A508 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 11⏐⏐13. März 2009
T H E M E N D E R Z E I T
M
it Prof. Dr. med. Nguyen Thanh Liem eine Stunde zu verbringen ist wie mit anderen Men- schen Tage. Denn der Direktor des Nationalen Krankenhauses für Pä- diatrie in Hanoi besitzt die Gabe, so anschaulich und farbig über die un- zähligen Stationen seines bunten Lebens zu erzählen, dass man am Ende tatsächlich glaubt, ihn schon etwas länger zu kennen, und sich darüber wundert, nur so wenig Zeit mit ihm verbracht zu haben.Dabei ist der Facharzt für Kinder- chirurgie kein Mann der großen Ges- ten. Auch seine Gesichtszüge ver- ändern sich beim Erzählen kaum.
Liems Hände ruhen vor ihm auf dem Konferenztisch. Er leitet die vielen Stationen seines bislang 56- jährigen Lebens nicht einmal groß ein. Grund dazu hätte er, schließlich ist der Name Liem allen Ärzten Vi- etnams bestens vertraut. Auch dem einfachen Mann auf der Straße ist Liem ein Begriff, denn in den großen Tageszeitungen der Haupt- stadt berichten Journalisten regel- mäßig von ihm. Der Pädiater hat so vielen Kindern das Leben gerettet, dass er aufgehört hat, sie zu zählen.
2004 transplantierte er als erster Facharzt für Kinderchirurgie in Vi- etnam eine Niere, ein Jahr später führte er die erste Lebertransplanta- tion durch und operierte am offenen Herzen eines Kindes.
Von anderen Ländern lernen
In Deutschland hätte die Regierung Liem sicherlich nicht zum „Natio- nal Hero of Labour“ erklärt.Schließlich ist das deutsche Ge- sundheitssystem sehr gut ausgestat-
tet. In einem Land wie Vietnam aber, in dem der Staat gerade einmal 20 Euro pro Kopf im Jahr für die Gesundheit ausgeben kann und vie- le ihr letztes Geld für eine ärztliche Behandlung hergeben müssen, ge- nießt Liem hohes Ansehen. Es be- durfte jahrelanger Anstrengungen, um die chirurgische Versorgung von Kindern dorthin zu bringen, wo sie heute ist. Aber, sagt Liem – und erst- mals spiegelt auch sein Blick die Begeisterung für sein Tun wider –,
„wenn man in Vietnam etwas schaf- fen will, dann schafft man es auch“.
Aufs Liems Leben traf diese Ein- stellung zu. Vielleicht hat sie ihm von vornherein geholfen, in allem, was er tat, gut zu sein. Es reichte ihm nicht, wie viele seiner Kollegen nur in Viet- nam zu praktizieren. Er wollte wis- sen, wie in anderen Ländern gearbei-
tet wird. Bereits als 33-Jähriger ging der Pädiater für sechs Monate nach Schweden. Sein Krankenhaus ko- operierte mit einem dortigen. Die skandinavischen Kollegen konnten nicht glauben, was Liem ihnen aus Vietnam berichtete: „Als ich ihnen erzählte, dass bei uns nur sechs Pro- zent aller Kinder nach chirurgischen Eingriffen überleben, dachten sie, sie hätten sich verhört. Sie glaubten, es liege an meinem Englisch.“ Liem lacht.
Deutsche Firma stellte Geräte
Es lag nicht an seiner Aussprache.In Vietnam wussten Ärzte zum da- maligen Zeitpunkt nicht, dass eine konstante Körpertemperatur vor und während einer Operation über- lebenswichtig ist. Viele Kinder er- lagen aufgrund der Temperatur- schwankungen anschließend schwe- ren Infekten. Liem sog während sei- nes Aufenthalts alles Wissenswerte auf. Und er erlernte ein neues Ver- ständnis von Teamarbeit zwischen Fachdisziplinen, das er aus seinem eigenen Land nicht kannte. „Es war nicht einfach, meine Kollegen zu Hause nach meiner Rückkehr von all dem Neuen zu überzeugen. Aber es klappte. Schritt für Schritt.“
Gute zehn Jahre später gelang Liem ein weiterer Quantensprung:
Er führte die endoskopische Kinder- chirurgie ein. „Wir hatten weder das Wissen noch die Geräte, um endo- skopisch zu operieren“, erinnert sich der Arzt. Während eines längeren Aufenthalts in Frankreich ließ ein Kollege den Pädiater in einer kleinen Pariser Praxis an Hühnern üben.
Zurück in Hanoi traute Liem sich zu- nehmend laparoskopische Eingriffe bei Kindern zu. Er nahm Kontakt zu der deutschen Firma Karl Storz auf, die ihm über mehrere Monate Geräte auslieh. Bis sein Krankenhaus ir- gendwann so weit war, Storz die Geräte abzukaufen.
Wiederum einige Jahre später dachte Liem über Nieren- und Le-
Ein wahrer Nationalheld
Ohne Liem würden Dutzende von Kindern in Vietnam nicht mehr am Leben sein. Der Pädiater schaffte es, in einem Land der begrenzten ärztlichen Möglichkeiten erstmals Lebern und Nieren zu transplantieren.
DAS PORTRÄT
Prof. Dr. med. Nguyen Thanh Liem, Facharzt für Kinderchirurgie
Nguyen Thanh Liemführte seine erste endoskopische Operation an Hüh- nern durch. Das Porträt von Liem beschließt die kleine Artikelserie zu Vietnam (Titelaufsatz in Heft 6/2009 und Bericht über das Dorf der Freundschaft in Heft 9/2009).
Foto:Martina Merten
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 11⏐⏐13. März 2009 A509
T H E M E N D E R Z E I T
bertransplantationen bei Kindern nach. Schließlich musste er tagein, tagsaus zusehen, wie viele kleine Jungen und Mädchen ihrem Nieren- oder Leberleiden erlagen. Nicht ein- mal für ein Dialysegerät hatte sein Krankenhaus Geld. In Momenten der Hilflosigkeit, berichtet Liem, habe er sich immer an Menschen im Ausland gewandt. Er ging seine Vi- sitenkarten durch, las Fachaufsätze und versuchte, wo es nur ging, neue Kontakte zu knüpfen. „Jeden, den ich auf internationalen Kongressen getroffen habe, habe ich nach Viet- nam eingeladen“, erzählt Liem.
Rettende Hilfe aus Südkorea
Prof. Jean J. Conté, einem Arzt aus Frankreich, schrieb Liem 2004 kur- zerhand eine E-Mail, in der er die missliche Lage in Vietnam schilder- te. Der Franzose kam tatsächlich nach Vietnam, lehrte Liem und sei- nen Kollegen am National Hospital of Paediatrics alles Wissenswerte über die Transplantation von Nieren und spendete das erste Dialysegerät.Ein weiterer Kontakt zu Hung Jalee aus Korea verschaffte Liem die not- wendige Expertise, um eine Leber zu transplantieren. „Die Koreaner haben sich sicherlich daran erinnert, wie schlecht es ihrem Land vor nicht einmal 20 Jahren ging“, erklärt sich Liem die Hilfsbereitschaft. Das Samsung Medical Center und Hos- pital in Seoul, an dem der Koreaner Hung arbeitet, spendete dem viet- namesischen Pädiater 200 000 US- Dollar für Geräte. Inzwischen unter- stützen Ärzte aus der ganzen Welt Liems Krankenhaus, neben den Franzosen und Koreanern auch aus- tralische, schwedische und Kolle- gen aus den USA.
Am Ende des Gesprächs klopft ein Kollege Liems an die Tür des Konferenzraums. Er erinnert den Arzt an die bevorstehende Operati- on. Liems Stundenplan ist eng getak- tet. „Zumindest samstagnachmittags und sonntags versuche ich, Zeit für meine Tochter zu finden“, sagt Liem.
Sie sei erst 14. Für seinen Sohn – er sei 24 Jahre alt – sei immer viel zu wenig Zeit geblieben. Denn Liem hat sich um das Überleben vieler Kinder
gekümmert. I
Martina Merten
P
sychische Störungen beginnen – im Gegensatz zu fast allen anderen komplexen Erkrankungen – bereits früh im Leben. Zudem impli- zieren sie ein hohes individuelles Leid ebenso wie erhebliche sozio- ökonomische Folgekosten. Dies be- richtete Prof. Dr. med. Johannes Hebebrand, Präsident der Deut- schen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), auf dem diesjährigen Kongress der Ge- sellschaft Anfang März in Ham- burg. „Etwa die Hälfte aller Er- wachsenen datiert den Beginn der ersten Symptome vor das 14. Le- bensjahr“, erklärte Hebebrand. „Psy- chische Störungen stellen den häu- figsten Grund für Arbeitsunfähig- keit vor dem 45. Lebensjahr dar.“Diese Störungen bedingten zudem, dass Kinder oft nicht den Schulab- schluss erreichten, den sie gemäß ihrer kognitiven Fähigkeiten errei- chen könnten – und die Bedeutung psychischer Störungen nehme in Zukunft vermutlich noch weiter zu, so Hebebrand.
ADHS ist eine Modekrankheit
Der 31. Kongress – mit mehr als 1 800 Besuchern und 143 Veranstal- tungen – stellte daher die Prävention psychischer und psychosomatischer Störungen in den Mittelpunkt. Vor allem sei es wichtig, weiter zu for- schen, um die Ursachen psychischer Störungen besser ergründen zu kön- nen. Dies zeige sich unter ande- rem bei dem Aufmerksamkeitsde- fizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). „Das Syndrom ist eine Modekrankheit geworden“, sagte Dr. Myriam Menter, Vorsitzende von ADHS Deutschland. „Selbst Lehrer glauben inzwischen, sie könntendiese Krankheit treffsicher diagnos- tizieren. Dabei brauchen wir hierfür gut ausgebildete Kinder- und Ju- gendpsychiater.“ Das Problem sei allerdings, dass es in Deutschland nicht genügend Experten dafür ge- be. „Die Betroffenen müssen bis zu sechs Monate auf einen Therapie- platz warten“, beklagte sich Menter.
Eine verlässliche Diagnostik und Therapie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter sei darüber hinaus ohne die Einbeziehung von Eltern und Lehrern nicht möglich.
Daher müssten die Kinder und Jugendlichen wohnortnah betreut werden. Leider seien Kinder und Jugendliche mit psychischen und psychosomatischen Störungen aber ambulant dramatisch unterversorgt.
Für 18 Millionen junge Menschen gebe es bundesweit lediglich 700 Praxen, berichtete Hebebrand.
In absehbarer Zeit werde sich die Situation nicht verbessern: Noch im- mer gebe es keine Anschlussregelung der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung ab dem 1. April 2009, sagte Dr. Maik Herberhold, Vorsitzender des Bun- desverbandes für Kinder- und Ju- gendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. „Die Gespräche zu einer bundesweiten und kassenüber- greifenden Fortführung der Sozial- psychiatrie-Vereinbarung sind am 11. Februar ergebnislos vertagt wor- den, obwohl die Bundesregierung in einem Gesetzesentwurf die Ver- pflichtung zu einer solchen Verein- barung klargestellt hat.“ Dem Spit- zenverband der Krankenkassen sei es bislang offensichtlich nicht gelungen, Einigkeit unter den Krankenkassen herzustellen. Herberhold befürchtet nun, dass viele Praxismitarbeiter ent- lassen werden müssen. I Sunna Gieseke