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Archiv "Euthanasie-Gesetzgebung in den Niederlanden: Transparenz schaffen, Ärzte absichern" (21.01.2000)

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eeuwarden, 23. Februar 1973:

Eine Ärztin steht vor Gericht, weil sie ihrer Mutter eine töd- liche Dosis Morphium verabreicht hat.

Die schwer kranke Frau hatte ihren Tod ausdrücklich gewünscht. Vor Ge- richt erklärt der niederländische „In- spektor für Volksgesundheit“, der als Sachverständiger geladen ist, dass es die Mehrzahl der niederländischen Ärzte nicht mehr für richtig erachtet, das Leben bestimmter Patienten bis zum „bitteren Ende“ zu verlängern.

Ärztliche Sterbehilfe sei in bestimmten Fällen zu tolerieren, und zwar dann, wenn der Patient unheilbar krank ist, wenn er unerträgliche psychische oder physische Schmerzen hat, wenn er darum gebeten hat, von seinem Lei- den erlöst zu werden, und wenn der Pa- tient im Sterben liegt. Das Gericht

übernimmt diese Argumentation, ist aber der Meinung, dass die Patientin im vorliegenden Fall nicht eindeutig im Sterben lag. Die beschuldigte Ärztin erklärt, sie habe sich in einer psychi- schen Notlage befunden. Diesen Ein- wand verwirft der Richter, weil die Ärztin die Morphium-

Mengen auch langsam hätte steigern können, statt die tödliche Dosis auf einmal zu verabrei- chen. Die Ärztin wird zu einer einwöchigen Haftstrafe auf Be- währung verurteilt.

Alkmaar, 10. Mai 1983: Ein Hausarzt muss sich vor Gericht verantworten, weil er dem Leben einer be- tagten Patientin mit verstopften Arterien ein Ende gesetzt hat.

Die Frau war im Be-

sitz einer Euthanasie-Erklärung und hatte den Arzt mehrmals gebeten, ihr Leiden zu beenden. Das Gericht be- trachtet den Tatbestand der aktiven Sterbehilfe als erfüllt, beurteilt das Handeln des Arztes aber als rechtlich

„nicht unerwünscht“. Der Arzt habe vor der Wahl gestanden, das Leben zu erhalten oder das Leiden zu verkür- zen und dabei die richtige Entschei- dung getroffen. Das Gericht spricht von einer „wohl überlegten“ Ent- scheidung, die einem „lang anhalten- den“ Leiden ein Ende gesetzt habe.

Der Arzt habe sowohl bei der Beur- teilung des Sterbewunsches als auch der Ausführung „äußerst sorgfältig“

gehandelt. Er wird freigesprochen.

s’Gravenhage, 21. Oktober 1986:

Im Falle eines Psychiaters, der einer

Frau mit schwerem psychischem Lei- den Suizidhilfe geleistet hat, urteilt das Oberste Gericht der Niederlande, dass Suizidhilfe bei psychischem Lei- den akzeptiert werden kann, auch wenn der Patient nicht im Sterben liegt. Hieraus schließen viele Ärzte, dass auch bei somatischem Leiden der Patient nicht im Sterben zu liegen braucht, um Beihilfe zur Selbsttötung oder Euthanasie erhalten zu können.

Nach mehrjähriger Diskussion und einigen Gerichtsurteilen, in denen die Rechtsprechung die Bedingungen für eine strafrechtlich nicht weiter zu verfolgende ärztliche Sterbehilfe ver- feinert, tritt zum 1. Juni 1994 ein neues Gesetz in Kraft: Danach muss ein Arzt, der aktive oder passive Sterbe- hilfe leistet, dies dem öffentlichen Lei- chenbeschauer melden. Dazu füllt er ein Formblatt und einen Fragebogen

mit detaillierten Informationen über die Fallgeschichte aus. Der Leichen- beschauer nimmt eine Leichenschau vor und vermerkt den Fall ebenfalls auf einem Formblatt. Er erklärt, die Meldung des Arztes kontrolliert zu haben, und gibt an, dass er nicht vom natürlichen Tod des Patienten über- zeugt ist. Anschließend übergibt er seine Erklärung und die Meldung des Arztes dem Staatsanwalt. Aufgrund der Daten entscheidet dieser, ob der Fall gerichtlich untersucht wird. Eu- thanasie und Beihilfe zur Selbsttötung bleiben strafgesetzlich verboten. Die Rechtsprechung legt jedoch fest, dass sich ein angeklagter Arzt vor Gericht auf höhere Gewalt berufen kann. Die- se könne sich ergeben aus dem Kon- flikt zwischen der gesetzlichen Pflicht, A-97 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 3, 21. Januar 2000

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Euthanasie-Gesetzgebung in den Niederlanden

Transparenz schaffen, Ärzte absichern

Die geplante Legalisierung der Sterbehilfe hat im Ausland Kritik hervorgerufen. Für viele Niederländer gehört

die Euthanasie zum „normalen medizinischen Handeln“.

L

Trotz der liberalen Regelungen zur Sterbehilfe kämen auch die Hospizarbeit und die Palliativmedizin in den Niederlanden nicht zu kurz, versichert Jaap Visser vom niederländischen Gesundheitsministerium. Foto: epd Tabelle 1

Begründungen bzw. Umstände als Antrieb für die Forderung nach Euthanasie (in Prozent)

1995 1990 Unerträgliches,

aussichtsloses Leiden 74 – Verlust des Dekorums

zuvorkommen 56 57

Schwererem, weiterem

Leiden zuvorkommen 47 –

Sinnloses Leiden 44 –

Schmerz 32 46

Unwürdiges Sterben – 46

Abhängigkeit – 33

Müde sein, des Lebens

überdrüssig sein 18 23

Ersticken zuvorkommen 18 – Der Familie nicht

zur Last fallen wollen 13 – Schmerz zuvorkommen 10 –

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Leben zu bewahren, und der ärztli- chen Pflicht, den Patienten von schwe- ren Leiden zu entlasten. Höhere Ge- walt kann anerkannt werden, wenn ei- ne freie, wohl überlegte Bitte des Pati- enten vorliegt, unerträgliches Leiden gegeben ist, ein Kollege zu Rate gezo- gen wurde und der Fall vorschrifts- mäßig dokumentiert ist. In den Nie- derlanden entwickelt sich eine Praxis, in der die meisten Euthanasie prakti- zierenden Ärzte nicht verfolgt wer- den, weil die Staatsanwaltschaften da- von ausgehen, dass sich die Ärzte an die Vorschriften gehalten haben.

Im Laufe des Jahres 1998 akzep- tiert das Parlament eine neue Rege- lung für die Euthanasie-Meldungen.

Diese müssen nun nicht mehr zusam- men mit dem Informationsblatt der Leichenbeschauer direkt zum Staats- anwalt geschickt werden, sondern ge- langen zunächst in die Hände einer Kommission, die aus Ethikern, Juri-

sten und Ärzten besteht. Diese fällt ein Urteil und leitet es zusammen mit der Euthanasie-Meldung des Arztes an den Staatsanwalt weiter. Obwohl der Staatsanwalt seine eigene Ent- scheidung fällt, ob er den Fall verfolgt oder nicht, hat die Einschätzung der Kommission ein großes Gewicht. Mit dieser Regelung möchte die Regie- rung die hohe Dunkelziffer nicht ge- meldeter Fälle aktiver Sterbehilfe re- duzieren (Umfragen zufolge wurden 1995 nur 41 Prozent der Euthanasie- und Selbstmordunterstützungsfälle dem zuständigen Amtsarzt gemeldet).

Legalisierung der Sterbehilfe

Im Sommer 1999 legt das Ka- binett einen Gesetzentwurf vor, der die Legalisierung der Euthanasie und der Selbstmordunterstützung vorsieht.

Der neue Entwurf bestimmt die Be- dingungen, unter denen lebensbeen- dende Maßnahmen nicht mehr straf- bar sind. Im Wesentlichen ändern sich die bisherigen Verfahrensweisen der Berichterstattung sowie die Bedin- gungen für eine straffreie Sterbehilfe nicht. Neu an der Vorlage sind aber:

c Eine Richtlinie für Kinder.

Dem Sterbewunsch Jugendlicher zwi- schen 16 und 17 Jahren kann auch oh- ne Zustimmung der Eltern entspro- chen werden. Kinder zwischen zwölf und 16 Jahren sind in der Regel auf die Zustimmung ihrer Eltern angewiesen.

In genau definierten Ausnahmefällen kann der Arzt aber auch gegen den Willen der Eltern Sterbehilfe leisten.

c Die Entkriminalisierung der Sterbehilfe bei Patienten, die aufgrund von Demenz entscheidungsunfähig sind. Der Todeswunsch von Demenz- kranken, die bei vollem Bewußtsein ei- ne Euthanasieerklärung unterzeichnet haben, wird akzeptiert – auch wenn sie zum Zeitpunkt der eigentlichen Ster- behilfe nicht mehr ansprechbar sind.

„Wir haben versucht, ein System zu kreieren, das transparent ist und die Ärzte dazu zwingt, Vorbehalte be- züglich der Euthanasie-Meldung zu überwinden“, erläutert Jaap Visser, Gesundheitsministerium Den Haag, dem Deutschen Ärzteblatt. „Aktive und passive Sterbehilfe werden von der niederländischen Bevölkerung als normales medizinisches Handeln be- trachtet.“ Ziel der Regierung sei es, das Strafrecht in Einklang mit der herrschenden Praxis zu bringen und den Ärzten Rechtssicherheit zu ge- währleisten. Nur so könne die Dun- kelziffer bei Euthanasiefällen gesenkt und die Kontrolle erhöht werden.

Besonders im Ausland stößt der aktuelle Gesetzentwurf auf heftige Kritik. Stein des Anstoßes ist zumeist die Frage, ob auch der Sterbewunsch von Kindern und künftigen Alzhei- merpatienten akzeptiert werden soll- te. Die niederländische Regierung er- wägt derzeit, den Passus zur Sterbe- hilfe bei Kindern aus dem Gesetz zu streichen. Der Kern des Gesetzes wird aber nach Einschätzung von Jaap Vis- ser im Laufe des nächsten Jahres in Kraft treten: „Wenn die jetzige Regie- rung am Ruder bleibt, wird die Vor- lage Gesetz.“ Es wäre weltweit das erste Euthanasiegesetz. Jens Flintrop A-98 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 3, 21. Januar 2000

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Tabelle 2

Daten zu medizinischen Handlungen, das Lebensende betreffend

1995 (%) 1990 (%)

1. Jährliche Sterbefälle in den Niederlanden 135 500 (100) 129 000 (100) 2. Bitten um Euthanasie (Beendung des Lebens

auf Wunsch des Patienten) 9 700 (7,1) 8 900 (7)

3. Euthanasie durchgeführt 3 200 (2,4) 2 300 (1,8)

4. Suizidbeihilfe geleistet 400 (0,3) 400 (0,3)

5. Lebensbeendung ohne ausdrücklichen Wunsch 900 (0,7) 1 000 (0,8) 6. Intensivierung von Schmerz- und

Symptombehandlung; 20 000 (14,8) 22 500 (17,5)

a) mit der ausdrücklichen Absicht, das

Lebensende zu beschleunigen (6 %) 2 000 (1,5) 1 350 (1) b) mit der Nebenabsicht, das Lebensende

zu beschleunigen (30 %) 2 850 (2,1) 6 750 (5,2) c) unter Einrechnung der Möglichkeit,

dass das Leben verkürzt wird (64 %) 15 150 (11,1) 14 400 (11,3) 7. Nicht Einleiten oder Beenden einer Behand-

lung (einschließlich Sondenernährung): 27 300 (20,1) 22 500 (17,5) a) auf Wunsch des Patienten 5 200 (3,8) 5 800 (4,5) b) ohne Bitte des Patienten

b1) mit der ausdrücklichen Absicht, das

Lebensende zu beschleunigen (16 %) 14 200 (10,5) 2 670 (2,1) b2) mit der Nebenabsicht, das Lebensende

zu beschleunigen (14 %) 3 170 (2,5)

b3) unter Einrechnung der Möglichkeit,

dass das Leben verkürzt wird (65 %) 7 900 (5,8) 10 850 (8,4) 8. Absichtliche Lebensbeendung neugeborener

behinderter Babys

a) ohne Beendung einer Behandlung 10 b) Beendung einer Behandlung und

Verabreichung von Medikamenten 80 9. Suizidbeihilfe bei psychiatrischen Patienten 2–5

Referenzen

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