Kiel. Statt für seine Patienten da zu sein, müsse er immer mehr „Bürokra- tiekram“ bewältigen.
Ein Missstand, den auch die Patien- ten von Dr. med. Martin Jerwinen aus Elmshorn bestätigen können. Viele von ihnen seien verärgert, dass in Zeiten knapper Kassen immer mehr Sozial- versicherungsgelder für unsinnige Ver- waltungsakte verschwendet würden, berichtet der niedergelassene Lungen- arzt. Dieses Geld müsse dann an ande- rer Stelle eingespart werden, was zu Ge- setzen wie dem Arzneimittel-Sparpaket führe. „Sollte die darin enthaltene Bo- nus-Malus-Regelung tatsächlich kom- men, wird meine Praxis nach einem Quartal pleite sein“, prognostiziert der Facharzt düster.
1 000 rote Luftballons
Die Sorgen um eine verfehlte Kosten- dämpfungspolitik teilen auch Patien- tenvertreter. Hermine Nock, Geschäfts- führerin des Bundesverbandes herz- kranker Kinder, nutzt deshalb die Gele- genheit, bei der Abschlusskundgebung der Ärztedemonstration zu sprechen.
Sie warnt die Politik davor, Sparmaß- nahmen anzustoßen, ohne die Folgen zu bedenken. Einsparungen dürften nicht einfach mit der Rasenmäher-Methode vorgenommen werden.
Ob Bundesgesundheitsministerin Schmidt die Abschlusskundgebung vor ihrem Haus verfolgt, lässt sich nicht er- kennen. Falls sie im Ministerium ist, kann sie die „Schmidt-muss-weg“- Sprechchöre der Demonstranten un- möglich überhören. Ebenso wenig die Warnung von Dr. med. Kuno Winn,Vor- sitzender des Hartmannbundes, die Mi- nisterin werde bei weiteren Reformen an den geschlossenen Reihen der Ärz- teschaft nicht mehr vorbeikommen:
„Auch deshalb, weil wir uns nicht mehr von der Politik auseinander dividieren lassen.“
Ihre Anliegen heften die Ärzte zum Schluss an 1 000 rote Luftballons, die sie aufsteigen lassen. Doch wegen des starken Ostwindes bleibt kein einziger Ballon am Ministerium hängen. Die meisten nehmen dafür Kurs nach Nordwesten. Dort liegt das Kanzler- amt. Samir Rabbata, Timo Blöß
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A160 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 4⏐⏐27. Januar 2006
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ereitschaftszeit ist keine Arbeitszeit – lautet die Begründung von Kran- kenhausverwaltungen, Überstunden einfach zu ignorieren. Ist sie doch und soll anständig bezahlt werden, meinen unsere Kollegen im Kran- kenhaus und streiken dafür. Ich kann diese Diagnose nur bestätigen, auch ich hatte während meiner Assistenz- und Oberarztjahre kaum Gelegenheit, mich erfrischenden REM-Phasen hinzugeben. Allzeit bereit sein, so hieß es, Magenspülungen bei Schlafmittelintoxikierten durchzuführen, Platzwun- den nach Kneipenschlägereien zu nähen, Asthmatiker aus ihrem Status zu helfen. Wenn man trotzdem nachts um zwei Gelegenheit fand, dem impera- tiven Schlafdrang nachzugeben, wurde man eine Viertelstunde später zur Privatstation gerufen, weil eine Patientin dringendst ärztliche Fürsorge ein- forderte. Weil sie nicht schlafen konnte. Nun, diese Patientin scheint es im- mer und überall in den Kliniken zu geben, in denen Assistenzärzte Nacht- dienste machen. Zeit zum Räsonieren über die Sinnhaftigkeit solcher Her- ausforderungen im Allgemeinen und Schlafentzug im Besonderen hatte man freilich nicht, kündigten sich doch ganz getreu der Uhrzeit die nächsten Myokardinfarkte an. Der Tag darauf war gekennzeichnet durch Koffeinabu- sus, der es jedoch nicht immer vermochte, den Grauschleier der Müdigkeit zu heben. Nach 30 Stunden am Stück fingen die Buchstaben vor den Augenan zu tanzen, der Unterschied zwischen CRP (kardioreaktives Protein) und CPR (kardiopulmonale Reanimation) war nicht mehr zweifelsfrei zu erken- nen. Da konnte es schon passieren, dass man einem kardial völlig beschwer- defreien Patienten auf dem Brustkorb herumhüpfte. Nach Klärung des Miss- verständnisses wurde dies als vergnügliches Krankenhauskolorit abgetan.
Das Besiegen des imperativen Schlafdrangs war im OP integraler Bestand- teil ärztlicher Ausbildung, allerdings durfte der dahinschlummernde Kopf nicht in das OP-Gebiet sinken, weil dieses bakteriell kontaminierend. Aber die schlafbedingte Sehschwäche förderte die Breite der chirurgischen Aus- bildung, so gab die versehentliche Ligatur des Harnleiters oder einer wichti- gen Arterie guten Anlass, seine Kenntnisse in rekonstruktiven urologischen oder gefäßchirurgischen Techniken zu erweitern. Ich vermute, dass segens- reiche chirurgische Manöver wie die Z-Plastik von völlig übermüdeten Kol- legen geboren worden sind, die ihrer Schnittführung nicht mehr ganz Herr waren. Vielleicht lag auch der Erfindung des Herzkatheterismus ein kon- zentrationsbedingter Irrtum zugrunde, kamen doch die damals verwende- ten Katheter aus der Urologie.
Was waren wir damals für Kerle! Über 70 Stunden die Woche, über 32 Stunden am Stück gearbeitet, danach Artikel geschrieben, Vorträge vorbe- reitet, Briefe diktiert. Mit schlafestrunkener Sicherheit Blinddärme gescho- ben und Herzkatheter operiert! Was haben wir uns lu- stig gemacht über LKW-Fahrer und Piloten, diese Weicheier mit den gesetzlich vorbeschriebenen Ruhe- zeiten!
Aber wenn ich selbst unters Messer müsste: Meine er- ste Frage wäre die nach der Vigilanz des Operateurs. Ich würde so lange streiken, bis er ausgeschlafen ist! Aber das könnte sehr, sehr lange dauern. Daher darf man nicht so lange warten. Mit dem Streiken. Dr. med. Thomas Böhmeke