Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 42⏐⏐17. Oktober 2008 A2193
P O L I T I K
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ir sollten die Ziele, ein selbst- bestimmtes Leben zu führen und nicht in Armut zu enden, weiter fest im Blick haben“, heißt es am 26.September im „Tagebuch eines Hun- gerstreiks“ (www.conterganhunger streik.de). In Streik getreten sind am 18. September vier Contergange- schädigte sowie die Mutter eines der Opfer. Sie haben ihr Quartier im Ge- meindezentrum der evangelischen Kirchengemeinde Altenberg/Schild- gen bezogen. Die Hungerstreikenden fordern eine Verdreifachung der monatlichen Entschädigungszahlung von derzeit maximal 1 090 Euro auf dann maximal 3 270 Euro. Diese Gelder soll die Bundesregierung in die bereits existierende Contergan- stiftung einbringen. Außerdem er- warten sie „durchschnittlich eine Million Euro Schmerzensgeld und Schadenersatz für die durch die Fir- ma Grünenthal GmbH verursachten körperlichen, sozialen und seeli- schen Schäden und die lebenslängli- che Verdienstbehinderung für alle überlebenden Contergangeschädig- ten in Deutschland.“ Einzubringen seien die Gelder durch Grünenthal oder deren Eigentümerfamilie Wirtz in die bestehende Conterganstiftung.
„Es liegt nun in Ihren Händen, un- ser Angebot, das unter die jahrzehn- telangen Schmerzen und dem unend- lichen Leid einen würdevollen Schlussstrich ziehen würde, anzu- nehmen“, schrieb das Hungerstreik- komitee der deutschen Conterganop- fer, das von der Internationalen Con- tergan Thalidomid Allianz (ICTA) unterstützt wird, an Sebastian Wirtz, den geschäftsführenden Gesellschaf- ter der Firma Grünenthal. Demge- genüber hat der Bundesverband der Contergangeschädigten moderatere Forderungen. Zwar erwartet auch er eine Verdreifachung der monatli- chen Entschädigungszahlungen, der Bundesverband verlangt allerdings
lediglich eine nachträgliche Einmal- zahlung in Höhe von durchschnitt- lich 100 000 Euro an jedes Conter- ganopfer.
Der Bundestag hatte zum 1. Juli 2008 eine Verdopplung der Renten für Contergangeschädigte beschlos- sen. „Die Höhe des ausgezahlten Geldes richtet sich nach dem jewei- ligen Schädigungsgrad und beginnt bei einem Betrag von 242 Euro. Da- von kann man schon unter normalen Umständen sehr eingeschränkt le- ben – für einen mehrfach Schwerst- behinderten ist diese Summe deut- lich zu gering“, stellte das Hunger- streikkomitee der deutschen Conter- ganopfer fest. Dass eine angemesse- ne Entschädigung der Opfer nicht erreicht werde, darin stimmten auch Fachleute bei einer Anhörung des Familienausschusses des Bundes-
tags überein (dazu DÄ, Heft 25/
2008). Die Finanzmittel der 1971 per Gesetz errichteten öffentlich- rechtlichen Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ sind bereits seit dem Jahr 1997 aufgebraucht. Seit- dem erfolgt die Rentenzahlung voll- ständig aus dem Bundeshaushalt.
Die Firma Grünenthal hatte im Mai zugesagt, freiwillig 50 Millio- nen Euro in mehreren Schritten in die bestehende Conterganstiftung einzuzahlen. „Wir werden auf die- sem von uns bewusst eingeschla- genen Weg des Brückenschlags so- wie der Offenheit und Fürsorglich- keit weitergehen“, schrieb die Spre- cherin des Unternehmens, Dr. An- nette Fusenig, an die Hungerstrei- kenden. „Wir verstehen, dass Sie auf Ihre Lebenssituation aufmerk- sam machen wollen, lehnen aber Druck durch Aktionen ab. Wir ap- pellieren mit aller Leidenschaft an Sie, Ihre Gesundheit nicht weiter zu gefährden und Ihre Aktion umge- hend zu beenden.“ Mit der ICTA, die bereits zahlreiche aggressive Maßnahmen gegen Grünenthal be- schlossen habe, werde man sich nicht an einen Tisch setzen, sagte Fusenig. „Grünenthal wird den Dia- log mit dem legitimierten Opferver- band, dem Bundesverband Conter- gangeschädigter, und der Bundesre- gierung weiter fortsetzen.“
Auf die gesundheitlichen Spätfol- gen der Contergankatastrophe hatte bei der Anhörung des Familien- ausschusses bereits der Orthopäde Dr. med. Jürgen Graf hingewiesen.
Wer ohne Arme geboren sei und sämtliche Tätigkeiten mit den Füßen erledigen müsse, überlaste zwangs- läufig Hüftgelenke und Wirbelsäule.
„Wir haben bereits heute Körper von 80- bis 90-Jährigen“, sagte der Sprecher der Hungerstreikenden, Christoph Lechtenböhmer. I Gisela Klinkhammer
CONTERGANGESCHÄDIGTE
Hungerstreik für bessere Entschädigungen
Conterganopfer fordern unter anderem eine Verdreifachung der monatlichen Entschädigungszahlungen. Die Firma Grünenthal lehnt „Druck durch Aktionen“ ab.
Der Bundestag hatte eine Verdopp- lung der Renten für Contergangeschä- digte beschlossen.
Die Hungerstreiken- den halten diese Summe für „deutlich zu gering“.
Foto:dpa