypass-Operationen oder Di- latationen sowie Schrittmacher- Implantationen und die Behand- lung von Herzkranken oder Hy- pertonikern mit Betablockern, die jahrelang — meist lebenslang — nö- tig ist.

Die durch Behandlung bewirkte Verbesserung der Lebensqualität

— durch Ersatz oder Wiederher- stellung von Körperfunktionen zum Beispiel durch Hämodialyse, Organtransplantationen, Gelenk- oder Gefäßendoprothetik, berüh- rungsfreie Nierensteinzerkleine- rung mit Stoßwellen oder durch wirksame Bekämpfung von Schmerzen wie zum Beispiel des lebensbedrohlichen Vernich- tungsgefühls bei Herzanfällen — entzieht sich aus verständlichen Gründen der Erfassung in ökono- mischen Parametern. Über Einzel- kasuistik hinaus müssen sie den- noch bei Entscheidungsprozes- sen über die Gestaltung der Ge- sundheits- und Sozialpolitik mit- berücksichtigt werden.

Die Entwicklungen auf dem Arz- neimittelsektor erfordern eben- falls sorgfältige Untersuchungen

— sowohl wegen des zunehmen- den Arzneimittelverbrauchs als auch wegen der steigenden Arz- neimittelpreise. Dabei ist zu be- achten, daß erst durch moderne Arzneimitteltherapie viele früher unbeeinflußbare Krankheits- und Schmerzzustände wirksam be- handelt werden können. Naturge- mäß brauchen ältere Menschen mit der gerade bei ihnen häufig bestehenden Multimorbidität mehr Arzneimittel als gesunde Jugendliche. So wurden 1983 für die Versicherten in Ortskranken- kassen ohne Rentner je 254 DM, für die Rentner dagegen rund dreimal soviel, nämlich je 727 DM, aufgewandt.

Hüten sollte man sich allerdings vor der Fehlinterpretation ohne- hin veralteter Statistiken und dar- auf aufbauender öffentlicher Po- lemik, wie wir sie kürzlich erleben mußten. Damit ist einer Verbesse- rung der Information der Öffent- lichkeit und der Ärzte sowie der Erhöhung der Arzneimittelsicher- heit nicht gedient.

Selbstverständlich wissen gerade Ärzte, daß viele Abführ- und Schlafmittel sowie manche Psy- chopharmaka keine kausale The- 1772 (34) Heft 22 vom 1. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Zahlreiche prominente Vertreter aus Politik, Wissenschaft und allen Zweigen des Gesundheitswesens nahmen an der repräsentativen Eröffnungsveranstaltung des 87.

Deutschen Ärztetages im Aachener „Eurogress" teil, bei der Dr. Karsten Vilmar das auf diesen Seiten veröffentlichte Grundsatzreferat hielt

rapie ermöglichen und daher viel- leicht überflüssig erscheinen mö- gen. Andererseits benötigen auch Patienten, die die Folgen einer verfehlten Bildungspolitik mit Vor- verlagerung des Konkurrenz- und Existenzkampfes in die Schulen und erhöhten Streß unseres Er- werbslebens zu ertragen haben und die darüber hinaus oft in gi- gantischen, aber erheblich lärm- beeinträchtigten und hellhörigen Wohnsilos Opfer in Beton gegos- sener politischer Fehlentschei- dungen sind, ärztliche Hilfe, selbst wenn keine kausale Thera- pie möglich ist.

Ebenso eindringlich muß aber darauf aufmerksam gemacht wer- den, daß nicht Befindlichkeitsstö- rungen jeglicher Art mit Arznei- mitteln beseitigt werden können.

Psychopharmaka sind keine „Ab- führmittel für die Seele". Und schon gar nicht kann die Medizin Folgen politischer Fehlentschei- dungen beseitigen. Vernünftiges Verhalten und diätetische Maß- nahmen allein könnten dagegen sogar häufig die medikamentöse Behandlung zum Beispiel von Diabetes oder Hypertonus über- flüssig machen.

Prozentuale Selbstbeteiligung an den Arzneimittelkosten Appelle hierzu reichen allerdings ebensowenig aus wie dirigistische Maßnahmen und staatliche Pla- nung das Verhalten der Beteilig- ten wirksam beeinflussen können, weil immer wieder Umgehungs- mechanismen gesucht und gefun- den werden. Auf dem Arzneimit- telsektor wäre daher eine prozen- tuale Selbstbeteiligung ein direkt wirksames sinnvolles Steuerungs- instrument. Selbstverständlich müßten in diesem Zusammen- hang Sozialregelungen getroffen werden, damit notwendige Be- handlungen nicht etwa aus finan- ziellen Gründen zu spät eingelei- tet würden oder gar ganz unter- blieben.

Selbstbeteiligung an Arzneimittel- kosten darf ebenso selbstver-

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ständlich nicht dazu mißbraucht werden, nur zusätzliche Finanz- mittel zu mobilisieren. Sie ist je- doch vertretbar, wenn sie echte Steuerungsfunktion erfüllt. Unvor- eingenommene emotionsfreie Analyse aller damit zusammen- hängenden Probleme wäre nötig, um zu brauchbaren Lösungen zu kommen.

Wer allerdings jeden Gedanken an Selbstbeteiligung mit dem Ar- gument, dies sei ein Angriff auf die Solidargemeinschaft, abzu- weisen versucht, verkennt, daß ei- ne viel größere Aggression von denen ausgeht, die eine egonzen- trische, oft parasitäre Selbstver- wirklichung zum Ziel haben.

Glückseligkeit und Wohlbefinden, gleichsam in Schwerelosigkeit, sind nicht durch Mißbrauch des sozialen Netzes als „Sozial-Tram- polin" zu erreichen.

Auch im Krankenhauswesen müs- sen die heute geltenden Rechts- vorschriften für die Kostendek- kung von Grund auf neu durch- dacht werden. Dabei dürfen sich Bund, Länder und Gemeinden je- doch nicht ihren finanziellen Ver- pflichtungen entziehen.

Die durch das Krankenhausfinan- zierungsgesetz von 1972 erfolgte starre Trennung von Investitions- und Benutzerkosten und tages- gleiche pauschale Pflegesätze tragen den Widerspruch zwischen betriebswirtschaftlich und volks- wirtschaftlich richtigen Entschei- dungen in sich. Unwirtschaftlich- keit un Ineffizienz sind vom Ge- setz- und Verordnungsgeber pro- grammiert. Denn den höchsten Gegenwert für das pauschalierte Entgelt können Krankenhausträ- ger wie die im Krankenhaus Täti- gen nicht etwa durch mehr Lei- stung, durch rasche, qualifizierte, rationellere Leistungserbringung erreichen, sondern durch genau das Gegenteil.

Die Entwicklungen im Kranken- hauswesen sind im übrigen schla- gender Beweis dafür, daß staat- liche Planung und Dirigismus

eher das Gegenteil als eine Ga- rantie für ökonomisch richtigen, also effizienten Einsatz der Mittel sind.

Krankenhausplanung — Zeugnis für das Versagen staatlicher Planung

Staatliche Festlegung des „Be- darfs" wird allzuleicht von politi- schen Wunschvorstellungen ge- prägt und berücksichtigt zu wenig medizinische Daten und Erforder- nisse. Der noch Anfang der 70er Jahre beklagte Bettenmangel wurde rasch zum Bettenberg. Die Kostenentwicklung im Kranken- haussektor gibt ein weiteres be- redtes Zeugnis für das Versagen staatlicher Planung. Es ist zu hof- fen, daß Initiativen und Aktivitäten von Bundesminister Dr. Blüm Er- folg beschieden sein möge, um endlich Anreize zu mehr Wirt- schaftlichkeit zu setzen. Alle Ver- antwortlichen sollten bedenken, daß es um die Sicherung der Ver- sorgung der Patienten im Kran- kenhaus und die Lösung von Sachproblemen im Gesundheits- wesen geht. Für bloßes Kompe- tenzgerangel öffentlicher Hände ist also kein Platz. Zur Verbesse- rung von Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit im Kranken- haus sind Pseudo-Wirtschaftlich- keitsprüfungen auf der Basis ver- kehrter Meßgrößen ungeeignet.

Auch im Krankenhaus kann Lei- stung nicht lediglich an der Zahl der um Mitternacht warmen Bet- ten gemessen werden!

Anpassung der inneren Struktu- ren an die Erfordernisse einer wirksamen Behandlung aller Pa- tienten auf der Grundlage medizi- nisch-wissenschaftlicher Erkennt- nisse entsprechend den Vorschlä- gen Deutscher Ärztetage seit 1972 könnte weit eher zur Lösung vie- ler Probleme beitragen!

Auch tarifvertragliche Regelun- gen, die den besonderen Arbeits- bedingungen und Arbeitsabläufen bei der Versorgung kranker Men- schen entsprechen, sind nötig.

Wer allerdings glaubt, dies als

„Demagogie im Weißkittel" abtun zu müssen, wie das kürzlich von dem sich für das Gesundheitswe- sen zuständig fühlenden Haupt- vorstandsmitglied der Gewerk- schaft Öffentliche Dienste, Trans- port und Verkehr versucht wurde, offenbart geradezu erschrecken- de Unkenntnis über Arbeitsablauf und Arbeitsrhythmus im Kranken- haus.

Humanität im Krankenhaus erfor- dert neben qualifizierter ärztlicher Versorgung und pflegerischer Be- treuung rund um die Uhr mensch- liche Zuwendung. Der bei einer 35-Stunden-Woche drohende ständige Personalwechsel ist da- mit nicht vereinbar. Patienten sind kein in Containern anlieferbares Stückgut. Patienten kann man nicht „auf Lager" nehmen, und die Effizienzbeurteilung im Ge- sundheitswesen ist nicht auf der Basis von „Kilogramm-Patienten- Stunden" möglich.

Die Bedeutung einzelner Entwick- lungen für die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens läßt sich nur aus exakten wissenschaft- lichen Untersuchungen erkennen.

Eine Reihe von Faktoren, wie zum Beispiel die Auswirkungen psy- chischer Belastungen auf das Be- finden oder auf das Entstehen von Krankheiten, entziehen sich aller- dings mindestens allen heute be- kannten Nachweismethoden und sind somit nicht in Parametern faßbar.

Wissenschaftlich gesicherte Grundlagen fehlen oft auch für wohlgemeinte Präventivmaßnah- men, die deshalb unwirksam und damit ineffizient bleiben müssen.

Geeignete, insbesondere über- tragbare Maßnahmen müssen er- folgversprechend, wissenschaft- lich begründet und bewertbar sein. Darüber hinaus müssen sie von allen an der praktischen Durchführung zu Beteiligenden akzeptiert und daher von ihnen mit Überzeugung umgesetzt wer- den. Das gilt auch für die in diesen Monaten mit einem Kostenvolu- 1774 (38) Heft 22 vom 1. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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men von 61 Millionen DM für sechs Jahre in einzelnen Regio- nen der Bundesrepublik Deutsch- land anlaufende Deutsche Herz- Kreislauf-Präventionsstudie. Die Notwendigkeit präventivmedizini- scher Maßnahmen auf dem Boden gesicherter medizinisch-wissen- schaftlicher Erkenntnisse ist der Ärzteschaft bekannt. Bei der Durchführung ist es aber unver- zichtbar, die Erfahrungen und Kenntnisse, insbesondere der nie- dergelassenen Ärzteschaft, in For- schungsvorhaben zur Untersu- chung von alternativen Primärprä- ventions-Modellen schon in der Forschungsplanung, jedoch auch in der kritischen Forschungsbe- gleitung und erst recht in der Durchführung von alternativen Entwicklungsmodellen maßgeb- lich zu berücksichtigen.

Aufgrund mehrerer Besprechun- gen mit dem Bundesminister für Forschung und Technologie, Dr.

Heinz Riesenhuber, konnte er- reicht werden, daß das Ministeri- um die Interventionsmaßnahmen der Durchführungsphase der Deutschen Herz-Kreislauf-Präven- tionsstudie in allen Studienregio- nen bis zum 31. Juli 1984 auf- schiebt. Dazu wird im Bewilli- gungsbescheid eine entsprechen- de Mittelsperre vorgesehen. Der Vierteljahreszeitraum soll genutzt werden, um die regionale Beteili- gung der Ärzteschaft und ihrer Selbstverwaltungen im Rahmen der Maßnahmen des Operations- handbuches herbeizuführen. Die- ser Beteiligung darf sich die Ärz- teschaft aber nun auch nicht ent- ziehen.

Forschungsvorhaben und Modell- versuche müssen im übrigen nach Abschluß daraufhin geprüft wer- den, ob der beabsichtigte Zweck damit erreicht werden kann. Erst dann ist zu entscheiden, ob dar- aus eine Dauereinrichtung wer- den kann.

Die Ärzteschaft hatte nach der po- litischen Wende im vergangenen Jahr vermehrt Gelegenheit, in Ge- sprächen mit den politisch Ver-

antwortlichen den ärztlichen Standpunkt zu vertreten. Für die ärztliche Argumentation war da- bei allerdings keine Wende nötig, sie basierte — wie schon immer — auf medizinisch-wissenschaft- lichen Erkenntnissen und den in täglicher ärztlicher Arbeit in Klinik und Praxis gewonnenen Erfahrun- gen. Es ist zu hoffen, daß während der laufenden Legislaturperiode der ärztliche Sachverstand besser berücksichtigt wird.

Gesetzgebung

nach der politischen „Wende"

Das gilt auch für eine Reihe von Gesetzesvorhaben, zum Beispiel zur Neuordnung der Kranken- hausfinanzierung, zur Regelung der finanziellen Folgen von Pfle- gebedürftigkeit, zur Novellierung der Nebentätigkeit für beamtete Ärzte, aber auch des Arzneimittel- rechtes und des Tierschutzes, um nur einige zu erwähnen.

Das gilt vor allem für die Neuord- nung der Ausbildung zum Arzt durch die Novellierung von Bun- desärzteordnung und Approba- tionsordnung. Die vom Bundesmi- nister für Jugend, Familie und Ge- sundheit, Dr. Heiner Geißler, vor- gesehenen Regelungen zur Si- cherung der Qualität der ärzt- lichen Ausbildung und zur Wah- rung des einheitlichen Arztberu- fes sind Schritte in die richtige Richtung. Sie lassen sich weitge- hend mit den Entschließungen Deutscher Ärztetage in Einklang bringen.

In der weiteren Beratungsphase sind sicher noch Änderungen nö- tig. Vor allem muß die zweijährige Tätigkeit als „Arzt im Praktikum"

zur Ausrichtung auf eine allge- meinärztliche Tätigkeit struktu- riert werden. Nur dadurch ist auch ein für alle Absolventen vergleich- barer Ausbildungsabschluß zu er- reichen. Die Weiterbildung zum Allgemeinarzt ist dann dadurch zu fördern, daß entsprechende Tätig- keitsabschnitte dafür genutzt wer- den können.

Zur langfristigen Sicherung der Qualität der Ausbildung zum Arzt ist jedoch eine Überarbeitung der Kapazitätsverordnungen der Län- der dringend nötig. Die Zahl der auszubildenden Medizinstuden- ten darf sich nicht weiterhin nach dem letzten freien Hörsaalplatz in der Vorklinik richten. Sie muß sich vielmehr an den tatsächlich vor- handenen Ausbildungsmöglich- keiten im klinischen Aubildungs- abschnitt orientieren. Sie be- stimmt sich daher nach der Zahl und der zumutbaren Belastung der lehrgeeigneten Patienten, die bekanntlich nicht beliebig ver- mehrbar ist. Der Entwurf der Ap- probationsordnung sieht vor, daß im Regelfall nicht mehr als vier Studenten an einem Patienten un- terwiesen werden sollen. Die be- hördliche Beschaffung von spe- ziellen „Patienten im Praktikum"

(PiP) auf dem Importwege für die künftigen „Ärzte im Praktikum"

(AiP) ist sicher nicht praktikabel.

Ohne Senkung der Zahl der Medi- zinstudenten ist also die Qualität der Ausbildung nicht zu sichern.

Mangelhaft ausgebildete und durch unzureichende praktische Erfahrung unsichere Ärzte kön- nen jedoch die Versorgung der Bevölkerung nicht nur verteuern, sondern sogar gefährden.

Auf klare Ablehnung der Ärzte- schaft stoßen Absichten, durch ein „Gesetz zur Sicherung des wirtschaftlichen Einsatzes von medizinisch-technischen Groß- geräten in der kassenärztlichen Versorgung" Investitionslenkung nunmehr auch auf den ambulan- ten Sektor auszudehnen und da- mit letztlich die Freiberuflichkeit in Frage zu stellen. Die politische Wende sollte doch gerade staat- liche Planung, Dirigismus und In- vestitionslenkungsmaßnahmen abbauen. Eigeninitiative und Ei- genverantwortung sollten dage- gen gefördert werden. Unter Nut- zung der Möglichkeiten der Selbstverwaltung muß daher eine unserem Wirtschafts- und Gesell- schaftssystem angemessene Lö- sung erarbeitet und staatlichen Planungs-, Pauschalierungs-, In-

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vestitionslenkungs- und -nivellie- rungsmaßnahmen eine klare Ab- sage erteilt werden.

Völlig unverständlich ist es auch, wie in einer scheinbar harmlosen Nacht- und Nebelaktion unter dem Deckmantel von „Fristverlän- gerung" und „Klarstellung" die erste Novellierung der amtlichen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) ohne Anhörung auch nur eines der unmittelbar von der Re- gelung Betroffenen zustande kommen konnte. Nicht nur die Ärzteschaft, sondern auch die Krankenhausträger sind überein- stimmend der Auffassung, daß diese Verordnung rechtlich wie faktisch undurchführbar ist und eine Flut von Rechtsauseinander- setzungen bewirken muß.

Wie berechtigt diese schon vor dem Inkrafttreten geäußerten Be-•

fürchtungen der Ärzteschaft sind, zeigen die geradezu hektische Betriebsamkeit und die höchst unterschiedlichen, ja völlig wider- sprüchlichen Lösungsversuche zur Regelung des Sachkostenab- zuges im Krankenhaus teils über die GOÄ, teils über die Bundes- pflegesatzverordnung — wir haben gerade heute eine neue Version gehört — und zur Vermeidung von Doppelbelastungen von Patien- ten. Unter oft kurzfristiger Termin- setzung von nur zwei Tagen ist ei- ne „Hearings-Hektik" ausgebro- chen. Die „Wende" ist gleichsam in Rotation geraten. Manche Lö- sungsvorschläge können nicht nur zu weiterer Rechtsunsicher- heit führen, sondern könnten bei Inkrafttreten eine völlige Aushöh- lung des Liquidationsrechtes im stationären Bereich bewirken.

Anhaltender Ärger

über die Gebührenordnung Gerade nach der groß angekün- digten Wende hatte die Ärzte- schaft ein derartiges Vorgehen nicht erwartet. Die wiederholten und nicht ausreichend durch- dachten Versuche, die Gebühren- ordnung nunmehr wiederum ein-

seitig zu Lasten der Ärzte zu ver- ändern, lassen die Sorge aufkom- men, daß die unbedingt nötige Rechtssicherheit nicht mehr ge- wahrt wird. Sie geben darüber hinaus Anlaß zu Befürchtungen, daß insgesamt die Glaubwürdig- keit der Bundesregierung in die- ser Frage Schaden erleiden könn- te. Ich habe deshalb unverzüglich um ein persönliches Gespräch mit dem Bundesarbeitsminister gebe- ten, das aus Termingründen leider nicht mehr vor dem Ärztetag statt- finden konnte, nunmehr aber für den 8. Juni 1984 vorgesehen ist.

Sowohl im Interesse der Glaub- würdigkeit der Regierung als auch einer künftig sachbezogenen er- folgreichen Zusammenarbeit hof- fe ich, daß es gelingt, gemeinsam Wege zu suchen und tragbare Lö- sungen zu finden, um die aus der bisherigen Anwendung der neuen Gebührenordnung festgestellten Unzulänglichkeiten bei der von Bundesminister Dr. Blüm nach ei- nem Erprobungszeitraum von zwei Jahren angekündigten Über- arbeitung zu eliminieren. Eine Ge- bührenordnung für Ärzte muß die Entwicklung der Medizin berück- sichtigen, sie darf nicht allein auf ökonomische Überlegungen von Versicherungsgesellschaften oder Beihilfestellen aufbauen.

Gesundheitspolitik ist nur dann vernünftig zu gestalten, wenn so- wohl medizinische als auch öko- nomische Orientierungsdaten be- rücksichtigt werden. Zunächst ist dafür eine klare Analyse aller in Frage kommenden Faktoren er- forderlich. Erst dann können rea- listische politische Zielformulie- rungen erfolgen. Um ein Kurieren an Symptomen zu vermeiden, ist die Entwicklung von spezifischen Parametern zur Beurteilung von Leistungsfähigkeit und Wirt- schaftlichkeit im Gesundheitswe- sen in Zusammenarbeit zwischen Ärzten und in Wirtschaftsfragen Sachverständigen erforderlich.

Nur dadurch ist Transparenz zu erreichen, nur dadurch ist zu ent- scheiden, ob zum Beispiel Selbst- beteiligung, rechtliche Verselb-

ständigung und Privatisierung Vorteile bringen. Nur dadurch können Anreize zu Leistung und wirtschaftlichem Verhalten richtig gesetzt werden.

Das sollte auch eine große Volks- partei berücksichtigen, die kürz- lich folgenden Beschluß faßte:

„Das Gesundheitswesen ist so zu reformieren, daß das Verhältnis von Leistung und Kosten verbes- sert wird. Es ist zu prüfen, welche Aufgaben langfristig den Versi- cherungssystemen und welche der öffentlichen Hand zugeordnet werden sollen und wie die Finan- zierung der verschiedenen sozia- len Aufgaben künftig gerechter geordnet werden kann." Dieses Zitat stammt nicht, wie vielleicht angenommen werden könnte, aus dem Programm der SPD. Es findet sich vielmehr in den Stuttgarter Leitsätzen der CDU.

Die Entwicklung aussagekräftiger medizinischer und ökonomischer Daten ist auch die entscheidende Voraussetzung, um die Versor- gung kranker Menschen nach dem jeweiligen Stand medizi- nisch-wissenschaftlicher Erkennt- nisse und technischer Möglich- keiten zu sichern. Eine Festle- gung der Ausgaben im Gesund- heitswesen ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten und deren Begrenzung an medi- zinfremden Wirtschaftsdaten ist fortschrittsfeindlich. Sie muß letztlich zur Rationierung und Zu- teilung von Leistungen im Ge- sundheitswesen führen. Die da- durch bedingte Verschlechterung der Versorgung wäre ein außeror- dentlich hoher Preis für schlecht durchdachte Sparsamkeit. Außer- dem hätte niemand mehr die Möglichkeit, seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend viel- leicht über das Notwendige Hin- ausgehendes zu wählen. Damit würde der mündige Bürger zum Objekt fachfremder Planungsda- ten und Administration und damit zum entmündigten Patienten.

Unter ethischen und nicht nur un- ter ökonomischen Aspekten stellt 1776 (42) Heft 22 vom 1. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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sich andererseits angesichts man- cher Entwicklungen die Frage, ob der Arzt tatsächlich immer alles tun darf oder sogar tun muß, was wissenschaftlich und technisch möglich ist. Auch wenn Fortschritt immer aus dem Überschreiten vorher für unüberwindbar gehal- tener Grenzen resultiert, könnte der Mensch durch den unkriti- schen oder leichtfertigen Einsatz moderner Technik immer mehr zum entpersonalisierten Objekt seelenloser Maschinen werden und seine Menschenwürde verlie- ren. Anspruchshaltung und Rechtsprechung allein dürfen auch nicht zum Einsatz des ge- samten, der modernen Medizin zur Verfügung stehenden Arse- nals in Diagnostik und Therapie führen, ohne daß ausreichend gründlich Nutzen und Risiken, Vor- und Nachteile gegeneinan- der abgewogen werden.

Die moderne Medizin kann Alte- rungsprozesse und Verschleiß ebensowenig wie alle Folgen selbstschädigenden Verhaltens beseitigen und den menschlichen Organismus vollständig und zeit- lich unbegrenzt reparieren. Dar- aus sollte jedoch nicht auf „Versa- gen" der Medizin geschlossen und eine völlige Abkehr von der Medizin oder eine Alternativmedi- zin gefordert werden, die gesi- cherte medizinisch-wissenschaft- liche Erkenntnisse ignoriert.

Die positiven Wirkungen ärzt- licher Behandlungsmaßnahmen für die Qualität des dem einzelnen Menschen verbleibenden Lebens- zeitraumes müssen in die Überle- gungen einbezogen werden. Na- türlich kann dies nicht so ausse- hen, daß man etwa den Wert eines Menschenlebens, wie in den USA geschehen, mit rund 300 000 US- Dollar ansetzt und die zu erwar- tenden Behandlungskosten dann der jeweiligen Resteinkommens- erwartung gegenüberstellt. Derar- tige Berechnungen wären im übri- gen bei Rentnern hinfällig, und es wäre in hohem Maße inhuman, et- wa aus dem für Rentner gegen- über den Mitgliedern der Kran-

kenkassen dreifach höheren Auf- wand, der oft im Alter bestehen- den langdauernden Pflegebedürf- tigkeit mit allen daraus resultie- renden finanziellen Konsequen- zen und der vielleicht bestehen- den „unsicheren Lebensperspek- tive" eine neue „soziale Indika- tion" zu entwickeln.

Es ist auch falsch, die Intensivme- dizin mit den noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Möglich- keiten, durch wirksame Behand- lung vielfach schwer- und schwerstkranken Menschen ei- nen sonst verlorenen Lebensab- schnitt zu erhalten, pauscha- lierend als „inhumane Maschi- nenmedizin" zu diffamieren und daraus die Forderung nach legali- sierter aktiver Sterbehilfe zu erhe- ben. Was dann zu erwarten wäre, zeigt in ebenso eindrucksvoller wie abstoßender Weise in diesen Tagen die Hackethal'sche „Zyan- kali-Tötung-Show" mit „Euthana- sie-Promotion" in einigen Me- dien.

Die angeschnittenen Fragen zei- gen, daß viele öffentliche Reaktio- nen keineswegs schlüssig, son- dern zwiespältig sind. Das wird besonders deutlich, wenn man sich öffentlich erregt über Embryonenhandel, „Uterus-Lea- sing", die Produktion von Über- schuß- und Tiefkühl-Embryonen für Experimente oder die Beseiti- gung von Abtreibungsabfällen als Sondermüll oder zur Herstellung von Heilmitteln oder Kosmetika und hierfür nach dem Gesetzge- ber ruft.

Der Arzt ist nicht Richter über Leben und Tod

Die gesetzliche Regelung eines derartigen „Gnadentodes durch Einschläferung" stünde in kras- sem Widerspruch zu ethischen Grundnormen ärztlichen Han- delns. Wenn in ausweglosen Si- tuationen bei Todkranken weitere Behandlungsmaßnahmen frag- würdig oder auch sinnlos werden, weil nicht mehr das Leben, son-

dern nur noch das Sterben verlän- gert würde, bleibt es ärztliche Verpflichtung, dem Sterbenden beizustehen und Leiden zu lin- dern. Der Arzt darf und will aber nicht durch Gesetz ermächtigt oder sogar verpflichtet werden, Richter über Leben und Tod zu spielen. Aktive „unechte" Sterbe- hilfe, also Lebensverkürzung durch Gabe eines tödlichen Mit- tels, ist daher mit allem Nach- druck abzulehnen. Tötung und Beihilfe zur Tötung menschlichen Lebens ist mit der ärztlichen Ethik nicht vereinbar und aus guten Gründen strafbar. Bereits der 84.

Deutsche Ärztetag hat 1981 in Trier dazu eine richtungweisende Entschließung gefaßt, die unver- ändert gilt und der auch heute nichts hinzuzufügen ist.

Tötung menschlichen Lebens ist sowohl am Ende als auch am An- fang strafbar. Die Novellierung des Paragraphen 218 des Strafge- setzbuches hat deshalb auch kein

„Recht auf Abtreibung" mit der Verpflichtung zur Kostenübernah- me durch die Solidargemein- schaft der gesetzlichen Kranken- versicherung begründet, sondern den Schwangerschaftsabbruch le- diglich unter gewissen Vorausset- zungen von Strafe freigestellt.

Es ist erstaunlich, daß diese mas- senhafte Tötung menschlichen Lebens nicht ebenso großen öf- fentlichen Protest hervorruft wie zum Beispiel die Bedrohung menschlichen Lebens durch ge- waltsame kriegerische Auseinan- dersetzungen, insbesondere mit Nuklearwaffen, oder auch wie Probleme des Tierschutzes. Gilt etwa die Ehrfurcht vor dem Leben nur mit gewissen Einschränkun- gen? Wäre nicht gerade unser so- zialer Rechtsstaat, der doch wohl eher ein Wohlfahrtsstaat ist, drin- gend aufgerufen, soziale Proble- me auf andere Weise als durch Tötung zu lösen? Oder sollte etwa die Art des Tötungsinstrumentari- ums ausschlaggebend dafür sein, ob eine Protesthaltung eingenom- men wird oder ob Tötung gar als sozialer Fortschritt gefeiert wird?

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Ärztliche Arbeit in Ehrfurcht vor jedem Menschenleben Der Gesetzgeber wird jedoch kaum weiterhelfen können. Wich- tiger und erfolgversprechender scheint es daher, sich wieder auf die Grundwerte menschlichen Le- bens und menschlichen Zusam- menlebens in der Gemeinschaft zu besinnen. Zur Sicherung wich- tiger Voraussetzungen für sinn- volles ärztliches Handeln muß sich der Arzt über sein medizini- sches Fachwissen hinaus mit den geistigen Grundlagen unserer Zeit und unserer Gesellschaft aus- einandersetzen. Dazu gehört auch die Beachtung und Erfor- schung der sich rasch wandeln- den Umwelt, der sich ebenso stark verändernden sozialen Mit- welt und der dadurch neu auftre- tenden Probleme. Auf sie muß der Arzt sein Augenmerk richten, wenn er seinen ethischen Ver- pflichtungen und seinen ärzt- lichen Aufgaben auch in Zukunft gerecht werden will. Das gilt in be- sonderem Maße für die in allen Di- mensionen noch kaum über- schaubaren Entwicklungen in der

Gentechnologie mit Möglich- keiten zu Veränderung und Mani- pulation der gesamten Erbsub- stanz, zur Züchtung identischer Menschen. Ja sogar eine Kreu- zung zwischen Mensch und Tier erscheint nicht mehr ausge- schlossen.

Angesichts der unermeßlich ge- steigerten Möglichkeiten moder- ner Medizin und Naturwissen- schaft darf sich die Ärzteschaft nicht dem Vorwurf aussetzen, sie interessiere sich nur für techni- schen und apparativen Fort- schritt. Das wäre eine neue Art von „Medizin ohne Menschlich- keit". Ärztliche Arbeit aber ist Dienst an der Menschlichkeit, ist Ehrfurcht vor jedem Menschenle- ben. Die Ärzteschaft muß sich da- her aus ihrer Sachkunde mit über- zeugender Argumentation für ei- ne medizinische Orientierung bei der Weiterentwicklung unseres sozialen Sicherungssystems und der Erhaltung der Finanzierbar- keit einsetzen und darf die Festle- gung von Prioritäten und die Ge- staltung der Gesundheitspolitik nicht allein Ökonomen, Juristen

und Politikern überlassen. Dar- über hinaus ist ein gegenüber früheren Zeiten verstärktes Be- mühen der Ärzteschaft um die Einhaltung ethischer Grundsätze nötig. Es genügt nicht, diese Grundsätze nur zu lehren und über sie zu reden. Die Einhaltung ethischer Normen muß vorbildlich vorgelebt werden. Dann ist und bleibt ärztliche Haltung überzeu-

gend.

Iregeenteitetomermalitionie

„Drogenabhängigkeit, Alkoholismus und Medikamentenmißbrauch" hieß der Tagesordnungspunkt I der Arbeitssit- zungen des Ärztetagsplenums. Einfüh- rende Referate hielten Dr. P. Erwin Odenbach, Landeskriminaldirektor Hans Werner Hamacher, Ltd. Medizinal- direktor Dr. Helmut Hünnekens, Prof.

Dr. Wilhelm Feuerlein, Prof. Dr. Wolf- gang Poser — auf dem Bild mit Dr. Kar- sten Vilmar und Prof. J. F. Volrad Dene- ke bei der Pressekonferenz am 16. Mai.

Bericht und Entschließungen auf den folgenden Seiten

1778 (48) Heft 22 vom 1. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

Referenzen

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