• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Gruppenpraxismodelle in den Niederlanden" (17.02.1977)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Gruppenpraxismodelle in den Niederlanden" (17.02.1977)"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

stemimport aus Holland?

Vergleiche sind gefährlich

Bei internationalen Vergleichen stellt sich zwangsläufig die Frage:

Sind die Erfahrungen eines Landes auf ein anderes übertragbar? Sind die Voraussetzungen für das Ent- stehen einer bestimmten Gruppen- praxisform nicht in allen Ländern derart unterschiedlich, daß Einblik- ke hier und dort bestenfalls „touri- stischen" Wert haben?

Skepsis ist angebracht. Die Bereit- schaft, von anderen Ländern zu lernen, ist kein Wert an sich. Die Assimilation fremder Erfahrungen auf die eigenen Bedingungen setzt Problembewußtsein voraus. So ist bekannt, daß die heute in deut-

schen Gruppenpraxen gebräuchli- chen Musterverträge aus Frank- reich importiert und an deutsche Verhältnisse angepaßt wurden. In Frankreich existieren für Ärzte bis- her die „Sociötö civile immobi- 1 öre" und die „Sociötö de mo- yens", Rechtsformen also, die die gemeinsame Nutzung vertraglich regeln. Eine Rechtsform für die ge- meinsame Berufsausübung war zur Zeit der Vertragsadaption auf deut- sche Verhältnisse in Frankreich noch nicht durchgesetzt. Die bei uns gebräuchlichen Musterverträge regeln inhaltlich daher insbesonde- re die Fragen der gemeinsamen Nutzung, nicht die Fragen der Ko- operation.

Gruppenpraxismodelle in den Niederlanden

Bodo Kosanke

„Trotz Seelenpauschale Sorgen mit den Krankheitskosten" lau- tete der Titel einer dreiteiligen Serie über das niederländische Gesundheitswesen, die das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT in den Heften 31 bis 33/1976 ver- öffentlicht hatte. Kernaussage:

Auch Holland blieb von der „Ko- stenexplosion" nicht verschont.

Das „Projekt Gruppenpraxen", gefördert von der Stiftung „Zentral- institut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland", führt eine Reihe von Untersuchungen durch, die das Thema Gruppenpraxen zum Gegenstand haben. Schwerpunkte wur- den gebildet für die Analyse des beruflichen Entscheidungsprozes- ses junger Ärzte, die Analyse ärztlicher Kooperation in Abhebung von gemeinsamer Nutzung (von Räumen, Apparaten, Personal), fer- ner für die Klärung der Beziehung zwischen Gesundheitssystemen und ihren fördernden und hemmenden Einflüssen für die Entste- hung von Gruppenpraxen. In diesem Zusammenhang wird eine Mo- nographie erstellt, die einen internationalen Vergleich von Grup- penpraxis-Bewegungen zum Thema hat. Im folgenden wird als Aus- schnitt aus dieser Monographie der Holland-Bericht') resümiert, der für die neuere Entwicklung von Gruppenpraxen in der Bundesrepu- blik von besonderem Interesse ist.

Ich danke Herrn Prof. Dr. Polak von der fakulteit der geneeskunde der Uni- versiteit Amsterdam für seine großzügi- ge und bereitwillige Unterstützung un- serer Untersuchung

Wurde die Entwicklung im eigenen Lande einseitig beeinflußt, indem man von einem anderen Land lern- te? Wären Gruppenpraxen für jun-

451

(2)

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Gruppenpraxismodelle in den Niederlanden

ge Ärzte in Deutschland attraktiver, wenn die Möglichkeiten der Ko- operation genauso entwickelt wä- ren wie die heute vielfältig entwik- kelten Formen der gemeinsamen Nutzung (dezentrale Praxisgemein- schaftsformen, zentrale Praxisge- meinschaften)?

Trotz aller Skepsis lassen sich bei einem internationalen Vergleich ei- nige allgemeine Punkte herausstel- len, die sich für Gruppenpraxis-Be- wegungen offenbar günstig auswir- ken. So scheint die Initiative der Ärzte in jedem Falle bei Gruppen- praxisprojekten unerläßlich. Ver- schiedene Gesundheitssysteme können die Anlaufphase, in der die Ärzte gezwungen sind, nach Ad- hoc-Lösungen für die gewünschte Kooperationsform zu suchen, allen- falls verlängern oder verkürzen. In- itiativen von seiten Dritter sind im- mer problematisch und meistens erfolglos.

So wurde in England die Gruppen- praxis schon ab 1948 eindeutig von der Regierung favorisiert. Zu einer breiten Gruppenpraxis-Bewegung aber kam es erst, als die Allge- meinpraktiker in der Gruppenpra- xis die Chance einer neuen Qualifi- kation für ihren Beruf sahen, eine neue Konzeption für die ambulante Versorgung entwickelten, die nur in der ärztlichen Kooperation reali- sierbar war.

Ein entgegengesetztes Beispiel: In Frankreich war weder das Gesund- heits- noch das Steuersystem für die Entstehung von Gruppenpraxen sonderlich günstig. Aber die Unter- versorgung einzelner Regionen war katastrophal, die psychische und physische Belastung der Ärzte in diesen Regionen unerträglich.

Trotz aller Widerstände schlossen sich die Ärzte zusammen, schufen Ad-hoc-Lösungen („wilde" Grup- pen), die erst heute allmählich sei- tens des Staates allgemeine Aner- kennung (über verbale Erklärungen hinaus) erlangt haben.

Ein Hauptgrund, der die niederlän- dische Entwicklung der Gruppen- praxen für die deutschen Verhält-

nisse interessant erscheinen läßt:

Die Lage in den Niederlanden war vor einigen Jahren noch durchaus vergleichbar mit der Situation in der Bundesrepublik Deutschland heute.

Es gab Gruppenpraxen, aber sie spielten keine hervorragende Rolle in der ambulanten Versorgung. Da die primäre Zielsetzung die ge- meinsame Nutzung von Räumen, Apparaten und Personal war, brachten sie für die ambulante Ver- sorgung eine bessere, aber keine auch für Außenstehende überzeu- gend neue Qualität. Dabei hätte es bleiben können. Eine Wirkung in die Breite war dieser „Bewegung"

nicht beschieden. Die Chancen ärztlicher Kooperation waren nicht überzeugend genutzt.

Beginn einer neuen Entwicklung Was passierte? Nichts Bedeuten- des. Entwicklungen, wie sie in al- len modernen Industriestaaten zu beobachten sind.

Am Rande von Rotterdam wurde eine Trabantenstadt errichtet. In wenigen Jahren zählte sie weit über 20 000 Einwohner. Ärzte gab es keine. Bei Honorierung per ca- pita und per anno war eine Nieder- lassung in einem Gebiet mit star- ker Mobilität (70 Prozent Durch- gangsbevölkerung in drei Jahren!) wenig interessant.

In Limburg wurde eine Monoindu- strie niedergelegt, die Kohlenze- chen wurden geschlossen. Die da- mit verbundenen sozialen Proble- me machten sich auch in den ärzt- lichen Praxen bemerkbar. Medika- mente halfen da wenig. Im Gegen- teil, sie förderten die Somatisie- rung sozial bedingter Krankheiten.

In Amsterdam war außer einem sa- nierungsbedürftigen alten Stadtteil die Mittelschicht abgewandert. Der Abriß der alten Häuser wurde durch Bürgerinitiativen verhindert.

Fortan lebte dort eine typische Durchgangsbevölkerung: Gastar- beiter, Expatriierte der ehemali- gen Kolonien, Studenten, Bohe- miens, sog. „Lumpenproletariat".

Das Leben war gekennzeichnet durch Alkoholismus, Drogen, nächtliche Schlägereien. Auch hier war keine existenzsichernde Arzt- praxis aufzumachen.

Das sind Krisensituationen, Versor- gungslücken, wie sie für die ambu- lante Versorgung nicht typisch sind, aber doch überall wieder zu beobachten sind. Sie hätten auch keine ungewöhnlich neue Konzep- tion ambulanter Versorgung zur Folge gehabt, wenn es in den Nie- derlanden nicht eine alte Tradition gegeben hätte: die „Kruis Vereni- gingen" (Kreuz-Vereinigungen).

Die Initiative der Ärzte, aufbauend auf dieser Tradition, führte zu Lö- sungen, die — vor zehn Jahren in den Niederlanden noch unvorstell- bar — heute als Modelle ambulan- ter Versorgung gelten und daher auch in Gebieten realisiert werden, in denen die ambulante Versor- gung nicht durch eine Krisensitua- tion gekennzeichnet ist.

Die beschriebenen Krisensituatio- nen gaben holländischen Ärzten die Möglichkeit, besonders ein- dringlich zu machen, was für den Informierten schon lange keine Neuigkeit mehr ist: Es werden heu- te in der ambulanten Versorgung des öfteren Krankheiten beobach- tet, die psychisch oder sozial be- dingt sind. Eine traditionelle Be- handlung kann sie nicht heilen, wohl aber somatisieren. Die Soma- tisierung ist dann oft der Anfang ei- ner langen „Patientenkarriere": der Patient wird zum Facharzt überwie- sen, ins Krankenhaus, er macht Kuren, er wechselt den Arzt — eine kafkaeske Situation.

Diese „Karriere" kann den Patien- ten in lebenslange „medizinische Abhängigkeit" bringen. Sie kann aber auch durch eine der psychi- schen oder sozialen Bedingtheit der Krankheit entsprechende Be- handlung vermieden werden.

Besitzt der Hausarzt hierfür die nö- tige Ausbildung? Wer vermittelt hierfür nötige Qualifikationen?

Und woher soll der Arzt die Zeit für die sehr zeitintensiven Behandlun-

452 Heft 7 vom 17. Februar 1977 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(3)

gen nehmen? Woher die Zeit, sich die nötigen detaillierten Kenntnisse der speziellen sozialen Umwelt sei- ner „Problempatienten" anzueig- nen? In dieser Situation bekam die Arbeit der Kreuz-Vereinigungen eine neue Bedeutung. Ihre Ge- schichte soll an dieser Stelle nicht bis zu den „Beguinen" des Mittel- alters zurückverfolgt werden. Her- vorzuheben ist, daß die „Gemein- deschwestern" der Kreuz-Vereini- gungen nicht nur pflegerische Dienste leisten. Sie heißen auf hol- ländisch „wijkverpleegster". Das kommt dem deutschen Begriff des

„Gemeindewesenarbeiters" nahe.

Die Arbeit der „wijkverpleegster"

ist gemeindeorientiert (wijk=Stadt- teil, Gemeinde; vicus = Dorf) und bezieht daher soziale Probleme mit ein. Der „Wijk"-Gedanke, der in den Niederlanden eine starke Überzeugungskraft hat, bedeutet auch, daß die verschiedenen Ver- sorgungsleistungen dezentralisiert sind. Man geht von den konkreten Problemen am Orte aus und kann hierfür in relativer Selbständigkeit Initiativen entfalten.

Provoziert durch die Krisensituatio- nen, ergriffen einige Ärzte die Initia- tive. Sie wußten, daß sie nicht die Qualifikationen hatten, um mit den anstehenden Problemen allein fer- tig zu werden. Es war ihnen von Anfang an klar, daß sie mit den

„wijkverpleegstern" würden inten- siv kooperieren müssen. Sie ent- wickelten ein Konzept der ambu- lanten Versorgung in „Problemge- bieten", das sie unter den Begriff der „integralen eerste lijnsgezond- heidszorg" (umfassende ärztliche Primärversorgung) faßten.

Die Ärzte waren überzeugt, daß durch umfassende Versorgung, d.

h. durch eine ambulante Versor- gung des Patienten in seiner sozia- len Umwelt, viele negative „Patien- tenkarrieren" vermieden werden könnten. Die alltäglich anfallende Arbeit macht den Arzt von seiner Praxis fast unabkömmlich. Er kann Notfälle aufsuchen, aber nicht au- ßerhalb der Praxis intensiv behan- deln. Aufgabe der „wijkverpleeg- ster" und Sozialarbeiter hingegen

ist es, alte Menschen zu pflegen, vom Krankenhaus entlassene Pa- tienten zu betreuen, sich mit Fami- lien-, Wohn- und Arbeitsproblemen zu befassen.

In Problemgebieten, wie sie oben charakterisiert wurden, ist aller- dings auch die Arbeit der „wijkver- pleegster" und Sozialarbeiter nicht immer ausreichend. Die Schwierig- keit ihrer Arbeit läßt sich mit dem Satz umschreiben: Der Patient sucht den Arzt auf, er wird vom Sozialar- beiter, von der „Gemeindeschwe- ster" aufgesucht. Viele Problemfäl- le werden daher von den entspre- chenden Institutionen lange nicht wahrgenommen. Sie entwickeln sich bis zu einem ernsten Stadium und suchen dann nicht den Sozial- arbeiter oder die „Gemeinde- schwester", sondern ihren Arzt auf.

In den aufgezeigten Problemgebie- ten kann die Zusammenarbeit von Ärzten und paramedizinischen Be- rufen daher eine ideale gegenseiti- ge Ergänzung bedeuten.

Durch beständige interdisziplinäre Konsultation und wechselseitiges Lernen sollten, so war die Konzep- tion der ärztlichen Initiatoren, für ein bestimmtes Gebiet, für einen sehr genau eingrenzbaren Pro- blembereich die nötigen spezifi- schen Kenntnisse für die „umfas- sende ärztliche Primärversorgung"

erworben werden.

Ähnliche Gedanken waren schon geäußert worden. Die englischen Gesundheitszentren waren be- kannt. Das „Nederlandse Huisart- sen Instituut" war eingerichtet wor- den zur speziellen Ausbildung der Allgemeinmediziner und Ausarbei- tung einer „umfassenden" Allge- meinmedizin in dem oben darge- legten Sinne. Aber dieses Konzept der ambulanten Versorgung blieb nicht auf allgemein abstrakter Ebe- ne, sondern hatte konkrete organi- satorische Implikationen, die be- denklich stimmten:

I> „Gemeindeschwestern" sind von (verschiedenen!) Kreuz-Vereini- gungen angestellt. Weder hatten bisher verschiedene Kreuz-Vereini-

gungen intensiv zusammengearbei- tet, noch auch mit den Trägerorga- nisationen der Sozialarbeiter ko- operiert. Sie befürchteten, an Wei- sungsbefugnissen zu verlieren.

> Das Subsidiaritätsprinzip (für die Kreuz-Vereinigungen) würde sich mit der Freiberuflichkeit der Ärzte mischen.

> Das Maßnehmen am britischen Vorbild und die Umfänglichkeit des Projektes legten den Verdacht nahe, die Initiative der Ärzte würde bald durch die Initiative des Staa- tes oder der Krankenkasse abge- löst. In den Niederlanden wird aber größter Wert gelegt auf eine dezen- tralisierte Versorgung; die Versor- gung soll spezifisch auf ein be- stimmtes Gebiet (wijk) abgestimmt sein.

> Wie sollte eine interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich sein, wo die multidisziplinäre Zusammenar- beit allein unter Ärzten kaum mög- lich war (Fachärzte arbeiten in den Niederlanden vornehmlich am Krankenhaus).

Die Idee schien als Idee nicht schlecht, ansonsten aber nur eine Anhäufung ungewöhnlicher Schwie- rigkeiten. Wie sollten sie gelöst werden?

Krankenkassen

müssen langfristig kalkulieren Die Krankenkassen nahmen das Konzept gern auf. Sie legten in ei- nem Bericht ihr kurzfristiges und langfristiges Kalkül für Gesund- heitszentren und Gruppenpraxen offen („Adviesrapport van de Zie- kenfondsraad over de Ontwikkeling van Groepspraktijken en Gezond- heidscentra" vom 12. Juni 1972):

„1. Die Krankenkassen gehen da- von aus, daß Gesundheitszentren und Gruppenpraxen im Aufbau und in der Unterhaltung kostspieliger sind als Einzelpraxen. Der Kran- kenkassenvorstand schlägt vor, daß die Gesundheitszentren und Gruppenpraxen „accountantsrap- porte" führen, damit das Ausmaß

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 7 vom 17. Februar 1977 453

(4)

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Gruppenpraxismodelle in den Niederlanden

der Mehrkosten verläßlich festge- stellt werden kann.

2. Es wird weiter vorgeschlagen, daß das Honorar für die Ärzte in ei- nem Gesundheitszentrum losgelöst wird von der 1800-Patienten-Gren- ze. [Die niederländischen Ärzte er- halten für Patienten über dieses Limit hinaus wegen der günstigeren Amortisierung nur einen Bruchteil des normalen Per-capita-Honorars.

Der Verf.]

3. Die Krankenkassen sind über- zeugt, daß die zunächst höheren Investitionen für die Gesundheits- zentren und Gruppenpraxen sich auf die Dauer als kostensenkend erweisen werden, weil eine umfas- sende Gesundheitsversorgung die Einweisung in ein Krankenhaus und (damit) zum Spezialisten in vielen Fällen unnötig macht"

[Übers. des Verf.].

Die niederländischen „Hausarzt-In- stitute" sahen in dem Konzept der

„umfassenden ärztlichen Primärver- sorgung" eine willkommene Kon- kretisierung ihrer Ausbildungsar- beit. Das Gesundheitsministerium bot an, fünf Gesundheitszentren als Modellversuche aus dem „experi- menteerpot" zu subventionieren.

Dieses Entgegenkommen auf höch- ster Ebene bedeutete für die Ärzte aber noch kein grünes Licht. Durch die Dezentralisierung („wijk-Gebun- denheit) haben die verschiedenen Institutionen der Gesundheitsver- sorgung auf lokaler Ebene eine re- lative Selbständigkeit. Sie vor al- lem mußten überzeugt werden. Vor allem hier mußte sich zeigen, ob die Idee realistisch war.

Langwierige Verhandlungen auf lokaler Ebene

Gruppenpraxis-Formen haben sich in verschiedenen Ländern in sehr verschiedener Weise realisiert. Mi- schen sich das Fürsorge-, Vorsor- ge- und Versicherungsprinzip, liegt viel an der ärztlichen Initiative. Bei einheitlich strukturiertem Gesund- heitssystem bei gleichzeitig zen- tralistischer Organisation müssen die gruppenpraxisprojektierenden Ärzte etwa auf das Inkrafttreten ei-

nes bestimmten Gesetzes warten.

Die Möglichkeiten der Initiative sind dann eventuell für lange Zeit paralysiert, oder die Ärzte gehen vorübergehend in die Politik, rich- ten Selbsthilfe-Institutionen ein, wie es in Frankreich sehr ausge- prägt geschehen ist. Durch die po- litiSche Arbeit werden aber auch unliebsame Fronten geschaffen.

Die niederländischen Ärzte haben auf zwei Ebenen für ihr Projekt gearbeitet. Einmal in den vielfälti- gen Kommissionen auf nationaler Ebene. Vor allem aber auf der lo- kalen Ebene. Die Schwierigkeiten erwiesen sich hier, trotz großer Verhandlungsbereitschaft auf allen Seiten, als hartnäckig.

Mit der Gemeinde verhandelten die Ärzte wegen der Übernahme einer (wenigstens teilweisen) Bürgschaft für das Projekt. Mit den verschie- denen (!) lokalen Kreuz-Vereinigun- gen verhandelten sie, um von ihnen die paramedizinischen Mitarbeiter zugesprochen zu bekommen. Sie gaben sich auch mit Part-time-An- gestellten mit eingeschränkter Weisungsbefugnis zufrieden, dran- gen aber auf ein Stufenprogramm der allmählichen Eingliederung der paramedizinischen Mitarbeiter in das Gesundheitszentrum.

Sie verhandelten mit Architekten, Finanzexperten und mit den am Orte schon niedergelassenen Ärz- ten. Untereinander trafen sie sich regelmäßig. Auch die Ehefrauen kamen regelmäßig zusammen. In- formationswochenenden wurden im „wijk" organisiert, Dokumenta- tionszelte errichtet. Die Meinung der Bevölkerung sollte eingeholt werden. Allein die Anwesenheitsli- sten für die verschiedenen, mona- telang mit großer Regelmäßigkeit durchgeführten Verhandlungen würden Bände füllen. Ganz zu schweigen von der Protokollierung der Gespräche.

Warum diese Marathonarbeit?

Warum gaben sich die Ärzte nicht mit den Subventionen aus dem

„experimenteerpot" des Gesund- heitsministeriums und des Preven-

tiefonds, mit den vorgeschlagenen Zugeständnissen der Krankenkas- sen zufrieden?

Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: Für eine integrale (N.

B.: nicht „integrierte", diese wäre dem Dezentralisierung- und „wijk"- Gedanken konträr(!)) Gesundheits- versorgung schien es den Ärzten wichtig, jeden Ansatz von Fronten- bildung abzubauen. Das Gesund- heitszentrum sollte nicht auf dem Fundament finanzieller Zugeständ- nisse, sondern auf der Basis eines breiten Einverständnisses am Standort selbst errichtet werden.

Es kam ihnen darauf an, bei allen betroffenen Institutionen und bei der Bevölkerung moralische Unter- stützung, die Bereitschaft zur künf- tigen Kooperation zu erreichen.

Organisationsstrategen hätten ein Gesundheitszentrum reißbrettmä- ßig innerhalb eines halben Jahres realisiert. Die Erfahrungen aus England lagen ja vor. Aber sie hät- ten keinerlei Gewähr für die künfti- ge Lebendigkeit des Zentrums mit- liefern können. So wurden nicht nur ein paar „nackte Mauern" hin- gestellt, sondern durch lange Ver- handlungen Garantien einer ge- deihlichen Kooperation erarbeitet.

Alle Gesundheitszentren konnten nach Schlüsselübergabe sofort voll in die Arbeit einsteigen.

Gemessen an der Höhe der nöti- gen Verhandlungsinvestitionen, er- scheint die Konzeption einer „um- fassenden ärztlichen Primärversor- gung" in bestimmten Problemge- bieten unrealistisch. Sie wurde trotzdem realisiert. Retrospektiv war dies nur möglich, wie man in Holland sagt, aufgrund der „Pio- niermentalität" der engagierten Ärzte.

Heute arbeiten in den Niederlan- den mehr als zehn Gesundheits- zentren, weitere sind in Planung.

Gerade für junge Ärzte stellen sie ein attraktives ldentifikationsange- bot dar.

Natürlich zeigen sich bei der all- täglichen Arbeit in Gesundheits-

454 Heft 7 vom 17. Februar 1977 DEUTSCHES ARZTEBLATT

(5)

die sinnvolle Verknüpfung von

Anxiolyse Stimmungsaufhellung Entspannung plus Antriebsförderung

Beruhigung Kontaktverbesserung bei nervösen Reiz-

überforderungs-

Erschöpfungssyndromen problemlos dosierbar

problemlos verträglich

substanzeigener 24-Stunden-Langzeiteffekt

Psyche

ZUSAMMENSETZUNG: Lexotanil®6 enthält als Wirkstoff in 1 Tablette 6 mg Bromazepam [7-Brom -1,3-dihydro-5- (2-pyridy1)-21-1-1,4-benzodiazepin-2-on]. INDIKATIONEN: Nervöse Reiz-, Überforderungs- und Erschöpfungssyndrome.

DOSIERUNG: 1 Tablette abends oder 2-3x 1/4 oder 1/2 Tablette täglich. HINWEISE: Wird Lexotanil mit anderen zentral wirksamen Pharmaka vom Typus der Neuroleptika, Tranquilizer, Antidepressiva, Hypnotika, Analgetika und

Anästhetika kombiniert, ist zu beachten, daß es den zentralsedativen Effekt dieser Präparate verstärken kann.

Wie für alle Psychopharmaka gilt auch für Lexotanil, daß man unter dem Einfluß seiner Wirkung keinen Alkohol genießen sollte, da die individuelle Reaktion im einzelnen nicht vorauszusehen ist. Ebenso wie alle Arzneimittel vom

gleichen Wirkungstyp kann Lexotanil je nach Anwendung, Dosierung und individueller Empfindlichkeit das Reaktionsvermögen (z. B. Fahrtüchtigkeit, Verhalten im Straßenverkehr) beeinflussen. Im übrigen wird an den ärztlichen Grundsatz erinnert, Medikamente in der Frühschwangerschaft nur bei zwingender Indikation zu verab-

reichen. Für Lexotanil kann bisher nicht ausgeschlossen werden, daß Wirksubstanz in die Muttermilch übertritt.

Bei notwendiger regelmäßiger Einnahme wird Abstillen empfohlen. KONTRAINDIKATION: Myasthenia gravis.

PACKUNGEN UND PREISE:*20 Tabletten DM 9.20m.0 St., 50 Tabletten DM 21.40 m.0 St..Weitere Anstaltspackungen

*unverbindlich - Stand bei Drucklegung

HOFFMANN-LA ROCHE AG 7889 Grenzach-Wyhlen

(6)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Gruppenpraxismodelle in den Niederlanden

zentren noch eine Reihe von Schwierigkeiten:

Die Ärzte arbeiten freiberuflich, die paramedizinischen Mitarbeiter wie „Gemeindeschwestern" und Sozialarbeiter haben dagegen An- gestelltenstatus.

Die Ärzte sind die Initiatoren, sie haben mehr investiert und tragen das größere Risiko.

Hierarchische Gliederung soll aber möglichst vermieden werden, da- mit ein wechselseitiges Lernen stattfinden kann.

• Die angestellten paramedizini- schen Mitarbeiter sind jünger als die Ärzte, stehen oft noch vor der Familiengründung, wollen sich noch weiterbilden; bei ihnen muß also mit Fluktuation gerechnet wer- den, bei den Ärzten nicht.

• Die Patienten des Gesundheits- zentrums suchen zunächst immer ihren (0 Hausarzt auf. Die Klientel der paramedizinischen Mitarbeiter ist also abhängig von der Zuwei- sung durch die Hausärzte. Zum Teil arbeiten die paramedizini- schen Mitarbeiter „part-time" noch für ihre Trägerorganisationen, ha- ben daher noch andere Klientel als durch das Gesundheitszentrum.

Das sind beispielhaft einige wunde Punkte, an denen immer wieder Reibung erzeugt wird, die immer wieder zeigen, daß eine ideale Realisierung eines hochgespann- ten Konzeptes nicht von einem Tag auf den anderen möglich ist.

Mit Hilfe qualifizierter Gruppendy- namiker versucht man die span- nungserzeugenden Gegensätze ab- zubauen, und wo dies nicht mög- lich ist; gute Regelungen zu finden.

Da den Krankenkassen sehr viel daran liegt, daß ihr langfristiges Kalkül aufgeht, haben sie in eini- gen Fällen die Honorierung des Gruppendynamikers übernommen.

Eine breite und interessante Dar- stellung der internen Konflikte und deren Bearbeitung findet sich aus- schließlich in der niederländischen

Gruppenpraxis-Literatur. Wer sich mit der Frage der Kooperation in Gruppenpraxen beschäftigt, wird diese Literatur also nicht überge- hen können, so wie der an Fragen der gemeinsamen Nutzung Interes- sierte vor allem die amerikanische, französische und inzwischen auch deutsche Literatur studieren wird.

Ausführliche Dokumentation der Arbeit

Die niederländischen Ärzte in den Gesundheitszentren dokumentieren ihre Arbeit sehr ausführlich. In fast allen Ausgaben der beiden bedeu- tenden medizinischen Zeitschriften

„Medisch Contact" und „Huisarts en Wetenschap" (Hausarzt und Wissenschaft) erscheinen Erfah- rungsberichte. Diese Artikel haben nicht anekdotischen Charakter, sondern in der Art ihrer Strukturie- rung, der Herausschälung wesentli- cher Gesichtspunkte oft schon wis- senschaftliches Niveau.

Die Subventionierung aus dem „ex- perimenteerpot", die finanziellen Zugeständnisse der Krankenkas- sen wurden mit der Auflage ver- bunden, daß die Gesundheitszen- tren jährlich einen Bericht von ih- rer Arbeit herausbringen. Darüber hinaus sollen — in Zusammenar- beit mit nahe gelegenen Universi- täten — Untersuchungen durchge- führt werden: Morbiditätsanalysen, Evaluationsstudien, Untersuchun- gen zum Arzt-Patient-Verhältnis in Gesundheitszentren, zum Thema der Gesundheitserziehung.

• Gruppenpraxen und Gesund- heitszentren sind ein vorzügliches Untersuchungsfeld für empirische Forschung in Fragen der ambulan- ten Versorgung. Die Dinge sind hier noch nicht zur unbefragten Gewohnheit geworden, werden dis- kutiert, ausprobiert. Der Satz: „Das habe ich immer so gemacht. Das hat sich bei mir bewährt." hat we- niger Überzeugungskraft, wenn mehrere Ärzte zusammenarbeiten.

Da die Probleme beständig disku- tiert und ausformuliert werden, ist der Schritt bis zur Protokollierung

und von da bis zur Dokumentation nicht weit. Ein Arzt wird freigestellt, um etwa alle zwei Wochen an ei- nem Nachmittag diese Aufgabe zu übernehmen.

Bei der Zusammenarbeit mit Uni- versitäten liegt der Schwerpunkt auf Längsschnittuntersuchungen.

Die Auswertung geschieht über die EDV-Anlagen der Universitäten.

Eine der Kernfragen dieser Studien ist: Kommt die „umfassende ärzt- liche Primärversorgung", wie sie für die Gesundheitszentren konzipiert wurde, zum Tragen? Werden „Pa- tientenkarrieren" nachweislich ver- hindert?

Die Gesundheitszentren wurden realisiert, trotz erheblicher An- fangsschwierigkeiten. Obwohl sie anfänglich nur als eine schöne Idee angesehen wurden jenseits der Realisierungsmöglichkeit. Die Ergebnisse der Längsschnittunter- suchungen werden zeigen, ob die Idee der Gesundheitszentren auch in der Arbeitsbewältigung reali- stisch war. Wir hoffen, darüber in einem Jahr Näheres berichten zu können.

In den Niederlanden gibt man sich optimistisch. Medizinstudenten fa- mulieren in Gesundheitszentren, Psychologen absolvieren hier ihr Praktikum. Die Ärzte erzählen von Fällen, in denen die Arbeit des Ge- sundheitszentrums Patienten aus

„medizinischer Abhängigkeit" be- freien konnte. Sie sind vielfältig en- gagiert bei der Bewältigung der besonderen Probleme ihres „wijk".

Genaueres ist von den wissen- schaftlichen Untersuchungen zu erwarten. Dem interessierten Leser dürfte es aber nicht schwerfallen, schon jetzt einen „Blick über die Grenze" zu werfen.

Anschrift des Verfassers:

Dr. phil. Bodo Kosanke Abteilung für Medizinische Soziologie der

Universität Freiburg i. Br.

Erbprinzenstraße 17 7800 Freiburg

456 Heft 7 vom 17. Februar 1977 DEUTSCHES ARZTEBLATT

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Seit 1968 existiert in den Niederlanden eine öffentliche Pflichtversicherung zur sozialen Absicherung der Pflegebedürftigkeit.. Die Niederländer tragen durchschnittlich knapp

Wenn jedoch eine Ent- scheidung getroffen wurde, gab es zwei Abweichungen vom Durch- schnitt: In Pflegeheimen wurde häufi- ger (38 gegenüber 20 und 25 Prozent der Fälle) die

Februar 1994 vom Medizinischen Institut für Umwelthygiene an der Hein- rich-Heine-Universität Düs- seldorf veranstaltet wird, wird von der Ärztekammer Nord- rhein im

Frau mit schwerem psychischem Lei- den Suizidhilfe geleistet hat, urteilt das Oberste Gericht der Niederlande, dass Suizidhilfe bei psychischem Lei- den akzeptiert werden kann,

Der Facharzt erhält für die am- bulante Versorgung seiner Patienten in Polikliniken eine Fallpauschale je überwiesenem Patient und darüber hinaus eine Honorierung nach er-

Dem Grundsatzurteil zufolge dür- fen Ärzte für Schwangere ein vorläufiges Beschäftigungs- verbot aussprechen, wenn Gefahren vom Arbeitsplatz ausgehen, der Arbeitgeber dies aber

Von den Luftaufnahmen, welche mit einer Zeiss RMK 2 1 / 1 8 Kam mer oder mit einer WILD RC 5 nach einem vorher festgelegten Flugplan auf Gevaert-Aviopan-Film

Auch hier gibt es große Un- terschiede: Während eher selten das Le- ben als das wirklich absolut höchste Gut angesehen wird, das keinerlei Abwägung (auch nicht mit