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3 März 2 01 7 CHF 8.– www .null 41.ch

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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender N

O

3 März 2 01 7 CHF 8.– www .null 41.ch

FÄLLT UNS BALD DER HIMMEL

AUF DEN KOPF?

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«Der japanische Regisseur ergründet, was eine Familie ausmacht

– ein feinfühliger Film.»

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Ab 16. März im Kino

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OstschweizerKulturmagazinNr.263,Januar2017

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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO 1 Januar 2017 CHF 8.– www.null41.ch Kulturfragen und Kulturantworten. Zum Beispiel von der Luzerner Kulturchefin Rosie Bitterli.

«Kurz und schnurz – dann sage ich NEIN.»

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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO 3 März 2017 CHF 8.– www.null41.ch

FÄLLT UNS BALD DER HIMMEL AUF DEN KOPF?

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E DI T OR I A L

Lesen Sie wieder einmal Comics. Das beruhigt und man lernt dazu.

Zum Beispiel bei Asterix und Obelix: Die beiden unbeugsamen Gallier fürchten stets, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt.

Schon als kindlicher Stubenhocker fand ich diese Angst komisch.

Wie soll das gehen? Fällt der Himmel wie eine Platte? Einfach so? 2017 finde ich diese Angst weniger komisch. Weil sie unseren heutigen Ängsten entspricht. Diffus sind sie. Vielfach unbegründet.

Bedrückend. Ganz so, als ob einem jeden Moment der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Christoph Fellmann untersucht in seinem Essay, wie Populisten und Politikerinnen aus den Ängsten der Bürger ein Geschäft machen (Seite 10).

Das Theaterprojekt «Anatomie der Angst» von Annette von Goumoëns geht alltäglichen Ängsten nach. Wir wollten von elf am Projekt beteiligten Kulturschaffenden wissen, wovor sie Angst haben und was diese mit ihnen macht (Seite 14).

Wo Angst ist, da wächst bald Hoffnung. Das B-Sides Festival und der Südpol machen dieses Jahr gemeinsame Sache mit dem Projekt «The Art of a Culture of Hope» von James Leadbitter und Jessica Huber. Im Interview erzählen die beiden, weshalb Musik eine heiligende und schützende Kraft hat (Seite 16).

Hoffnung stiftet auch Niklaus von Flüe – Obwalden feiert 2017 den 600. Geburtstag dieser Leitfigur. Im zweiten Beitrag unserer Reihe sprach Christof Hirtler mit Menschen aus Uri und Obwalden.

Er fragte sie, welche Bedeutung Bruder Klaus für sie heute noch hat, und er fotografierte den Schutzpatron in Stuben, auf Brücken und an alltäglichen Orten (Seite 18). Eine Büste des Bruder Klaus finden Sie auch auf unserem Titelbild – zum Himmel blickend, die Maschinen einer Seilbahn in Bürglen UR bewachend.

Beim Teutates, der Himmel fällt uns nicht auf den Kopf! Die Gallier feiern am Ende jedes Comics ein riesiges Festmahl mit saftigen Wildschweinen, kräftigen Sossen und betäubendem Rotwein. Unser Fest sind die beiden gewonnenen Abstimmungen für eine tolerante Schweiz und gegen undurchsichtige Unternehmensbesteuerungen im Februar. Wir dürfen uns aber nicht auf Lorbeeren ausruhen. Denn nicht ganz Gallien ist überzeugt, dass zu tiefe Unternehmenssteu- ern Gift für ein ausgeglichenes kulturelles, gesellschaftliches und politisches Klima sind. Eine kleine Kantonsregierung unbeugsamer Bürokraten … Aber diese Geschichte kennen Sie ja.

PS: Wir sind seit Anfang Februar online unter null41.ch. Mit Magazin, Blog und Kalender.

Salve!

Heinrich Weingartner weingartner@kulturmagazin.ch

Bild: Mart

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46 Kulturlandschaft 48 Kleintheater / Stattkino 50 LSO

52 Romerohaus 54 Neubad / Südpol 56 HSLU Musik

62 Nidwaldner Museum / Kunstmuseum Luzern 64 Museum Bellpark

66 Natur Museum / Historisches Museum

INHALT

22 REVOLUTION ODER HYPE?

Vinyl kommt (mal) wieder 24 FEST FÜR DAS PERGAMENT

Ein kleiner Büchermarktführer 27 SOLIDARITÄTSSCHWUND

Die RKK verliert an Mitgliedsgemeinden

KOLUMNEN

6 Doppelter Fokus: Snow Bike Challenge 8 Rolla am Rand: Am Spielfeldrand 9 Lechts und Rinks: Soziale Stadtführungen 28 Gefundenes Fressen: Pizza da Marcello 44 041 – Das Freundebuch: Rene «Coal» Burrell

und Sarah Bowman 70 Käptn Steffis Rätsel

71 Stille Post: Geheimnis Nr. 64 SERVICE

29 Bau. Burka-Fassade 33 Bühne. Mütter in der Küche

35 Musik. Krass am Bass: Martina Berther 39 Kino. Der neue Hader

41 Kunst. Claudia Comte

68 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz 69 Ausschreibungen, Notizen, Namen

KULTURKALENDER 45 Kinderkulturkalender 47 Veranstaltungen 63 Ausstellungen

Titelbild: Christof Hirtler

Luftseilbahn Eierschwand–Ruogig, Bürglen, Kanton Uri

IMPRESSUM

041 – Das Kulturmagazin März, 29. Jahrgang (312. Ausgabe) ISSN 2235-2031

Herausgeberin: Interessengemeinschaft Kultur Luzern Redaktionsleitung: Heinrich Weingartner (hei), weingartner@kulturmagazin.ch

Redaktionelle Mitarbeit: Stoph Ruckli (sto), veranstaltungen@kulturluzern.ch

Redaktion: Thomas Bolli (tob), Jonas Wydler (jw), Philippe Weizenegger (phi), Thomas Heeb, Mario Stübi (stü), Michael Sutter (ms), Nina Laky (nil), Dominika Jarotta, Katharina Thalmann (kat)

Veranstaltungen/Ausstellungen:

Stoph Ruckli (sto), veranstaltungen@kulturluzern.ch Korrektorat: Petra Meyer (Korrektorium) Art Direction/Produktion: Mart Meyer, meyer@kulturmagazin.ch

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Ausgabe:

Christof Hirtler, Patrick Blank, Mischa Christen, Christov Rolla, Christine Weber, Christoph Fellmann, Urs Hangartner (hau), Romano Cuonz, Sylvan Müller, Cla Büchi, Sarah Mühlebach, Christian Löffel, Michael Gasser, Ivan Schnyder, Patrick Hegglin, Reto Bruseghini (rb), Stefan Zihlmann (zis), Barbara Boss (bob), Käptn Steffi, Till Lauer, Urs Arnold, Urs Bugmann

Verlagsleitung: Philipp Seiler, T 041 410 31 11, verlag@kulturmagazin.ch

Assistenz Verlag: Marianne Blättler, T 041 410 31 07, info@kulturmagazin.ch

Anzeigen: T 041 410 31 07, verlag@kulturmagazin.ch Aboservice: T 041 410 31 07, info@kulturmagazin.ch Jahresabonnement: Fr. 75.– (Gönner-Abo: ab Fr. 250.–) Unterstützungs-Abo: Fr. 100.–

Studierenden-Abo: Fr. 55.–, Legi-Kopie beilegen Konto: PC-Konto 60-612307-9

Adresse: 041 – Das Kulturmagazin/IG Kultur Luzern, Bruchstr. 53, Postfach, 6000 Luzern 7

Redaktion: T 041 410 31 03

Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag 13.30–17.30 Uhr Internet: www.null41.ch/www.kalender.null41.ch Druck: von Ah Druck AG, Sarnen

Auflage: 3 900 Ex.

Papier: Rebello FSC®-Recycling, matt, ISO Weisse 90, 100 % Altpapier, CO2-neutral, Blauer Engel

Copyright© Text und Bild: 041 – Das Kulturmagazin Redaktionsschluss April-Ausgabe: FR 10. März Für redaktionelle Beiträge zu Veranstaltungen und Ausstellungen Unterlagen bitte bis spätestens Anfang März einsenden.

Bild: I. Höhn

Ab Seite 10

VON ANGST UND HOFFNUNG

Ein Essay, zwei Kulturprojekte und unser aller Schutzpatron

30 «SCHREIBEN IST SCHWEBEN»

Martina Clavadetscher im Porträt

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G U T E N TAG AU F G E L I S T E T

GUTEN TAG, LUZERNER ALLIANZ FÜR LEBENSQUALITÄT

«Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum», sagte einst Friedrich Nietzsche. Etwas, was du schon lange erkannt hast, scheint eine gewisse Regie- rungsgarde einmal mehr nicht zu erkennen. 1,8 Millionen will sie sparen, indem die kantonalen Beiträge an die Musikschulen halbiert werden sollen. Die Folge? Sinkende Schülerzahlen, Lehr- personen auf der Strasse, Musik als Luxusgut – ein weiterer Brechstangeneinsatz gegen die Bildung.

Doch dein ergriffenes Referendum und die in der Folge erreichten 22 537 Unterschriften (Rekord!) machen klar: Wenn sich hier jemand irrt, dann höchstens der Kanton Luzern. Fehlen nur noch ein paar deutliche Songs an dessen Adresse, was Victor Hugo mit folgendem Zitat wohl unterstüt- zen würde: «Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.»

Bereit für mehr Musikunterricht und mehr Lebens- qualität, 041 – Das Kulturmagazin

GUTEN TAG, HUMORISTEN

Am Tag des jüngsten Gerichts wechseln die Vor- zeichen. Gut wird zu böse, gerecht zu ungerecht.

Realität zu Satire. In der letzteren Kategorie ge- winnt heute Marcel Scherzmann, Kantonsclown vom Dienst. In einer Videobotschaft nach der ver- lorenen Abstimmung (USR III) richtet er sich an die Kantonsbevölkerung. Er scheint nicht mit der Gabe menschlicher Regungen ausgestattet worden zu sein. «Ech ärgere mech», ohne eine Miene zu verziehen. Notabene, sein Lebensmotto steht auf der Webseite: «Ohne Begeisterung ist noch nie etwas Grosses erreicht worden.» Aha. Ihre eigene Begeisterung haben Sie wohl auf den Bermudas vergessen. Laut Herrn Scherzmann scheiterte die Abstimmungsvorlage an der «hohen Komplexität».

Wenn eine Vorlage zu komplex ist, dann liegt das meistens nicht an der Bevölkerung. Bei solchen Aussagen steigen Puls und Sympathien für laut- starke Demos mit Glasfassadenschmierereien. Wir sind uns sicher: Am Ende dieses Kantonstheaters öffnet sich Marcel Scherzmanns Kopf und ein Ro- boteräfflein mit Tschinellen sitzt drin. Ding, ding, ding, ding. Dann hätten wir eine naheliegende Erklärung für die blind wütende Aggropolitik ge- gen Kultur, Bildung und das Leben. Einmal mehr Punk bitte, ohne scharfe Kulturkürzungen und mit Zwiebeln an den Wänden. Ach, wir hätten den Kanton besser den Marx Brothers überlassen.

Das ärgert, 041 – Das Kulturmagazin SC HÖN G E SAGT

Nerviges aus der IT-Abteilung

- Die Angst vor dem Absturz - Mail-Autocorrect ändert «Meeting» in «Petting»

- «Heiri» und «Fubi» heissen in internen Mails «Heidi» und «Bubi»

- E-Mail-Anhang vergessen

- Anhang auch im Entschuldigungsmail vergessen

- Kaffee auf der Tastatur - Kaffer IN dee Tstatr

CHRISTOPH FELLMANN, SEITE 10

«Die Menschen denken, es sei ihre eigene romantische Liebe, die sie fühlen.

Und denken nicht daran, dass sie einem Ideal folgen, das durch Liebesromane in die Welt kam. Genauso verhält es sich mit der Angst.»

Semi Eschmamp

Mein erstes Buch schreib ich gleich selbst

Fumetto-Satellitenausstellung: 22. März bis 9. April, HINIChT Luzern Buchvernissage: MO 3. April, 20 h, Loge Luzern

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D O P P E L T E R F O K U S

Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde.

Snow Bike Challenge auf der Klostermatte, organisiert vom Bikeclub Engelberg, 4. Februar 2017, Engelberg Bild oben Patrick Blank, rechte Seite Mischa Christen

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Christov Rolla berichtet jeden Monat vom Rand eines kulturellen Geschehens. Oder von einem Geschehen, das am Rand mit Kultur zu tun hat. Ob sich die Dinge tatsächlich so ereignet haben, wissen wir weiterhin nicht.

R O L L A A M R A N D

Wenn man mich so ansieht, könnte man meinen, ich wäre mit den Jahren unsportlich geworden. Das stimmt aber nicht! Ich war es schon immer. Als Kind konnte ich zwar, wenn es darauf ankam, ganz ordentlich rennen. Aber es kam nur selten darauf an – Geschwindigkeit und Ausdauer wurden vielleicht einmal im Jahr benotet. An den übrigen Tagen fehlte mir jeglicher Ansporn zur Bewegung. Das lag wohl daran, dass mein Körper bei sportlicher Betäti- gung kein Serotonin ausschüttete, sondern Erschöpfung; vor allem aber, dass ich überhaupt nicht einsah, warum man rennen soll, wenn einem der liebe Gott die Fähigkeit gegeben hat, zu gehen. Oder noch besser zu sitzen! Und am allerbesten zu liegen! (Die einzige regelmässige Bewegung, die ich als Junge hatte, war, mich vom Bauch auf den Rücken zu drehen. Oder umgekehrt.)

So war ich natürlich kein Kronfavorit, wenn im Turnen die Fussballteams gewählt werden durften, und es leuchtete mir absolut ein, dass zuerst die guten und mittelguten Tschütteler gewählt wurden, gefolgt von den talentierten Fuss- ballmädchen. Danach kamen die besonders beliebten oder hübschen Mädchen an die Reihe, je nachdem, ob ein Junge oder Mädchen wählen durfte (wobei die Hübschen sowieso die gleichen wie die Populären waren). Das dünkte mich sportiv gesehen zwar zweifelhaft, aber menschlich irgendwie nachvollziehbar.

Wenn die Talentierten, Tollen und Hübschen durch waren, ebbte die Wählbegeisterung immer ein bisschen ab. Ungefähr jetzt wäre es wohl lang- sam angezeigt gewesen, mich zu wählen. Aber wer kam in die Kränze? Alle schwerfälligen und tollpatschigen Buben. Ich akzeptierte das ohne Murren, nur schon, weil sie stärker waren als ich. Hingegen nagte es ein bisschen an mir, dass dann auch noch alle anderen Mädchen vor mir gewählt wurden, selbst jene, die an ausnahmslos jedem Ball vorbeiginggten. Aber es war schon immer so gewesen. Ich kannte es nicht anders.

Wirklich demütigend wurde es immer erst am Schluss, wenn nur noch Giovanni und ich übrig waren. Dann wurde darüber gestritten, welches Team sich mit wem von uns beiden abfinden muss. Eine reine Scheindebatte! Denn am Schluss entschieden sie sich sowieso jedes Mal für Giovanni. Weil der im Gegensatz zu mir keine Angst vor dem Ball hatte. Und man ihn also wenigstens noch ins Tor stellen konnte. Verständlich! Aber natürlich musste das zuerst lang und breit ausdiskutiert werden – einfach, damit der Italiener und der Pfarrerssohn wieder einmal wissen, wer hier das Sagen hat.

Irgendwann versuchte Lehrer Schnarwiler, unsere Wahlschlappen abzu- wenden, indem Giovanni und ich wählen durften. Das führte stante pede zur reinsten Arbeitsverweigerung bei beiden Mannschaften – lahmes Spiel, lustlose Kurz- und Retourpässe, ein demonstrativer Schlussstand von 0:0. Von diesem Tag an wurden die Mannschaften nur noch ausgelost. Das fand ich super: Vor dem Spiel keine Demütigung mehr und während des Spiels der reinste Frie- den, weil mich nie jemand anspielte. Das Paradies für Bewegungsmuffel! (Der Missstand, dass die Mannschaft mit Giovanni im Tor eine verdächtige Häufung von Eigentoren zu verzeichnen hatte, war damit allerdings nicht behoben.)

Am allerbesten war es aber, wenn wir mit Auswechselspielern spielten.

Dann verbrachte ich ganze Lektionen glücklich am Spielfeldrand. Neben mir sass Giovanni, und wir plauderten. Und wenn Herr Schnarwiler gerade mal nicht guckte, streckten wir uns ein bisschen im Gras aus.

Am Spielfeldrand

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L E C H T S U N D R I N K S

Text: Christine Weber, Illustration: Stefanie Sager

Aus dem Elend wird ein Himmel

Stadtoriginale und Randständige zeigen an sozialen Stadtführungen Brennpunkte und Anlaufstellen aus ihrem Umfeld. Ist das sinnvoll? Zumindest wirft es Fragen auf.

Slum-Tourismus boomt auf der ganzen Welt.

Von Kapstadt über Mumbai bis nach Rio de Janeiro: Jedes Jahr strömen Hunderttau- sende Touristen durch Elendsviertel und schnuppern die Luft der Armut. Solche Slum- Besichtigungen werden konträr diskutiert:

Manche nennen sie Armutspornografie, andere Entwicklungshilfe oder Integration.

In Luzern gibt es zwar keine Slums.

Im schmucken Städtchen bietet einzig die Baselstrasse mit ihrem Touch Multikulti und Rotlicht noch etwas Abwechslung zur Tourismus-Kulisse. Dort gibt es jedoch schon Führungen. Böse Zungen könnten sagen: Es bleiben noch die Randständigen als letzte Mohikaner, die dem Publikum ein bisschen urbanes Adrenalin durch die Adern jagen, wenn sie von ihrem turbulenten Leben er- zählen. Der Verein «Abseits» will mit seinen sozialen Stadtführungen genau das anbie- ten: Randständige führen zu Anlaufstatio- nen wie Gassenküche, Notschlafstelle oder Arbeitslosen-Treff und erzählen dazu von ihren Erfahrungen. Dahinter steckt natürlich kein voyeuristischer, sondern vielmehr ein integrativer Gedanke. Die Führerinnen und Führer können sich aktiv einbringen und die Teilnehmenden werden für die Situation

von Menschen in schwierigen Situationen sensibilisiert. Das ist alles gut und recht.

Doch wer in Luzern nicht blind auf dem sozialen Auge ist, kennt die Institutionen wie Gassenküche oder Notschlafstelle. Wer sich umsieht, weiss auch Bescheid über Plätze, an denen sich die Randständigen treffen, und hat vielleicht schon mal ein paar Worte mit dieser oder jenem gewechselt oder jemandem einen Fünfliber in die Hand gedrückt. Alle anderen wollen davon möglichst wenig hören und sehen. Darum wurden und werden die Randständigen in Luzern wie in anderen Städ- ten seit Jahren immer wie besser «versteckt»

und aus dem öffentlichen Raum verdrängt, wenn nötig mit Rayon- und Aufenthaltsver- boten. Nebst wenigen Hotspots in der Stadt spielen sich die Auswirkungen von Sucht, Obdachlosigkeit oder psychischen Problemen mehr oder weniger unsichtbar irgendwo in der Agglomeration ab. Als Pro-Argument kann man jetzt sagen: «Darum braucht es solche Führungen: damit die Situation dieser Menschen wieder vermehrt sichtbar wird.»

Das stimmt. Trotzdem sei die Frage gestellt: Ist es wirklich das richtige Instrument, um auf die Situation von Menschen in schwierigen Situationen aufmerksam zu machen? Braucht

es Führungen, weil wir zu blöd sind, die Problematik im Alltag zu bemerken?

Der Forscher Malte Steinbrick bringt die Risiken von Slum-Führungen so auf den Punkt: Nach einer Tour seien viele richtig beseelt und berichten von intensiven, posi- tiven Erlebnissen. Die Art, wie Armenviertel oft gezeigt würden, könne darum zu einer

«Entpolitisierung» führen: Slums werden dann nicht mehr als Orte sozialer und wirt- schaftlicher Ungleichheiten wahrgenommen, sondern romantisiert. Das kann auch bei den sozialen Stadtführungen in Luzern so passieren. Das jedenfalls suggeriert die An- kündigung: «Auf meiner Tour führe ich dich an Orte, wo ich früher mein Himmelbett aufgeschlagen habe», verspricht einer der Stadtführer, der jahrelang obdachlos war.

Ein Himmelbett! Das tönt doch irgendwie ganz lustig und romantisch.

PS: Warum gibt es eigentlich keine Führungen durch die Villen von Millionären? Da gäbe es bestimmt auch viel Elend zu sehen.

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Wer hat

Angst was? vor

Nothing’s about me or you, honey It’s all about the angst and the money

(Ja, Panik: «Alles hin, hin, hin»)

Illustration: Mart

Die Angst und die Politik – ein Crashkurs zur aktuellen Lage der Nationen.

Von Christoph Fellmann

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A NG S T

I. Die Statistik

Die Angst ist politisch, weil sie nicht rechnet. Nach jedem Terroranschlag beruhigen die Medien ihre Nutzer mit dem Hinweis auf die verschwindend kleine Gefahr, dass ein Mensch durch ein Attentat umkommt. Und trotzdem fürchten sich die Menschen in Europa, so glauben sie wenigstens, derzeit vor nichts mehr als vor der Bombe, die in ihrem Bahnhof hochgehen könnte, oder vor dem Dschihadisten an ihrem Popkonzert. Wie sollte sich die Angst, dieses zarte Seelchen, auch an die Statistik halten.

Die «New York Times» hat vor ein paar Jahren untersucht, wie die Chance, durch eine bestimmte Ursache zu ster- ben, mit der Medienberichterstattung darüber korreliert.

Und fand heraus: Das Verhältnis ist reziprok. Während sie 55 200 Zeitungsartikel über eine Haiattacke fand, gab es in den drei untersuchten Monaten gerade mal einen Text über Hautkrebs, an dem in den USA jährlich fast 10 000 Menschen sterben. In Deutschland hat der Wirtschafts- und Statistikprofessor Walter Krämer über das Phänomen geschrieben, etwa über die rund 50 000 Personen, die in der EU jedes Jahr an Krankheiten sterben, die sie sich erst im Spital zugezogen haben: «Nach allen Massstäben eines Desasters ist das eine Riesenkatastrophe, die weit mehr Aufmerksamkeit verdiente, als sie erhält.»

Nein, die Leute fürchten sich nicht, wie es angebracht wäre, vor ihrem fetten Essen, ihren Piercings oder vor der nächsten Velofahrt. Sondern vor Ebola, Ionenstrahlung und dem weissen Hai. Warum das so ist, dafür nennt Krämer mehrere Gründe: Erstens, die Leute können nicht rechnen, geschweige denn Statistiken lesen. Zweitens, sie fürchten sich vor Dingen, weil sich die anderen auch davor fürchten. Drittens, sie haben Angst vor Dingen, die sie nicht kennen, auch wenn sie ungefährlich sind. Und viertens, sie unterschätzen Risiken, die sie freiwillig eingehen, und überschätzen solche, über die sie keine Kontrolle haben. Zu ändern ist das nicht. Der Angsthaushalt von Menschen und Gesellschaften ist irrational. Dagegen anzuschreiben und zur Vernunft aufzurufen, bemerkt Krämer, nützt nichts.

Das ist eine schlechte Nachricht für die Vernünftigen.

Aber es ist eine gute Nachricht für alle, die mit Angst ihre Geschäfte machen.

II. Die Politik

Es ist fast schon ein Klischee, dass Politiker, populistische zumal, die Ängste der Wähler bewirtschaften. Das hindert Christoph Blocher oder Donald Trump am Rednerpult aber nicht daran, sich die Schweiz im Übergang zur Diktatur und die USA am Rande der Apokalypse zu imaginieren. Das Absurde ist nicht absurd. Denn nicht die Beruhigung der Angst bringt den Wahlerfolg, sondern ihre Bestätigung. «Wir brauchen die Ängstlichen, um Mehrheiten zu bewegen», gab Frauke Petry, Führerin der «Alternative für Deutsch-

land», im November 2015 am Parteitag zu. «Menschen, die aufgrund ihrer Angst wählen, wählen nicht den Trost», schrieb der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz in einem Essay in der «Zeit»: «Sie wählen ein Szenario, in dem ihre Angst bestehen bleiben darf. Sie haben ja bereits viel in sie investiert. Angst will überleben, und wenn Zäune und Lager errichtet werden, wird die Angst vor den Eingesperrten und Abgewiesenen nicht verschwinden, im Gegenteil.» Die Massnahmen, mit denen die Angst angeblich bekämpft wird, bestätigen, dass diese Angst berechtigt ist.

Die Menschen denken, es sei ihre eigene romantische Liebe, die sie fühlen. Und denken nicht daran, dass sie einem Ideal folgen, das durch Liebesromane in die Welt kam. Genauso verhält es sich mit der Angst: Mag sie auch von aussen kommen, so glaubt man doch, sie innen, sie in sich keimen zu spüren. So wird die Angst undiskutierbar.

«Man kann niemanden davon überzeugen, dass seine Ängste unbegründet sind», schreibt der deutsche Philosoph Heinz Bude in «Gesellschaft der Angst». Die logische Folge davon ist der Satz, der in den letzten Jahren zum Leitmotiv der Politik geworden ist: Man muss die Ängste der Bürger ernst nehmen. Das Resultat sind, zum Beispiel, Überwa- chungskameras in den Städten, dazu da, das «subjektive Sicherheitsempfinden» der Bevölkerung zu erhöhen. Dies, während die Sicherheitsberichte, die für nochmals viel Geld von den gleichen Städten in Auftrag gegeben werden, jedesmal zum Schluss kommen: Die Schweizer Städte sind sicher. Die Bereitschaft ist gross, in die Bestätigung und damit auch in die Nobilitierung diffuser Ängste zu investieren. Jonas Lüscher, Schriftsteller aus Zürich, hat in einem Essay dafür ein treffendes Bild gefunden, nämlich das eines elterlichen Schlafzimmers, in dem zu nächtlicher Stunde ein verängstigtes Kind auftaucht, das seine Eltern mit dem Ruf weckt, unter seinem Bett befinde sich ein Monster. «Bist du sicher», antworten die Populisteneltern,

«dass es nur eines ist?»

Wie aus dieser gefühlten, immer neu beglaubigten Angst schliesslich alternative Fakten aufsteigen, das zeigte ein Interview, das CNN im amerikanischen Wahlkampf mit Newt Gingrich führte: Der republikanische Supporter von Donald Trump behauptete, die Kriminalität sei in den USA unter Barack Obama gestiegen. Und gab erst auf mehrmaligen Verweis der Journalistin auf die gegenteiligen Fakten zu:

So fühle es sich nun mal an. Die Gefühlsgeschmeidigkeit zwischen der populistischen Elite und ihren Wählern stehe, schreibt Jonas Lüscher, für ein paternalistisches Verhältnis:

«Indem dem Bürger gesagt wird, es sei völlig in Ordnung, dass er seine diffusen Ängste als politische Kategorie verstehe, wird ihm die Fähigkeit zur Selbstreflexion abgesprochen und das Eintreten in den aufgeklärten politischen Diskurs verwehrt.» Diese populistische Strategie entlasse den Bürger

«in die Unmündigkeit», allerdings «mit einer Geste der Empathie».

Illustration: Mart

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A NG S T

Migranten ankommen, um an ihren gefährdeten Privilegien teilzuhaben. Das populistische Europa ist ein Europa voller Verlust- und Abstiegsangst. Auch diese Angst ist, wenigstens derzeit noch, irrational: Der Abstieg ist höchstens für Einzelne real, nicht aber für die gesamte Gesellschaft. Doch führt die Stagnation zu einem Gefühl, von der «Globalisierungselite»

zurückgelassen oder sogar verraten worden zu sein. Sie erzeugt einen Pessimismus, der von der Zukunft nur noch Schlechtes erwartet – vielleicht sogar die Apokalypse, wie sie von Blocher, Trump und anderen national ausgerufen, von den Wählern aber schon richtig verstanden und sehr persönlich genommen wird. Populistische Bewegungen bewirtschaften den Pessimismus – und verstärken ihn, indem sie die Verhältnisse destabilisieren. Die Abstiegsangst ist ein politisches Perpetuum mobile.

Die westlichen Gesellschaften, schreibt Heinz Bude in «Gesellschaft der Angst», kämen aus einer «Zeit der grossen Versprechen» – des Aufstiegs durch Bildung, des Wohlstands für alle, des amerikanischen Traums. Aber

«heute glaubt das kein Mensch mehr». Die Stagnation des Mittelstands, aber auch das neoliberale Konzept, habe das Aufstiegsversprechen durch die Exklusionsdrohung ersetzt, meint Bude. «Früher war dieses Versprechen der Kitt der Gesellschaft, heute ist es die Angst. Die Angst, herausgekippt zu werden.» Also gebe es in den Wohlstandsgesellschaften heute drei grosse Angstthemen: «Verbitterung, Erschöpfung, Verabschiedung.» Länder wie Deutschland oder die Schweiz seien auf den ersten Blick zwar sehr erfolgreich, aber sie hätten keine kollektive Erzählung mehr, keine Idee für die Zukunft, nur noch ein «Gefühl der Überlebtheit der Ordnung». Und «wer in einer solchen Situation die Ängste, überrollt zu werden, das Nachsehen zu haben und sich am Rand wiederzufinden, aufzunehmen, zu bündeln und auf ein neues Objekt auszurichten vermag, der kann eine Mo- bilisierung der Gesellschaft insgesamt in Gang setzen.» Ist es Strategie oder nur ironische Pointe, dass es die gleichen Politiker sind, die den Gedanken der Solidarität diffamieren, um anschliessend mit dem Sozialstaat auch das Bollwerk gegen die Abstiegsangst zu schleifen?

IV. Die Statistik (Slight Return)

Tom Ridge, Chef des US-Heimatschutzministeriums unter George W. Bush, hat nach dessen Präsidentschaft, wie es sich gehört, seine Memoiren geschrieben. Darin offenbarte er, dass die Administration von Bush ihn 2004 dazu gedrängt habe, die Terrorwarnstufe in wichtigen Momenten des Wahlkampfs heraufzusetzen. Der Präsident wurde knapp wiedergewählt, worauf Ridge schon zwei Jahre später, nämlich vor den Kongresswahlen, eine Liste mit 77 000 möglichen Terrorzielen in den USA veröffentlichte – darunter die Maultierparade von Columbia, Tennessee, oder der Old- McDonald’s-Streichelzoo in Woodville, Alabama. Wie gut die «Economy of Hatred» (so der Ökonom Edward Glaeser) III. Die Wirtschaft

Woher aber kommt dieses Bedürfnis des Wählers nach einfühlenden Politikergebärden? Was sind das genau für Ängste, und woher kommen sie? Der erwähnte Heinz Bude hat untersucht, warum Menschen, die Moslems in Deutschland ablehnen, das tun. Und drei Gruppen herausgearbeitet: Die erste, das «Dienstleistungsproletari- at», hat Angst vor der Jobkonkurrenz. Die zweite Gruppe fand, das Land sei schön so, wie es ist, und die Moslems störten nur. Die dritte Gruppe, so Bude, sei offen und weltgewandt, aber frustriert. «Sie haben das tiefe Gefühl:

Ich hätte mehr aus mir machen müssen.» Übersetzt heisst das: Es sind eben nicht, wie beispielsweise nach der Wahl von Donald Trump behauptet, die Verlierer, die sich hinter den Populisten scharen. Die Verlierer wissen um den Wert des Sozialstaats, den die Rechten ablehnen. Nein, es sind die Gewinner, die Angst um ihre Privilegien haben. Die Klassiker der Angst – Fremde, Kriminalität, Terror – , das sind die Chiffren für die Furcht, im Zuge der Globalisierung zu verlieren, abzusteigen.

Follow the money: Viel besser, als der Angst zu folgen, hilft tatsächlich diese bewährte Methode, der populistischen Hausse auf die Spur zu kommen. Drei deutsche Ökonomen haben kürzlich die Ergebnisse einer Studie präsentiert, in der sie die Wirtschaftskrisen in den westlichen Ländern seit 1870 untersuchten und ihre Auswirkungen auf die Politik.

Anders als Zusammenbrüche etwa in der Industrie wirkten sich Finanz- und Währungskrisen direkt und stark aus:

Populistische, fundamental kritische Bewegungen holten danach rund 30 Prozent mehr Stimmen als davor. Wie die Wissenschaftler glauben, profitierten Populisten von der Empörung über die staatliche Stützung der Banken und von der Angst der Menschen, ihr Geld zu verlieren. Das scheint triftig. Denn dafür spricht auch ein Blick in «Die ungleiche Welt», das neue Buch von Branko Milanovic, in dem er weltweit die Gewinner und die Verlierer der Globalisierung benennt. Der serbische Ökonom untersuchte dafür die Ent- wicklung der Einkommen zwischen 1988 und 2008. Den grössten Zuwachs von 60 bis fast 80 Prozent erlebte dabei eine neue, breite Mittelschicht in den wachsenden Märkten in Asien – und damit fast ein Fünftel der Weltbevölkerung.

Zu den grossen Profiteuren gehörten auch die Allerreichsten der Welt, sie leben in der Regel im Westen.

An Einkommen verloren hat gemäss Milanovic in den Jahren bis zur Finanzkrise weltweit niemand. Gar keinen oder nur einen sehr geringen Einkommenszuwachs erlebte allerdings die untere Mittelschicht der reichen Länder. Sie steht, absolut gesehen, zwar immer noch sehr viel besser da als die «neue, globale Mittelschicht» etwa in Asien, doch sie stagniert. Und während diese Menschen sehen, wie

«die Reichen immer reicher werden» und wie «der Chinese kommt», beobachten sie jeden Tag, wie die Flüchtlinge und

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A NG S T

funktioniert, bestätigte 2007 in einem Interview mit der

«Washington Post» der frühere Sicherheitsberater von Bush, Zbigniew Brzezinski: «Der ständige Bezug auf den ‹Krieg gegen den Terror› begünstigte die Entstehung einer Kultur der Angst. Angst verdrängt Vernunft, verstärkt Emotionen und macht es für demagogische Politiker einfacher, die Öffentlichkeit zu gewinnen.» Ein schönes Beispiel dafür lieferte damals Donald Rumsfeld, Verteidigungsminister unter Bush: «Es gibt Unbekanntes», raunte er. «Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.» Aber vor denen «wir» besser schon mal Angst haben.

Statistiker haben berechnet, dass nach den Terror- anschlägen von 2001 auf das World Trade Center rund 1600 Amerikaner starben, weil sie aus Angst vor dem Fliegen auf das Auto umstiegen. Und Journalisten haben recherchiert, dass der vom amerikanischen Staat geführte und bezahlte «Krieg gegen den Terror» rund 2000 private Firmen beschäftigte, deren einziges Geschäftsmodell dieser Krieg war. Angst tötet. Angst erschafft aber auch Geld;

nicht nur bei privaten Security- und Söldnerfirmen. Auch die Versicherungs-, die Medien-, die Big-Data- sowie die Gesundheits- und Pharmabranche leben wenigstens zum Teil gut in der «Gesellschaft der Angst». Wie gross der Markt der Paranoia ist, sieht man jeden Herbst in Zürich, wenn die «Fachmesse für Sicherheit» stattfindet und die neuesten Sensationen auf dem Markt für Alarmanlagen und Ähnliches anpreist. Wie in anderen Bereichen auch, machen auch hier die privaten Unternehmen die Gewinne, während der Staat zumindest einen Teil der Kosten trägt. US-Statistiker haben ausgerechnet, wie viel Geld ihr Land bereit war, für mehr Sicherheit auszugeben: Die Verhinderung eines einzelnen Todesfalles durch eine Masernimpfung kostet weniger als 50 Dollar. Demgegenüber bezahlte der Staat rund 2,8 Millionen Dollar für Sicherheitsgurte in Schulbussen, um einen Todesfall zu verhindern. Bei der Bauverstärkung in Erdbebenzonen waren es 18 Millionen, bei der Kontrolle des Arsenausstosses in Glasfabriken sogar 50 Millionen.

Nicht geschätzt wurden die Kosten der Terrorbekämpfung;

die Zahl würde wohl jedes Vorstellungsvermögen sprengen.

Die Autoren der Studie schrieben: «Angesichts solcher Ungleichheiten könnten erheblich mehr Menschenleben durch eine Umverteilung der Ressourcen gerettet werden.»

Das stimmt. Bloss, wer erstarrt ist in Abstiegsangst, wird sich wohl kaum für freiwilligen Verzicht aussprechen. Die Angst ist politisch, weil sie nicht rechnet.

Verwendete Bücher:

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst (Hamburger Edition 2014); Walter Krämer: Die Angst der Woche (Piper 2011); Jörg Schindler: Panikmache (S. Fischer 2016); Branko Milanovic: Die ungleiche Welt (Suhrkamp 2016).

«Der ständige Bezug auf den

‹Krieg gegen den Terror› be- günstigte die Entstehung

einer Kultur der

Angst.»

(14)

Wovor hast du Angst?*

Was macht Angst mit dir?**

Das

Spiel mit der

Angst

Elf Kulturschaffende stehen für unser Magazin Red und Antwort zur Angst. Im Rahmen des Thea- terprojekts «Anatomie der Angst»

von Annette von Goumoëns berühren, umrunden und spielen

sie das Gefühl der Stunde.

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Nicole Lechmann Schauspielerin & Theaterpädagogin

*Ich habe Angst davor, hier etwas völlig Absehbares oder Belangloses

zu schreiben …

**Sie schleicht sich an, formt meinen Körper zu Teig, zittert, klemmt die Kehle

zu, schwirrt durch meinen Kopf und bleibt so lange, wie es ihr gefällt.

Annette von Goumoëns Theaterschaffende

*Ich habe Angst davor, dass man mir Dinge andichtet, mit denen ich nichts zu

tun habe.

**Vorausgesetzt, ich merke, dass ich Angst habe, versuche ich, mit ihr ins Gespräch zu

kommen, um rauszufinden, was sie von mir will.

Rahel Ilona Eisenring Illustratorin & Trickfilmerin

*Es gibt vieles, was mir Angst machen kann: das Chaos im Kinderzimmer, Mono-

natriumglutamat im Essen, dem Gegen- über nicht zuhören, Flugzeuge in der Luft.

**Angst macht zittrig und Bauchweh. Ich versuche, auf Angst zuzugehen, oder eher:

Ich bleibe stehen, schaue hin, tätschle sie auch mal auf die Schulter.

Hans-Peter Pfammatter Jazzmusiker & –pianist

*Ich fürchte mich vor dem Teufel als lebendige Erscheinung. Seine Hörner und

sein übler Mundgeruch.

**Ich lasse sie vorüberziehen. Falls sie sich für längere Zeit eingemietet hat, greife ich

zur Mistgabel.

Manuel Kühne Schauspieler & Regisseur

*Ich habe Angst, dass ich mal einen

«normalen» Job annehme und Gefallen daran finde, ein geregeltes Einkommen

zu haben.

**Ich schlafe schlecht und ich trinke zu viel.

Isa Wiss Stimme & Performance

*Davor, meine intimen Ängste in ein paar wenigen geschriebenen Worten der Öffent-

lichkeit preiszugeben.

**Angst kann ein tiefes Beben sein, ein ohrenbetäubendes, taubes Geschrei, welches

von einer inbrünstigen Wut umhüllt sich Gehör zu verschaffen versucht.

«Anatomie der Angst» ist ein Langzeitprojekt, worin sich lokale Kunstschaffende aus diversen Sparten der Angst widmen. Beim Projekt wird ein kontinuier- lich-kreativer Austausch über den Zeitraum von ei- nem Jahr hinweg betrieben. So soll das Potenzial der lokalen freien Szene genutzt und der Szene selbst eine lautere Stimme gegeben werden. Wie bewegt sich die Angst, welche Körperlichkeit nimmt sie an, welcher Gestik und Mimik bedient sie sich und was für Geschichten hat sie zu erzählen? Am 11. Februar zeigte die Gruppe um die Luzerner Künstlerin Annet- te von Goumoëns im Südpol Luzern ein erstes Des- tillat ihrer Zusammenarbeit. Am Samstag, dem 29.

April zeigen sie im Kleintheater Luzern das zweite Ergebnis. Das Projekt wird vom Kanton Luzern mit- tels der selektiven Produktionsförderung (40 000 Franken) unterstützt. Lesen Sie auch das Interview mit Annette von Goumoëns auf www.null41.ch! (red)

Evelyne Gugolz Schauspielerin & Sprecherin

*Vor Krankheiten, Epidemien, Schmerzen, Terror, falschen Entscheidungen, aggressi-

ven Hunden, Verlust.

**Manchmal wirkt sie lähmend, manchmal bringt sie mich dazu, gewisse Grenzen zu

überschreiten.

Melinda Giger Künstlerin & Performerin

*Im Dunkeln alleine mit dem Fahrrad die letzte Strecke vom Ende des Dorfes zu mir

nach Hause zu fahren.

**Sie lässt mich schneller atmen.

Sie lässt mich erstarren. Sie weckt und mobilisiert eine enorme Kraft und

doch lähmt sie mich.

Nicola Romanò Cellist

*Ich habe riesige Angst vor einer schlim- men Diagnose. Und vor einer Vollnarkose.

Ich habe zudem eine panische Angst vor dem Erbrechen. Das ist zum Kotzen.

**Angst kann mich ganz erfüllen. Ich erstarre dann und etwas zieht, biegt oder

knickt mich vornüber. Mein Blick senkt sich, kein Horizont mehr.

Niklaus Mäder Bassklarinettist & Sänger

*Ich habe Angst vor der Selbstaufgabe und vor Kontrollverlust! Ich habe Angst davor, nur ein Rädchen in einer grossen Maschine

zu sein.

**Sie hemmt mich oder sie treibt mich vorwärts.

Davide Giovanzana Schauspieler & Regisseur

*That would definitely be the fear of failure.

**It constantly pushes me to digging further. But still I’m never satisfied.

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«Musik ist

die

Nahrung der

Hoffnung»

Das Langzeitprojekt «The Art of a Culture of Hope» regt zum Dialog über Hoffnung an. Neben dem Südpol bekommt es auch am B-Sides

Festival eine Plattform. Ein Gespräch mit Jessica Huber und James Leadbitter, den Initianten des Projekts.

Von Urs Arnold, Bild: Nelly Rodriguez, zvg

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HOF F N U NG

The Art of a Culture of Hope

Über das Jahr hinweg veranstalten die Schwei- zer Künstlerin Jessica Huber und der englische Performer James Leadbitter europaweit Per- formances sowie Workshops zu den Themen Angst und Hoffnung. Für die Workshops wird mit verschiedensten Gruppen zusammengear- beitet, etwa mit Schulklassen oder Vereinen. In Luzern begleitet das B-Sides das Projekt – dies in Kooperation mit dem Südpol.

www.theartofacultureofhope.com Warum ist eine gesellschaftliche Reflektion über

Hoffnung notwendig?

James Leadbitter: Unser Prozess startete damit, dass wir über Angst redeten. Was sie mit uns macht und wie wichtig es ist, ihr mit Hoffnung entgegenzutreten. Diesen Dialog wollten wir ausweiten. Hoffnung braucht Kraft. Die findet man jedoch nicht alleine, sondern nur im Austausch mit anderen Menschen.

Jessica Huber: Hoffnung unterliegt letztlich der Interpretation. Für mich ist Hoffnung ein Raum für Potenzial, für Möglichkeiten.

Hoffnung ist kein Alles-wird-gut-Wunsch.

Aber wir können eine Diskussion anfangen, die Wege für Veränderung und Imagination erschliessen kann.

Der Projektname verweist auf eine Kultur der Hoffnung. Ist diese genauer definierbar?

J. L.: Der Begriff wurde aus unserer Haltung gegenüber Kultur geboren. Wir sind vor allem daran interessiert, was Kultur kann.

Entgegen der Wirtschaft ist Kultur jedoch nicht quantifizierbar, dafür gefühlsbedingt.

Hier sehe ich eine grosse Nähe zur Hoffnung.

J. H.: Eine Kultur der Hoffnung basiert zual- lererst auf Fragen. Wie leben wir miteinan- der zusammen? Wo legen wir den Fokus in unserer Gesellschaft? Der Austausch darüber schafft eine Gemeinschaft. Das erleben wir in unseren Workshops immer wieder.

Sie arbeiten mit verschiedenen Kulturhäusern zusammen. Die Kollaboration mit dem B-Sides sticht da heraus. Was kann ein Musikfestival in Sachen Hoffnung leisten?

J. L.: Musik ist die Nahrung der Hoffnung, sie besitzt eine starke vereinende Kraft. Wir hatten das grosse Glück, dass Marcel Bieri vom B-Sides uns anfragte. Er möchte dem Festival eine gesellschaftspolitische Ebene verleihen.

J. H.: Das B-Sides Festival ist eine unglaub- liche Chance. Es ist ein Anlass, der sehr viele unterschiedliche Leute zusammenbringt.

Diese wollen wir in einem simplen und spielerischen Weg in den Gedankenprozess einbinden.

In welcher Form wird sich Ihr Projekt am B-Sides Festival präsentieren?

J. H.: Unsere Gestalterin Gabriela Rutz wird eng mit dem Deko-Team des B-Sides zusam- menarbeiten. Wir werden Workshops veran- stalten und planen thematische Interventi- onen. Toll ist, dass das B-Sides von sich aus Ideen zum Thema entwickelt.

Von Ihren zahlreichen Anlässen wird ein umfangreiches Archiv erstellt. Was passiert damit?

J. H.: Wir werden es ab Frühling 2018 digital und physisch zugänglich machen.

Die Ausstellungen werden in öffentlichen Räumen verschiedener Schweizer und internationaler Städte stattfinden, drin- nen wie draussen. Ich sehe sie als einzelne Bäume, das digitale Archiv als den gesamten Wald. Unser Ziel ist eine Weiterführung des Dialogs, eine Vervielfältigung der Gedanken.

Sie möchten einen Artikel auf das Recht auf Hoffnung in die Schweizer Verfassung inte- grieren. Ein ambitionierter Plan.

J. L.: Das ist kein Plan, es ist vorerst eine Frage, die wir in den Workshops stellen:

Braucht es einen Artikel, und wenn ja, wie wäre dieser formuliert? Am Ende kristallisie- ren sich so vielleicht zwei, drei simple Dinge heraus, auf denen wir beharren können.

J. H.: In der Schweizer Verfassung steht:

Wir müssen alles unternehmen, dass es der zukünftigen Generation gut geht. Nimmt man dies ernst, gibt es keinen Weg drum herum, uns hinzusetzen und miteinan- der über Räume von Potenzial, sprich: über Hoffnung zu reden.

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VON F LÜ E

Obwalden feiert 2017 den 600. Geburtstag von Bruder Klaus.

Er ist mehr als ein Heiliger, der angebetet wird.

Bilder und Text von Christof Hirtler

Weggefährte im Alltag

Niklaus von Flüe (1417–1487) lebte in einer Zeit von kriegerischen Auseinandersetzungen und der Dekadenz in der Kirche. Er ging sei- nen eigenen Weg – als Bauer, Soldat, Politiker, Friedensstifter und Mystiker. Bruder Klaus hat gesucht, gelitten, gezweifelt. Er ist keine blosse Legenden- oder Sagenfigur, er hat ge- lebt, von ihm gibt es zahlreiche Zeugnisse. Der Obwaldner Bauer hat 20 Jahre seines Lebens im Ranft oberhalb von Sachseln meditiert. Seit Jahrhunderten suchen Menschen bei ihm Halt und Unterstützung in jeder Lebensphase.

Bruder Klaus ist in der Innerschweiz, insbe- sondere im Kanton Obwalden, präsent. Er wird im Betruf angerufen, Kapellen sind ihm ge- weiht, in vielen Stuben und Bildstöcken stehen Statuen von Bruder Klaus. Welche Bedeutung

hat Bruder Klaus für die Menschen heute? Stube in Lungern.

Gedenken an Verstorbene, Lungern.

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Hans Blum, Leiter Produktentwicklung bio-familia AG, Sachseln

Die Solothurnerin Anny Metzner und der deutsche Unternehmer Georg Hipp lernten sich im Kanton Obwalden kennen und lieben. Jahr für Jahr pilgerten sie zum Bruder Klaus in den Ranft. 1954 gründete Georg Hipp die bio-familia AG. Seither befindet sich in unserem Betrieb eine Bruder-Klausen-Statue. Leider geriet sie mit den Jahren in Vergessen- heit und verstaubte in einer Ecke. Auf Initiative vieler Mitarbeiter haben wir unserem Schutzpatron vor zwölf Jahren im Treppenhaus unserer Produktionshalle einen definitiven Platz gegeben. Hier begegnen wir Bruder Klaus jeden Tag.

Max Bissig, Seilwart, Luftseilbahn Eierschwand–Ruogig, Kanton Uri Für uns ist Bruder Klaus sehr wichtig. Er beschützt unsere Anlagen. Er schaut, dass wir alles recht machen und wir freundlich sind zu den Leuten.

Heiliger Bruder Klaus bitt für uns. Hohe Brücke, Kerns.

Seilbahn Eierschwand-Ruogig, Bürglen.

Bruder Klaus – Schutzpatron der bio-familia AG, Sachseln.

(20)

VON F LÜ E

Margrit Waser, Bäuerin, Kerns Vor 17 Jahren haben wir die Bruder-Klausen-Statue von den Eltern zur Hofübergabe erhalten. Bruder Klaus ist unser Schutzpatron, gibt uns Unterstützung. Als es um die Lehr-

stelle ging, sind wir mit jedem Kind zu Fuss in den Ranft gepilgert und haben gebittet. Als sie die Lehrstelle erhielten, haben wir im Ranft Bruder Klaus gedankt.

Herrgottswinkel, Alp Wängi-Chinzertal, Kanton Uri.

Stube, Hof Rain, Kerns.

Elsbeth Windlin, Bäuerin, Kerns

Ich bekam im Oktober 1962 Wendelin, mein fünftes Kind. Ich lag schwer krank im Spital. Mein Mann hat Bruder Klaus als Dank ein Bildstöckchen versprochen, falls ich wieder gesund heimkäme. Beda Durrer, Bauer und Maler aus Kerns, schenkte uns ein Bild mit den drei Bauernheiligen – Wendelin, Antonius und Bruder Klaus.

Bildstock mit den drei Bauernheiligen Wendelin, Bruder Klaus und Antonius, Hof Unterbüel, Kerns.

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VON F LÜ E

Niklaus von Flüe

1417 wird Niklaus im Bauernhaus unter der Flüe, Sachseln, geboren. Be- reits als Jugendlicher fühlt er sich zu Gott hingezogen. 16-jährig sieht Ni- klaus von Flüe in einer Vision einen hohen Turm an der Stelle im Ranft, wo er sich 50 Jahre später in seiner Einsiedelei einrichten wird. Als Offizier beteiligt sich Niklaus von Flüe von 1440 bis 1444 an mehreren Feldzü- gen. Der Krieg ist ihm zuwider.

1447 heiratet er Dorothea Wyss, zehn Kinder kommen zur Welt. Niklaus von Flüe ist begütert und einflussreich. Sein Wort hat Gewicht. Bis 1467 ist er in verschiedenen Räten und Gerichten tätig. Er ist Mitglied der Re- gierung, Delegierter des Standes Ob dem Wald. Das Landammannamt lehnt er stets ab.

Um 1467 legt Niklaus von Flüe alle politischen Ämter nieder. Am 16. Ok- tober 1467 verlässt er offenbar im Einverständnis seiner Frau die Familie, um als Pilger in die Welt zu ziehen. Nach wenigen Wochen kehrt er von Visionen geleitet nach Obwalden zurück. In der Einsamkeit der Ranft-

schlucht suchte er die Nähe zu Gott. Freunde bauen ihm dort eine Ka- pelle und eine Klause.

Niklaus von Flüe nennt sich fortan Bruder Klaus. Er kann weder lesen noch schreiben. Von einem Pilger erhält er ein Betrachtungstuch. Das Meditationsbild zeigt in der Mitte Christus mit der Dornenkrone und da- von ausgehend sechs Speichen und sechs Medaillons mit Szenen der biblischen Heilsgeschichte.

Durch sein Fasten und seine Rolle als Friedensstifter im Stanser Ver- kommnis 1481 erlangt Bruder Klaus Anerkennung über die Schweiz hi- naus. Seine politische Weisheit und Weitsicht werden von den Herr- schenden in Frankreich, Mailand und der Stadtrepublik Venedig geachtet.

Am Mittwoch, 21. März 1487, stirbt Bruder Klaus. 1488 werden erstmals Aussagen von Zeitzeugen über das Leben von Bruder Klaus im Sachsler Kirchenbuch festgeschrieben. 1947 wird Bruder Klaus durch Papst Pius XII. heiliggesprochen. (Christof Hirtler)

Welche Achtung Bruder Klaus widerfährt, beweist auch eine Geschichte aus den 1960er- Jahren: Ein Handwerker musste in der Stube des Kaplaneihauses in Bürglen OW den alten Kachelofen abreissen. Die Kachel mit dem Bruder-Klausen-Bild wollte er um keinen Preis zerstören. Er löste sie sorgfältig ab und plat- zierte sie auf einen Stein bei den Dundelsbach- Wasserfällen, ganz in der Nähe seines Hauses in Lungern.

www.bildfluss.ch Äbtissin Pia, Benediktinerinnen-Kloster

St. Andreas, Sarnen Täglich pilgern Menschen zum Sarner Jesuskind. Täglich

beantworte ich Briefe mit schweren Anliegen. Meine Mutter erhielt vom Sarner Jesuskind wunderbare Hilfe.

Ich war erst vier Wochen alt und war vom Keuchhusten ganz blau angelaufen. Meine Eltern dachten, dass ich nicht mehr davonkäme. Ein Pfarrer gab mir die Letzte Ölung.

Das Gebet von Bruder Klaus gibt mir viel Kraft, ich bete es jeden Tag. Wenn ich an unserer kleinen Bruder-Klausen-

Kapelle im Hof vorbeigehe, teile ich ihm im Stillen meine Anliegen mit. Ich denke an die verstorbenen Mitschwestern und an meine Angehörigen. Ich weiss, dass es ihnen gut geht. Sie sind im ewigen Licht, im Glück.

Sakramentskapelle, Giswil.

Ausstellung des Malers Beda Durrer (1933–1993) im Muigäloch, Kerns. Für den Aussen- seiter Beda Durrer (Maler, Fantast und Erfinder) war Bruder Klaus ein Kämpfer gegen Ungerechtigkeit, Macht und Korruption.

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Jagen und Sammeln

Die Vinyl-Verkaufszahlen steigen in der Schweiz seit Jahren. Auch in Luzern ist die Rückkehr zum alten Format spürbar: Plattenläden wie der Old Town Store oder Co- Mix Remix sind im Aufwind. Und Technik-Nerds wie Timo Keller produzieren selber Schallplatten mit einem Vinylrecorder (siehe rechts). Ein Rundumblick.

Von Stefan Zihlmann

ich antworten kann, hält er schon eine Platte des Musikers in der Hand und gibt Auskunft über Label und Biografie des Künstlers. Kurtovic ist nicht nur ein fachkundiger Vinyl-Fan, sondern als DJ Special Ed-In auch eine feste Grösse im Luzerner Nachtleben. Seinen ersten Plattenspieler hat er sich während der Lehre mit einem Darlehen der Mutter gekauft. Seither ist er dem Vinyl verfallen. Wie so viele Kunden, die in diesen Laden kommen. Neben schwarzem Gold kann man hier auch Plattenspie-

ler, Nadeln, Kopfhörer und selbst Bücher zum Thema erwerben. Aber «erwerben»

ist eigentlich das falsche Wort. Hier

«diggen» die Leute Platten – viele davon Jäger und Sammler, die mit langen Wunschlisten in der

Hand das Geschäft aufsuchen.

Falls etwas nicht im Laden vorhanden ist, wird es über einen Vertrieb bestellt. Oder über Discogs, wenn es sich um vergriffene Tonträger oder Raritäten handelt. Auf dieser Internet-Datenbank, die gleichzeitig auch ein Marktplatz ist, werden Mil- lionen von Occasions-Platten gehandelt. Aber es sind nicht nur alteingesessene Plattensammler, die den Laden aufsuchen, auch viele Neu- kunden tummeln sich um die Holzkisten. Die Haptik einer Schallplatte, das «Etwas in den Händen halten» macht Vinyl auch für viele Digital Natives attraktiv.

Und sei es nur, um das Expedit-Regal von Ikea zu füllen.

Vinyl versprüht Nostalgie und Exklusivität, etwas, das Streaming-Dienste nicht bieten können. Und noch wich- tiger: Mit der Marge, die eine Schallplatte abwirft, können Musiker, Labels und Plattenhändler wieder Geld verdienen und die Musik bekommt zurück, was ihr in den letzten Jahren abhanden kam: Wertigkeit.

Wäre mit Schallplatten kein Geld mehr zu verdienen, hätte Adrian Seeberger vom Old Town Store ein ernsthaftes Problem. Auch er profitiert vom Vinyl-Trend: Eine satte Umsatzsteigerung von 90 Prozent konnte er im letzten Jahr verbuchen. Das Geschäft übernahm der 49-Jährige im November 2015 vom langjährigen Inhaber Erich Rothacher, der das Geschäft seit 1976 führte. Wurden dort anfangs Schallplatten verkauft, ersetzte Rothacher diese spätestens in den 90er-Jahren durch CDs. Heute schlägt das

Pendel wieder in die andere Richtung. Laut dem Branchenverband der Musikla- bels (IFPI) wurden in der Schweiz 2015 150 000 Platten verkauft.

Im Vergleich zu 2014 ist das nahezu eine Verdopplung der Plattenverkäufe. Ad- rian Seeberger kann von Kunden erzählen, die vor dreissig Jahren eine Plat- te kauften, später durch eine CD ersetzten und nun nochmals dasselbe Album auf Platte kaufen.

Der Vinyl-Trend hat viele Labels dazu bewogen, ihren Backkatalog neu aufzulegen.

So werden Klassiker oder Ra- ritäten wieder auf hochwertiges Vinyl gepresst. Ende Februar wird der Old Town Store umgebaut, auch um der wachsenden Nachfrage nach Vinyl den nötigen Platz zu bieten.

Eine Platte «diggen»

Bereits das Ladenlokal ausgebaut hat der Co-Mix Remix in der Pfistergasse. Seit November werden im zweiten Stock ca. 15 000 Schallplatten angeboten. Als ich das Ladenlokal betrete, fragt mich Edin Kurtovic, der an diesem Tag den Laden hütet: «Gehst du ans Konzert von Kutmah?» Bevor

V I N Y L

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Technik-Nerd

Mit dem Lift geht es in den sechsten Stock. Über den Dächern von Luzern, oberhalb der Bar 59, hat Timo Keller (31) sein Studio eingerich-

tet. Neben gängigem Studio-Equipment steht seit einem Jahr auch ein Vinylre-

corder in der ehemaligen Lagerhalle, die Keller eigenhändig zu einem

Studio umgebaut hat.

Mit diesem Vinylrecorder resp. Vinylschneider kann er selber Schallplatten herstel-

len. Es ist nicht das einzige faszinierende Gerät in sei-

nem Studio. Im Regieraum ragt ein altes Studer-A80- Aufnahmegerät bis fast zur Decke. Mit dem gleichen Modell haben Pink Floyd das Album «Dark Side Of The Moon» auf Spulenband verewigt. Timo Keller, der mit seiner Band Hanreti auch Musik macht, ist ein Technik- Nerd, der gleichermassen mit analoger und digitaler Technik arbeitet.

Als Musiker und Tontechniker sieht er sich als Handwerker, der den ganzen Prozess verfolgen möchte, vom ersten Ton bis zum Endprodukt – dem Medium als Datenträger. Die Arbeit mit dem Vinylschneider erklärt er mit folgendem Beispiel: «Es ist wie bei einem Schreiner, der am Abend seinen fertigen Tisch anschaut und stolz ist.

Mit dem Unterschied, dass bei mir statt Holzspäne

dünne Plastikfäden übrig bleiben.» Diese dünnen Fäden sind das Abfallprodukt, das bei diesem Einzelschnitt anfällt. Im Gegensatz zu industriell hergestelltem Vinyl wird die Platte nicht mittels einer Vorlage gepresst.

«Mit einer Lampe wird die noch rillenlose Platte auf 40 bis 45 °C erhitzt. Das Audiosignal wird durch zwei kleine Boxen oberhalb vom Stichel gespiesen, die dann durch elektrische Impulse den Stichel in Bewegung versetzen», erklärt Keller.

Weniger physikalisch sind folgende Fakten: Das Schneidegerät kostet an die 3500 Euro und wird von Hand von einem Spezialisten in Deutschland herge- stellt. Der Herstellungsprozess einer Platte beinhaltet über 15 Schritte. Hält man diese nicht exakt ein, ist die Platte unbrauchbar. Vor allem das Auspegeln des Audiosignals ist aufwendig und verbraucht etwa drei Rohlinge bis zum gewünschten Resultat.

Und dann braucht es auch einen Staubsauger, der die Plastikfäden während des Schneidens aufsaugt.

«Mir sind drei Staubsauger kaputt gegangen, bis ich einen fand, der eine Stunde nonstop saugen konnte:

einen M-Budget, den günstigsten übrigens», sagt Kel- ler. Mit Arbeitsstunden, Material und Amortisation kommt Keller auf Kosten von etwa 85 Franken pro Platte. Für ihn lautet die Gretchenfrage: «Wer gibt so viel Geld aus?» Aber Keller sieht auch das kreative Potenzial oder, wie er es nennt, den «heiligen Gral»:

Ein Konzert aufnehmen und gleichzeitig mit dem Vinylschneider auf Platte schneiden und den Gästen nachher verkaufen. Denn das ist, was diese Maschine am besten kann: eine Platte zu erzeugen, die es nur einmal auf der Welt gibt. Zum Vinyltrend hat Keller eine ganz pragmatische Sicht der Dinge: «Unsere digitalen Daten werden mit der Zeit verloren gehen, Schallplatten halten bei richtiger Lagerung über Jahrzehnte.»

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L I T E R AT U R F E S T

«An den Schliessen ist der Goldschmied noch dran», meint Clarissa Rothacker beiläufig. Gold, das ist das Wort, das mit am häufigsten fällt im Gespräch über den Quaternio Verlag Luzern. Dicht gefolgt von Silber. Auf dem Tisch liegt ein Vor- druck des «Sobieski-Stundenbuch»-Faksimiles.

Diese Publikation klingt so exklusiv, dass auch die Populärpresse davon Notiz nahm. Und sie ist genauso exklusiv, wie sie klingt: Das «Sobieski- Stundenbuch» befindet sich in der Royal Library auf Windsor Castle. Hergestellt in Paris um 1430, gilt es als ein Meisterwerk der Büchermalerei. Für das Quaternio-Faksimile, das wie alle Quaternio- Faksimiles mit einem Kommentarband verkauft wird, schrieb Prince Charles das Vorwort. Auflage:

680 Stück. Preis auf Anfrage.

Der Klang von Pergament

Quaternio ist einer von rund 40 Verlagen, die von Freitag bis Sonntag in der Kornschütte an- zutreffen sein werden. Der Verlag wurde 2009 von vier ehemaligen Angestellten des mittlerweile eingestellten Faksimile Verlag Luzern gegründet und zählt heute acht Mitarbeitende. Quaternio publiziert normalerweise zwei Faksimiles pro Jahr, daneben zwei Kunstbücher – «Bücher, die sich zum Beispiel wegen ihres Formats nicht faksi- milieren lassen», so Rothacker – und gelegentlich einen Ausstellungskatalog. Der Arbeitsaufwand dahinter ist enorm. Faksimiles sind detailgetreue Reproduktionen, im Falle Quaternios von mit- telalterlichen Büchern. Die handgeschriebenen Originale sind also immer Unikate und müssen an ihrem Standort bleiben. Sei dieser die Biblio- thèque nationale de France, das Kloster Einsiedeln oder eben die Royal Library. Um trotzdem jeden Farbton haargenau zu treffen, braucht es nicht nur einiges an handwerklichem Können, sondern auch mehrmaliges Hin- und Herreisen.

Der grösste Teil des Verlagspro- gramms von Quaternio richtet sich eindeutig nicht an Laufkundschaft.

Man erwarte daher nicht, am Bü- chermarkt in der Kornschütte etwas zu verkaufen, meint Rothacker. Aber man wolle den Besuchern die Mög- lichkeit geben, sonst der Öffentlichkeit vorenthaltene Bücher als Faksimiles anzuschauen. Was einem dabei viel- leicht auffällt: Das Papier ist zwar kein Pergament, klingt aber so und fühlt sich fast so an. Dafür hat Quaternio eigens ein spezielles Verfahren entwi- ckelt. Das ist pure Liebe zum Detail.

Lyrik im schönsten Gewand Liebhabern hochwertiger Gedichtbän- de sei ein Besuch bei zwei Stamm- gästen des Luzerner Literaturfests ans Herz gelegt: Kevin Perrymans 1983 gegründeter Babel-Verlag aus Fuchstal in Deutschland und der bereits seit 1973 bestehende Klaus G. Renner Verlag, beheimatet in Zürich und dem italienischen Ottiglio. Beide sind nur noch bedingt aktiv, was die Gelegen- heit umso ergreifenswerter macht.

Der gebürtige Engländer Perry- man hat sich vor allem der anglopho- nen Lyrik verschrieben, die er selbst meisterhaft ins Deutsche übersetzt und zweisprachig in schönsten Ge- wändern publiziert. Etwa in Um- schlägen, deren Material aus alten Anzügen gewonnen wurde. Zu den

Als reiner Informationsträger sind Tintenkleckse auf totem Baum von der Digitalisierung bedroht. Dem physischen Buch bleiben andere Eigenschaf- ten vorbehalten, etwa die Haptik und Optik des Papiers, der Klang beim Umblättern, das Gewicht in der Hand. Für Objektfetischisten hält der am Freitagnachmittag beginnende Büchermarkt am 31. Luzerner Literaturfest einiges bereit. Hier unsere Empfehlungen.

Von Patrick Hegglin*

Kleiner Büchermarktführer für Fetischisten

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L I T E R AT U R F E S T

Höhepunkten des Programms zählen die Gedichte der Engländerin Anne Beresford, des Schotten Seán Rafferty und des Walisers R. S. Thomas. Auch drei Publikationen des Schweizer Lyrikers Franz Wurm erschienen bei Babel. Perryman ist selbst ein spannender Dichter, der sich vor allem in klassischen Themen und Formen bewegt. Zuletzt publi- zierte er im Waldgut Verlag aus Frauenfeld, der ebenfalls in der Kornschütte zu Gast sein wird. Er ist ausserdem ein äusserst char- manter Kundenflüsterer, von dem man sich unbedingt umgarnen lassen sollte.

Renner, der in seinen ersten Jahrzehn- ten in grösseren Auflagen und schlichterer Ausstattung etwa die gesammelten Werke des Dadaisten Walter Serner publizierte, begann sich in den 90ern auf Kleinode zu konzentrieren. Dabei entstand beispielsweise eine wunderschöne deutsch–französische Ausgabe der «Écrits Pornographiques» von Boris Vian. Wer ein Faible für Surrealismus und Pataphysik hat, kommt bei Renner auf seine Kosten.

*Patrick Hegglin wird mit seinem Kleinstverlag Der Kollaboratör ebenfalls in der Kornschütte anzutreffen sein und würde sich über Ihren Besuch freuen.

Literaturfest Luzern, DO 9. bis SO 12. März, Kornschütte, Luzern

Geschichtsträchtig und zeitgenössisch Als einzige Buchhandlung ist Hirschmatt mit einem Tisch in der Kornschütte vertreten. Darauf, so Ge- schäftsführer Jörg Duss, werden neben regionalen Publikationen (deren Verlage nicht selbst anwesend sind) vor allem Produkte der Büchergilde Gutenberg zu finden sein. Die Buchhandlung Hirschmatt hat vor einigen Monaten deren gesamtschweizerische Auslie- ferung übernommen und den Büchergilde-Produkten zudem im ersten Stock der Buchhandlung einen ganzen Raum gewidmet.

Die Büchergilde Gutenberg hat eine bewegte Ge- schichte. Gegründet wurde sie 1924 in Leipzig als einer der ersten subskriptionsbasierten «Buchclubs». Der selbst auferlegte Leistungsauftrag war, der Arbeiterklasse Zugang zu bezahlbaren und gut gemachten Büchern zu ermöglichen. In der Zeit des Nationalsozialismus entstand ein starkes Band zur Schweiz: Aus Deutschland vertrieben wurde Zürich zur Heimat. Um 1945 zählte die Büchergilde in der Schweiz etwa 100 000 Mitglieder.

Schön gemachte Bücher zu bezahlbaren Preisen veröffentlicht die Büchergilde bis heute. Das Programm ist dabei sehr abwechslungsreich. Vorzugsausgaben zeitgenössischer Erfolgsbücher – etwa Wolfgang Herrn- dorfs «Tschick» – stehen neben Klassikern wie Arthur C. Clarkes «2001: A Space Odyssey». Insbesondere die illustrierten Ausgaben sind sehenswert, etwa Michail Bulgakows «Das hündische Herz», optisch brillant interpretiert von Christian Gralingen. Jörg Duss haben es derzeit zwei Bücher angetan. Einerseits die Matro- senerzählung «Über Bord» von Rudyard Kipling, das, illustriert von Christian Schneider, mit einer Seekarte kommt. Andererseits «Das Ende der Einsamkeit» des jungen deutsch-schweizerischen Schriftstellers Benedict Wells, das mit Regionalbezug punkten kann: Ein Teil der Handlung spielt im Eigenthal. Mehr über die Geschichte und Tätigkeit der Büchergilde Gutenberg und über die Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Hirschmatt gibt es am Samstag um 12 Uhr beim Sofagespräch mit Jörg Duss und Christoph Gilberg zu erfahren.

Neben dem Büchermarkt finden im Rahmen des Literaturfests ab Donnerstag jeden Abend Lesungen statt.

Das Programm dazu, wie auch die vollständige Liste der Sofagespräche, finden Sie in der «Literaturpause», die diesem Kulturmagazin beiliegt.

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N AC H RU F

2017 4./5. März

STATTKINO/BOURBAKI Luzern

Samstag/Sonntag ab 11 Uhr Vorführung der Gewinnerfilme in Anwesenheit der Filmschaffenden Stattkino, Bourbaki 2 & 4

Samstag 11-16 Uhr/Sonntag 12-16 Uhr Infostände der Zentralschweizer Filmbranche

Bourbaki Erdgeschoss Samstag 16-17 Uhr

Podiumsgespräch: Zentralschweizer Filmförderung wohin?

Stattkino

Weitere Informationen:

Gelebtes Engagement:

Al Imfeld (1935–2017)

«Oh wie ist doch das dunkle Heidenland Afrika schön, und wie unglücklich sind doch die armen Heiden! Ach, wie sie sich wohl schon nach uns sehnen.» So schrieb der 13-jährige Alois Imfeld am 9. April 1948 in sein Tagebuch. Sechs Jahre später brach er nach der Matura heimlich auf, verdingte sich als Schiffsjunge in Marseille und gelangte nach Lambarene. Er suchte sein Idol auf, den Urwalddoktor Albert Schweitzer – und war enttäuscht. Er fand einen «Helfer, der die Hilfesuchenden verachtet».

Der Bauernbub vom Napf hielt nie mit seiner Meinung zurück, tat, was immer er für richtig hielt, und lebte zeitlebens ein Engagement, das voller Zuneigung für sein Gegenüber war. 1935 in Lachen geboren, wuchs Al Imfeld auf dem Birchbühl im Luzerner Hinterland auf. Das älteste von 13 Kindern war zum Priester bestimmt, das öffnete ihm den Weg zu Matura und Studium.

Dass er nach dem Gymnasium bei den Patres in die Missionsgesellschaft Immensee eintrat, lag nahe. Doch sein Missionieren war weltläufig und weltnah und wich weit ab von der frühen Tagebuchsehnsucht. Sein Theologiestudium an der Gregoriana in Rom endete mit der Wegweisung und fand seine Fortsetzung in den USA, wo Al Imfeld bei Paul Tillich doktorierte. Er nahm teil an den Märschen des Civil Rights Movement, begegnete Martin Luther King, ging als Kriegs- berichterstatter nach Vietnam, traf auf der Seite des Gegners Ho Chi Minh zum Gespräch. Das beendete sein Berichterstatter-Abenteuer abrupt und es folgten Reisen durch Südostasien und das Studium der Tropenagronomie. Rhodesien wurde 1967 das Land seines ersten Missionseinsatzes auf dem schwarzen Kontinent.

Al Imfeld, der am 14. Februar, einen Monat nach seinem 82. Geburtstag, gestorben ist, war ein profunder Afrikakenner und Entwicklungsexperte.

In den Geister- und Lebenswelten Afrikas und des Napfs fand er Verwandtschaften, er ermöglichte Begegnungen zwischen Viehzüchtern der Massai und Bauern aus dem Entlebuch. Er war ein weltzugewandter Theologe, dem die Praxis alles galt, der bei seinen Oberen anecken mochte, aber

von seinem Engagement nicht abrückte. Dabei verband er sein Wissen und seine Erfahrung, die er bereitwillig als Publizist, Berater, Redner und Gesprächspartner mit der Öffentlichkeit teilte, mit der ihm ureigenen Begabung des Erzählens. Es war eine tiefe Gleichstimmung, die ihn mit den Geschichtenerzählern Afrikas verband, dieses von Mund-zu-Ohr-Weitertragen von Erleben und Wissen. Er konnte, wenn er aus den Büchern mit seinen Geschichten vorlas, sich unvermittelt vom Text lösen, begann auszuschmücken und glitt weg von der ursprünglichen Erzählung in neue, farbige und weitläufige Geschichten.

Ein besonderes Denkmal setzte Al Imfeld seiner lebenslangen Afrikasehnsucht und seiner Kenner- schaft des Kontinents und seiner Menschen 2015 durch die 800 Seiten starke Anthologie «Afrika im Gedicht», einer beeindruckenden Bestandsaufnah- me, die ein vielfarbiges und Massstäbe setzendes Bild der afrikanischen Lyrik gibt. Das wird bleiben – und die Erinnerung an einen Menschen, der unbeirrt seine Überzeugungen vertrat und En- gagement nicht bloss behauptete, sondern lebte.

Urs Bugmann

Bild: zvg

Siehe auch unser Erlesen zur neuesten Publikation

«Agrocity» auf Seite 32.

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