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2 Februar 2 01 8 CHF 9.– www .null 41.ch

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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender N

O

2 Februar 2 01 8 CHF 9.– www .null 41.ch

KULTURHUMUS

NEUSTADT

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Wer Kultur hat, wirbt im

KULTURPOOL

kulturpool.com

Käptn Ste ffis Kreuzfahr t

80 Seiten Rätselspass

mit Tiefgang Jetzt erhältlich www.menschenversand.ch

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Crowfunding zu einem objektiven Dokumentarfilm zur Steuerstrategie des Kantons Luzern

Dringend: Nur noch bis 5. Februar 2018

funders.ch/luzern-derfilm

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E DI T OR I A L

Während die Altstadt klinisch tot ist, regt sich in der Neustadt vielfältiges Leben. Im Schatten von Touristenmagneten und der gehypten Baselstrasse findet sich hier seit jeher ein Humus, der das Kreative ermöglicht und nährt. In Martin Erdmanns (Text) und Patrick Blanks (Bilder) Streifzug stellen wir Ihnen eine Kunstgalerie, ein Bed and Breakfast, ein Kulturlokal und zwei Kreativschaffende vor, die in und um die Neustadtstrasse wirken.

Gleich um die Ecke befindet sich die Mythenstrasse 7. Das Haus mit dem Restaurant Parterre im Erdgeschoss beherbergt seit 1990 Ateliers für Kulturproduktion und zeichnet sich durch grosse Vielfalt und geballte Kompetenz aus. Amadeus Waltenspühl illustrierte Ort und Leute und zeigt auf, wie viel Luzerner Kultur hier gedeiht.

Vom Gedeih zum Verderben: Kaum eine Volksinitiative wurde in den letzten Jahren so intensiv und breit diskutiert wie die bevorstehende No-Billag-Initiative. Die Befürworter sprechen von

«Zwangsgebühren», polemisieren gegen die SRG und reiten dabei eine gefährliche Attacke auf Schweizer Werte wie Föderalismus, Service public, Solidarität. Einer, der die SRG seit 25 Jahren kennt, ist der preisgekrönte Dokfilmer Beat Bieri. In seinem Beitrag schreibt er, warum Kritik durchaus angebracht ist, die No-Billag-Initiative jedoch am Ziel vorbeischiesst und bedenkliche Signale sendet.

Auch wir bemühen uns um Optimierungen und mehr Vielfalt. Die Kolumne Lechts und Rinks erhält Verstärkung. Neben Christine Weber und Christoph Fellmann ist als bürgerliche Stimme neu Marc Lustenberger an Bord. Der Unternehmer und liberale Freigeist bringt eine andere Haltung ein. Unter anderem arbeitete Lustenberger drei Jahre als Korrespondent für «Weltwoche» und «Finanz und Wirtschaft» in Spanien und Nordafrika. Es folgten fünf Jahre als Wirtschaftsjournalist bei den «Schaffhauser Nachrichten» und der Wochenzeitung «CASH». Heute ist er selbstständiger Kommu- nikationsberater. Illustriert wird seine Kolumne von Anja Wicki, die seit 2010 Mitherausgeberin des Comicmagazin «Ampel» ist und neben Arbeiten im «Tages-Anzeiger» und dem «Spiegel» auch für das Cover unserer Oktober-Ausgabe verantwortlich zeichnete.

Herzlich willkommen!

Neustadt, Billag, Politik

Ivan Schnyder

schnyder@kulturmagazin.ch

Illu: Mart Meyer

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PROGRAMME DER KULTURHÄUSER 42 Kulturlandschaft / Stattkino

44 Kleintheater / LSO / Luzerner Theater 46 Romerohaus

48 Neubad / Südpol

56 Museum Bellpark / Kunsthalle / Kunsthaus Zug 58 Historisches Museum / Natur Museum 20 WANN IST ES ZU VIEL?

Digitale Medien in Museen 22 DISKRETE DELIKTE

Die lustvolle Subversion der Diebe KOLUMNEN

6 Doppelter Fokus: Neujahrszauber 8 Meier/Müller bi de Lüt: Positiv mit Tannli 9 Lechts und Rinks: Kulturpolitik neben

dem roten Teppich

24 Kulturtank: Braucht das Kulturschaffen mehr Wettstreit?

26 Gefundenes Fressen: Hipster Knoblauch 39 40 Jahre IG Kultur: Was man der

Kultur wünschen kann

40 041 – Das Freundebuch: Marcel Bieri 62 Käptn Steffis Rätsel

63 Comic: Ein Hund mit Migrationshintergrund

SERVICE

15 Stadtentwicklung. New City Luzern 27 Kunst. Der Quellpunkt der Bilder 29 Musik. Gitarristen im Gespräch 33 Kino. Stimmen auf Leinwand 37 Wort. Spätes Romandebüt

60 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz

61 Ausschreibungen, Notizen, Preise KULTURKALENDER

41 Kinderkulturkalender 43 Veranstaltungen 55 Ausstellungen Titelbild:

Amadeus Waltenspühl

INHALT

Ab Seite 10 DIE NEUSTADT-STORY

Ein Quartier zwischen Kreativität und Gentrifizierung

17 RAUSCHEN STATT SOLIDARITÄT

No Billag ist ein Anschlag auf den

Gemeinsinn

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SC HÖN G E SAGT

G U T E N TAG AU F G E L I S T E T

GUTEN TAG, KULTURFRAGEN

Ja, die bewegenden Fragen des Luzerner Kultur- lebens aus der Januar-Ausgabe. Wie naiv zu glau- ben, dass es kein/e Les_er/sie/es merkt, wenn die Antworten ausschliesslich von Männern* kommen (hihi, kommen). Gibt es denn in der Region nicht ein weibliches Wesen, welches Kulturkuchen back… äh, welches im Kulturkuchen Bock auf eine gescheite Antwort gehabt hätte? Glück für euch, dass sich der Shitstorm in den asozialen Medien in Grenzen gehalten hat. Was tun, damit sich der Schlamassel nicht wiederholt? Die Kul- turfragen 2019 nicht nur von Frauen beantworten, sondern auch stellen lassen? Frauenquote auf der Redaktion? Oder soll der Kanton Luzern im Kulturbereich künftig einfach nur noch bei den Männern sparen, dafür die Frauen verschonen?

Überfragt, 0.41‰ – Das Kulturmagazin

GUTEN TAG, SENIORENSCHAFT

Du, sägemol – was ist genau bei euch los? Meggen, Dezember 2017: 80-Jähriger überfällt Raiffeisen- bank. Maihof, Stadt Luzern, Januar: 75-Jähriger überholt Polizeiauto auf Trottoir und beisst bei Festnahme Polizisten in den Finger. Gopfertelli und lagomio – wird das heutige Alter immer zuchtloser? Und, siehe da, tatsächlich: Laut Sta- tistiken des Bundes steigt die Zahl der straffälli- gen Seniorinnen und Senioren in der Schweiz seit Jahren stetig. Und: «Möglicherweise ist der Anstieg darauf zurückzuführen, dass ältere Leu- te immer aktiver und unternehmungslustiger würden.» Da fragen wir uns umgekehrt: Was ist das für eine verkorkste Gesellschaft, die ihren Älteren unter anderem Delinquenz als Ventil für ihre aktive Unternehmungslust bietet? Okay, ein bisschen rentnerische Renitenz ist vielleicht sogar erfrischend! Wir hätten da noch einen Tipp für alle aktiven und unternehmungslustigen Rent- nerinnen und Rentner: Die Güterstrasse 7 beim Bahnhof in Luzern steht wieder leer … Live fast, die old, 041 – Das Kulturmagazin

Februärliche Bauernregeln

Ist der Tank am Schmudo offen, wird die Tage viel gesoffen.

St. Blas und Urban ohne Regen, folgt ein schweres Katerbeben.

Wenns der Hornung gnädig macht, geht sie vorbei, die Fasenacht.

An Agathe Sonnenschein bringt viel Schrot und Korn und Wein.

«Das Berner Oberland ist auch die Heimat

von Polo Hofer, auch er ist ein Symbol

für den Lötschbergtunnel!»

ANAÏS MEIER, SEITE 8

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D O P P E LT E R F O K U S

Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde.

«Neujahrszauber», das Neujahrsfeuerwerk über dem Luzerner Seebecken, 1. Januar 2018.

Bild oben Mischa Christen, rechte Seite Patrick Blank

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M E I E R / M Ü L L E R B I D E L Ü T

Schweiz, was wird aus dir? Diese Frage stellt sich dieses Jahr vielleicht etwas mehr als auch schon. Zum Glück spendet Adolf Ogi seit siebzehn Jahren mit seiner herz- erwärmenden Millennialsneujahrsrede wenigstens für kurze Zeit Zuversicht.

Die Legende sagt, dass ihm sein Beraterstab damals davon abgeraten hat. Die Befürchtung sei gewesen, dass sich Ogi mit dieser Rede blamieren könnte. Der aber muss gespürt haben: Die Schweiz braucht meine Rede.

Sie wird den Leuten helfen. Und weil mir selbst immer der Lötschbergtunnel hilft, werde ich meine Rede hier aufzeichnen lassen. Ich werde mich mit einer Tanne vor den Lötschbergtunnel stellen. Die Tanne ist ein Symbol und der Lötschbergtunnel steht für Zuversicht und Weitsicht! Das will ich der Schweiz und meinem lieben Kandersteg vermitteln. Überhaupt will ich diesem Land Liebe geben. Ein Land, das meinen Vornamen kein einziges Mal zum Thema gemacht hat. Kein einziges Mal!

Das Geheimnis meines Erfolgs ist Ehrlichkeit. Ehr- lichkeit, weil ich nicht vorgebe, etwas anderes, Besseres zu sein als das, was ich bin. Ehrlichkeit und Sportlichkeit sind die Tugenden, die mich auszeichnen. Gelernt habe ich diese Tugenden in Kandersteg, einem wunderbaren Dorf, im hiesigen Skitourismus des Berner Oberlands beheimatet. Das Berner Oberland ist auch die Heimat von Polo Hofer, auch er ist ein Symbol für den Lötsch- bergtunnel!

Das erinnert mich daran, dass ich in meiner Rede die Künstler nicht vergessen darf. Schnell den Schnee vom Tannli klöpferlen. Ah, herrlicher Schnee, der wieder über meinem schönen Kandersteg liegt. Das verspricht eine gute Saison! So, also, ich werde allen Berufsgruppen der Schweiz einen Ast vom Tannli widmen! Zuerst aber den Jungen! Ui, das friert mir an die sportlichen Finger! Das macht nichts, ich bin ein Kind der Berge!

So: Ich schaue eindringlich in die Kamera und schüttle die Tanne. Ich schaue eindringlich in die Kamera und sage, dass wir viel erreicht haben, dass das vergangene Jahrhundert für die Schweiz ein gutes war. Ich danke der Schweiz. Ich sage: Danke den Seniorinnen und Se- nioren! Danke den Sportlerinnen und Sportlern! Auch daran merkt man, dass wir uns dem einundzwanzigsten Jahrhundert nähern! Wir wollen, dass auch die Frauen ihr Recht haben. Man stelle sich vor, in nur sechs Jahren

Positiv mit Tannli

wird in Deutschland eine Frau als Bundeskanzlerin gewählt werden! Eine Frau, die Deutschland mit bürgerlichen Werten durch grosse Krisen führen wird! Die Europa zusammenhalten wird! Genau; jetzt noch schnell zu Eu- ropa: Der Lötschbergtunnel symbolisiert Wagemut und Weitblick! Wie auch die NEAT! Erst in sechzehn Jahren wird mein Grossprojekt mit Gottardo 2016 fertig werden, aber ich freue mich schon jetzt wie ein kleines Kind! Und die NEAT, die steht auch für das vereinte Europa! Zum Glück weiss ich nicht, dass in sechzehn Jahren alle wieder aus der EU raus wollen! Aber Merkel wird im ersten Zug sitzen, der durch die neue Röhre fährt, immerhin! Nur weiss ich das jetzt alles noch gar nicht! Jetzt ein weiteres wichtiges Symbol: «Im Sommer werde ich diesen Baum hier pflanzen!» Ou, was mache ich mit dem bis dann? Egal!

Wie ich hier stehe, lächle, das Tannli tätschle und für mehr Solidarität mit den Armen und Schwachen werbe, muss man mich einfach liebhaben.

Text: Anaïs Meier, Illustration: Sarah Elena Müller

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will, muss auch die Leute in den anderen Kantonsteilen überzeugen. Warum also nicht einmal eine Aktion auf dem Land?

2. Wer in der Politik etwas bewirken will, muss sich langfristig engagieren. Als im vergangenen Jahr die Gelder für die freien Kulturschaffenden aufgrund der abgelehnten Steuererhöhung um 800 000 Franken gekürzt wurden, waren diese erst mal laut und mit Ge- töse zu vernehmen. Doch als es einige Monate zuvor darum ging, für Steuererhöhungen zu kämpfen, herrschte grosses Schweigen. Um ihre Interessen überzeugend zu vertreten, sollten Kulturschaffende vermehrt politisch aktiv sein und versuchen, ihre Vertreter in Parlamente wählen zu lassen.

3. In der Politik gewinnt, wer Mehrheiten bilden kann. Es lohnt sich deshalb, bürgerliche Politiker einzubeziehen. Diese sind gröss- tenteils interessiert an Kulturpolitik und an den Anliegen der Kulturschaffenden, auch wenn nicht immer alle darunter das Gleiche verstehen. Umso wichtiger ist es, dies mit überzeugenden Argumenten darzulegen. Es gilt aufzuzeigen, welchen Mehrwert die Kul- turschaffenden für die Gesellschaft bringen.

4. Polemik bringt keinen nachhaltigen Erfolg. Wer am Tag der Kantonsratsdebatte vor dem Regierungsgebäude den roten Teppich ausrollt und die kantonalen Politiker an den Pranger stellt, kann bei der eigenen Klientel punkten. Damit nimmt man aber keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Diese sind nämlich bereits in den Kommissionen und Fraktionen gefallen. Besser wäre es, in den Wochen zuvor das persönliche Gespräch mit Politikern aller Fraktionen zu suchen.

5. Nicht nur der Staat bringt Projekte zum Fliegen. Kulturschaffende sollten vermehrt Kulturunternehmer sein. Neben staatlichen Förderbeiträgen und Stiftungen gibt es laufend neue Instrumente wie Crowdfunding oder private Initiativen, mit denen sich Theater, Konzerte und andere Projekte finanzieren lassen. Es lohnt sich, solche alternativen Finan- zierungsmodelle zu nutzen. Sie machen freier, unabhängiger und ermöglichen im besten Fall ein kompromissloseres Kulturschaffen.

L E C H T S U N D R I N K S

Text: Marc Lustenberger, Illustration: Anja Wicki

Kulturpolitik neben dem roten Teppich

Der Kanton Luzern hat nach mehr als einem Jahr «Gstürm» endlich wieder ein gesetzes- konformes Budget. Zuvor hatte das Volk im Mai deutlich Nein zu einer Steuererhöhung gesagt. Darf man sich nun auf bürgerlicher Seite auf die Schulter klopfen? Nein. Der Verteilungskampf um die knappen Ressourcen geht weiter. Weitere Kürzungsrunden drohen.

Die Krise hat die Gräben vertieft und die gesellschaftliche Solidarität strapaziert. Eine der Lehren daraus: Steuern lassen sich leicht senken, aber nur mehr schwierig anheben.

Umso wichtiger ist, dass der Finanzdirektor gut rechnen kann.

Die Luzerner Kulturszene ging deshalb im vergangenen Jahr auf die Barrikaden. Sie stieg in den See und erschien tropfnass vor dem KKL. Sie verschickte Kondolenzkarten und führte die Damen und Herren Kantons- räte vor mit einem roten Teppich sowie der Ankündigung, einen Film über «ihre geschei-

terte Politik» zu machen. Nun fliessen die Kulturgelder für dieses Jahr wieder. Dürfen sich die Kulturschaffenden deswegen auf die Schulter klopfen? Nein. Ihre Aktionen und der Budgetkompromiss haben keinen direkten Zusammenhang. Es ist ihnen nicht wirklich gelungen, die Politik zu überzeugen und Verständnis für ihre Anliegen zu schaffen.

Sie konnten die Kürzungen nicht verhindern und die Finanzierung ihres Films droht zu scheitern.

Das Thema knappe Finanzmittel und Bud- getkürzungen hingegen wird uns alle weiter beschäftigen. Was also kann die Kulturszene tun, um ihre Forderungen nach Förderung in Zukunft durchzubringen?

1. Es empfiehlt sich, über die Musegg- mauer hinweg zu denken. Was in der Stadt die Gemüter bewegt, tut es nicht unbedingt in Emmen, Eschenbach oder Entlebuch. Wer seine politischen Anliegen durchbringen

Fünf Tipps, wie Kulturschaffende ihre Interessen überzeugend vertreten können

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Seit 2008 wirkt Rahel Ilona Eisenring im ersten Obergeschoss.

Nach einem Atelierstipendium in Chicago sei die Ateliergemein- schaft an der Mythenstrasse genau das Richtige für sie gewesen, erzählt die Illustratorin und Animationsfilmerin, die bereits zuvor im Trickfilmstudio von Jonas Raeber gearbeitet hatte. Momentan arbeitet sie an einem transmedialen Projekt zum Thema lebendige Traditionen für Kinder zwischen vier und acht Jahren. Am Haus schätzt Rahel Ilona Eisenring die zentrale Lage, dass stets was läuft, etwa dank den eingemieteten Kulturvereinen, und dass sie auf demselben Stock, wie sie arbeitet, zum Coiffeur kann.

«Mythenstrasse 7» prangt vom Transparent, das längs aus dem Gebäude an der gleichnamigen Adresse ragt. Seit 1990 befindet sich hier ein Hort des kreativen Schaffens, mitten in der Neustadt. Viele der Mieterinnen und Mieter sind in ihren Disziplinen von überregionaler Bedeutung.

Als das ehemalige Möbelhaus Überschlag-Biser aus der Mythenstrasse 7 auszog und das gesamte Gebäude zum Vermieten annonciert war, suchte Ueli Sidler, der vis-à-vis sein Inneneinrichtungsgeschäft führt, Mitstreiterinnen und Mitstreiter, um eine AG zu gründen. Diese sollte es ermöglichen, die Räume an Kreativschaffende aus diversen Sparten zu vermieten. Die Stockwerke, die vom Möbelhaus als Showräume gebraucht wurden, waren damals noch nicht unterteilt. So erforderte es einiges an Arbeit und Investitionen, bis die Ateliers bezugsbereit waren. Die grösste Investition jedoch brauchte es, um das Restaurant im Erdgeschoss einzubauen, mit Küche, Toiletten, Lüftung etc., damit die Parterre-Erfolgsgeschichte beginnen konnte. Heute spricht Jürg Meyer, der seit den frühen 1990er-Jahren an der Mythenstrasse 7 arbeitet und als Mieterinnen- und Mietervertreter in der «Mythenstrasse Verwal- tung AG» wirkt, von einer Erfolgsgeschichte: «Es ist eine geballte Ladung an Kompetenz und Erfahrung, die in diesem Haus zusammenkommt» – und nennt etwa die bekannte Metallplastikerin Barbara Jäggi und den Animati- onsfilmer Jonas Raeber.

Die Wundertüte

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Rahel Meyer, Grafik und Illustration, ist seit Oktober 2014 im obersten Stock eingemietet. Als sie erfuhr, dass an der Mythenstrasse ein Raum frei ist, kam sie zur Besichtigung und entschied sich, zu bleiben. Ihre aktuellen Projekte sind grösstenteils im sozialen Bereich angesiedelt, so gestaltet Rahel Meyer Arbeiten für die Krebsliga Zentralschweiz oder die Infostelle Demenz. Der Charme dieses Hauses besteht für sie in seiner kreativen Atmosphäre sowie dem spannenden Umfeld. Und: «Hier im obersten Stock arbeiten wir alle mit offenen Türen, so kann man als Einzelunternehmerin tätig sein und hat dennoch nicht das Gefühl, allein zu sein», so Meyer.

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Um die Neustadtstrasse hat sich in den letzten Jahren kulturell viel getan. Sie ist ein Ort des stetigen Wandels mit ungewisser Zukunft. Ein Augenschein.

Von Martin Erdmann, Bilder: Patrick Blank

Im Bollwerk der Kultur

Seit fünf Jahren ist der Sic! Raum für Kunst in den Händen von Laura Breitschmid (links) und Eva-Maria Knüsel.

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N E U S TA D T S T R A S S E

E

in roter Elektro-Heizofen bläst warme Luft in den kargen Raum. An der Decke hängt ein Rechteck aus zwölf Ne- onröhren, die ihr grelles Licht auf klinisch weisse Wände werfen. Auf dem Holzboden liegen ein paar Schrauben und ein verkrümmter Kronkorken. Von draussen dringt das Rattern der Züge in die Stille. Das Elephanthouse befindet sich im Winterschlaf.

Das unscheinbare Häuschen, eingeklemmt zwischen bahnhofs- nahen Gleisen und der Neustadtstrasse, diente früher der SBB als Garage für ihr Pikettfahrzeug. Seit fünf Jahren ist der Raum in den Händen von Laura Breitschmid und Eva-Maria Knüsel vom Sic! Raum für Kunst. 60 Quadratmeter misst er. «Gerade gross genug, dass ein Elefant eine Pirouette drehen könnte», sagt Breitschmid. Das Elephanthouse ist ein unabhängiger Kunstraum, der jungen wie etablierten Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform bietet. Vier bis fünf Positionen bekommen jährlich die Möglichkeit, hier auszustellen.

Das Elephanthouse liegt mitten auf der Achse zwischen Bahnhof und Neubad. Das sei ein grosser Vorteil, erklärt Knüsel. «Dadurch haben wir viel Laufkundschaft. Auch solche, die nicht per se kunst- affin ist.» Vor dem Elephanthouse bespielten die beiden Frauen einen Raum im Säliquartier. Die Neustadt biete vergleichsweise viel künstlerische Freiheit. «Hier herrscht eine grosse Offenheit.

Wir können am Abend auch einmal ein Konzert machen und es stört niemanden», sagt Knüsel. In einem typischen Wohnquartier gehe das nicht. Der Umzug in ein urbaneres Umfeld ist jedoch auch mit Nachteilen verbunden. «Momentan wird unsere Fassade immer wieder versprayt. Das nervt», ärgert sich Breitschmid.

Wenn im Elephanthouse Künstlerinnen und Künstler von ausserhalb ausstellen, werden diese in der Bettstatt untergebracht.

Das Bed and Breakfast mit integrierter Bar und hauseigener Brauerei liegt nur einen Steinwurf entfernt. Hier geben sich regelmässig Kunstschaffende und Musizierende die Klinke in die Hand. «Ver- anstalterinnen und Veranstalter von Kegelbahn bis Südpol buchen für ihre Bands und DJs Zimmer bei uns», sagt Bettstattbetreiber

Roger Stalder in seinem Bed and Breakfast Bettstatt, Anlaufstelle Nummer eins für Luzerner Veranstalterinnen und Veranstalter, die Zimmer für ihre Acts suchen.

Roger Stalder. Das verbindet er mit vielen schönen Momenten. So erinnert sich Stalder noch lebhaft daran, als er die zehnköpfige afrikanische Band Konono No°1 zu Gast hatte. «Die haben am Morgen in der Lobby zusammen Musik gemacht und gesungen.»

Stalder betreibt heimische Kulturförderung durch Tourismus.

Seinen Gästen will er das kulturelle Geschehen der Stadt näher- bringen. Das ist oft ein schwieriges Unterfangen. «Im Sommer sind 60 Prozent der Gäste Asiaten. Denen genügt ein Wasserkocher und der Wlan-Code.» Australierinnen und Neuseeländer habe er aber auch schon ins Neubad oder an einen Flohmarkt geschickt.

«Abriss ist nur eine Frage der Zeit»

Etwas weiter die Strasse hoch. An den Traditionsspunten Freie Schweiz erinnert nur noch der verblasste Schriftzug an der Hausfassade. 2016 machten die Betreiber aus finanziellen Grün-

Die Neustadtstrasse. Links ist die ehemalige Freie Schweiz und heutige Bar Berlin zu sehen.

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N E U S TA D T S T R A S S E

selten vor, dass er die Quartiergrenze überschreitet. «Hier habe ich alles, was ich brauche.» Er fühle sich in der Neustadt wie in einem mediterranen Dorf. «Gerade im Sommer ist es auf dem Helvetiaplatz mit all seinen Beizen sehr gemütlich.»

Unterhalb der Galerie sind rund 15 000 Bücher und CDs verstaut.

Sie gehören Matthias Burki. Der Verlagsleiter von Der gesunde Menschenversand teilt sich seit drei Jahren mit Messmer das Büro und nutzt dieses gleichzeitig als Lagerraum. Auch er fühlt sich in der Neustadt wohl, doch nimmt sie in seinem Leben einen tieferen Stellenwert ein als in dem seines Bürokollegen. «Die Neustadt bestimmt nicht meine Identität.» Gerade als Kulturschaffender blickt er mit einer gewissen Skepsis auf die Entwicklung im Quar- tier. Ein Büro oberhalb des Untergeschosses könne er sich hier kaum leisten. Solche Nischen wie diese hier würden immer mehr verschwinden. «Es besteht schon die Gefahr, dass die kulturelle Szene immer mehr an den Stadtrand gedrängt wird.»

den dicht. Dann kam Sascha Welz. Der umtriebige Gastronom hatte seine Hände schon an so manchem Zapfhahn der Luzerner Beizenszene. So stampfte er zuvor in der Baselstrasse die Gewer- behalle und die Bar Berlin aus dem Boden. Eigentlich wollte auch er sich aus der Gastroszene zurückziehen. Dann kam die Anfrage aus der Neustadtstrasse. «Und plötzlich hatte ich halt wieder eine Bar.» Hier spüre er den Stress des Nachtlebens weniger als an der Baselstrasse. «Es läuft viel entspannter.»

Welz ist kein Neustadt-Neuling. Im Gegenteil. Vor 30 Jahren gründete er an der Mythenstrasse 7 das Parterre. Damals sei vieles anders gewesen. «Um 17 Uhr hat es blupp gemacht und der Laden war voll.» Diese Zeiten seien vorbei. «Die Leute schauen zuerst einmal auf Facebook, wer wo ist.» Welz bedauert dies.

«Dadurch geht viel Spontanität verloren.» Überhaupt habe sich in der Neustadt viel getan. «Es ist kaum noch möglich, eine Beiz wie diese zu finanzieren.» Die Mietpreise seien stark angestiegen, Neubauten schiessen aus dem Boden. «Es ist doch bloss eine Frage der Zeit, bis auch dieses Haus abgerissen wird.» Welz nimmt es pragmatisch. «Wenn in der Neustadt nichts Neues entstehen würde, würde sie ja Altstadt heissen.»

Wie eine Dorfgemeinde am Mittelmeer

Neuweg 10. Der Warenlift schleicht ins Untergeschoss und hält vor eine Galerie, unter der sich ein riesiger Raum erschliesst. Eine steile Holztreppe führt hinunter. Über den hohen Wänden sind vergitterte Fenster, die spärliches Tageslicht in den Raum fallen lassen. «Eine grosse Badewanne», nennt Mondo Messmer diesen Ort. Seit 15 Jahren arbeitet der Grafiker hier und hat nicht vor, daran etwas zu ändern. «Hier kann ich mich konzentrieren. Es gibt keine Fenster, aus denen ich hinaussehen könnte.» Seit er zur Jahrtausendwende von Graubünden nach Luzern gezogen ist, dreht sich für ihn alles um das Neustadtquartier. «Mir war es immer wichtig, dass meine Wohnung in der Nähe dieses Ate- liers liegen. Ich laufe nämlich nicht gerne.» So komme es auch

Kein Neustadt-Neuling: Sascha Welz, Betreiber der Bar Berlin.

Matthias Burki, Verleger (Der gesunde Menschenversand, links) und Grafiker Mondo Messmer arbeiten im wahrsten Sinn des Wortes im Untergrund.

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N E U S TA D T E N T W IC K LU NG

Für viele Luzernerinnen und Luzerner ist die Neustadt in den letzten Jahrzehnten zum zeitgenössischen und lebendigen Co-Zentrum der Altstadt geworden. Hier wird gewohnt, gearbeitet und man verweilt bei Speis und Trank in den zahlreichen Restaurants, Beizen und Take-aways aus aller Welt. An jeder zweitens Ecke können sich Frau und Mann die Haare gleich zweimal schneiden, färben und föhnen lassen, um sich anschliessend ins benachbarte Nachtleben zu stürzen. Hier und da gibt es sie aber noch – zuweilen versteckt in Innenhöfen –, die lauschigen, kleinen, originalen Läden, Ateliers und Werkstätten, die der fortschreitenden Gentrifizierung trotzen.

Täglich durchquere ich die Neustadt mehrmals radelnd auf meinem metallisch grünen Papalagi vom Hintermusegg her vor- bei am Barbès in mein Architekturatelier an der Industriestrasse und frage mich, was die vielen doppelt parkierten SUVs, Boliden und Lieferwagen mit der kürzlich erfolgten Neugestaltung in der Winkelriedstrasse zu tun haben könnten.

Manchmal erzeuge ich selber ein wenig mehr MiV, die VCS- und Tiefbauamtssprache für motorisierten Individualverkehr. Cruisend durch die vielen Tempo-30-Strassen und auf den wenigen 50er Boulevards mit den Ramones oder «White Trash Beautiful» laut in den Speakern des weissen Citroën XM Turbo CT, der letzten eigenwillig schönen Limousine mit Hydropneumatik aus dem Jahr 1994, designt von Bertones Giorgietto Giugiaro. Die Luft über dem Victoriaplatz vibriert, ich stehe an der Ampel vor der Ravioli Bar.

Zu Fuss bin ich unterwegs auf dem Helvetiaplatz für einen Kaffee im Salü oder im Vögeligärtli, wo ich mich an der Renovation der Zentralbibliothek und den grossen, alten Bäumen erfreue. Solche Plätze braucht es in der Neustadt als gefestigte Orte der Öffentlichkeit.

Learning from Tokyo

Auch bei der Lukaskirche mit ihrem Pfarreizentrum als Zeitzeugin des protestantischen Modernismus ist eine Erneuerung und sanfte Transformation im Gange. Dieses Vorgehen könnte wegweisend werden. Einerseits für den Erhalt einiger wertvoller spätmodernis- tischer Bauten und solchen aus den 1970ern, die die erhaltenswerte Bausubstanz aus der Gründerzeit einerseits aufmischen, anderseits eine kontinuierliche Transformation andeuten.

Das Neubad zieht mit innovativem Programm, Nutzungen für das Quartier, Authentizität und der Grosszügigkeit seiner brutalis- tischen Architektur die Generation X, Hipsters wie Junggebliebene en masse ans Ende der Neustadtstrasse.

Nun führt die abl die Neustadt weiter, über die Bundesstrasse ins Himmelrich3. Eine grosszügige genossenschaftliche Siedlung entsteht, mit durchmischtem Wohnen am Innenhof, Nachbarschafts- hilfeprojekten sowie einem Boulevard mit Läden und Cafés. Solche offenen Ideen und Konzepte wären gefragt für die Entwicklung der restlichen Brachen – etwa den Parkplätzen hinter Goofy & Regular an der Moosstrasse.

«Learning from Las Vegas» ist eines der bekanntesten Bücher über moderne Architektur und Städtebau. Für die Zukunft wenden wir unseren Blick fast selbstverständlich in den Westen. Die Modernität in den Staaten scheint uns weit voraus zu sein.

Generell neigen wir im Abendland und speziell im Alpenraum Mitteleuropas dazu, Authentizität und Erhaltenswertes mit alten Bauten, Backsteinen und Denkmälern zu verbinden.

Hier wäre ein «Learning from Tokyo» angebracht, wo der Fokus auf dem Ort und seiner Nutzung liegt. Ein interessanter Ansatz für eine zukünftige Entwicklung der Neustadt: Die Gebäude transfor- mieren sich oder werden nach Ablauf ihres Lebenszyklus ersetzt, die Nutzungen bleiben. Damit könnten das durchmischte urbane Wohnen, die Ateliers, Werkstätten, kleinere Läden und Beizen oder das, was die Identität und den Charakter dieses zentralen Quartiers ausmacht, langfristig gesichert werden.

Harry van der Meijs ist Architekt in Luzern und Präsident der Baugenossen- schaft Wohnwerk Luzern.

New City Luzern

Im neunzehnten Jahrhundert als schachbrettartige Stadterweiterung geplant, wird die Neustadt heute von zig Pendlern und Touristenbussen als eher lästiges Hindernis auf dem Weg an den Bahnhof oder in die Altstadt durchquert. Dabei kann sie in der hiesigen Stadtentwicklung eine Vorreiterrolle ein- nehmen.

von Harry van der Meijs

Wenn sich Gebäude transformieren, bleibt in Tokyo die Nutzungsform erhalten.

Bild: zvg

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N E U S TA D T F O OD

Angefangen hat alles in Zürich. Erdogan Gökduman wandert 1986 in die Schweiz ein. Er arbeitet als Küchenjunge, bis er 1996 den ersten New Point gründet. Danach eröff- net Gökduman im Jahresrhythmus Zürcher New-Point-Filialen. Vom Tellerwäscher zum

«Kebab-König». Der Slogan proklamiert be- scheiden: «Simply the Best of Zurich.» Tina Turner dreht sich im Ruhestand um.

Abgesehen vom Slogan scheint es schwie- rig, nette Worte über die Dönerbude zu finden:

Jäger am 14.06.2016 um 16:56 auf 20min.ch:

«Ich liebe kebap döner grundsätzlich. Doch versuche ich nur bei den jenigen zu essen, welche qualität anbieten. New point u.a. ver- meide ich, denn die unterstützen die terror- organisation pkk! Ohne mein geld...»

Die eigene Imbissbude gut zu benamsen, ist schwierig. Es ist aber fast unmöglich, einen Namen zu wählen, der komplett ungelungen ist. «New Point»? Neuer Punkt? Was soll das heissen? Und der wird nach ein paar Wochen ja wieder alt. Vergleichbar mit der Coiffeuse, die ihr erstes Geschäft «Neues Coiffeurge- schäft» nennt.

Was in Zürich passiert, passiert ein paar Jahre später auch in Luzern. So war es mit Röhrenjeans, so war es mit Techno, und so ist es mit dem New Point. Ob die Luzerner Filiale zum Zürcher Franchising gehört, geklaut ist oder ob jemand in Luzern unabhängig von Gökduman auf dieselbe Namensidee ge- kommen ist? Dies herauszufinden, stellt sich als schwieriges Unterfangen heraus: «Scheff frage.» Wenn man daraufhin den Typen fragt, der am ehesten nach Chef aussieht, heisst es:

«Scheff frage.» Wissen die überhaupt, was diese Worte bezeichnen, oder steht das im Pressehandbuch für Dönerbuden?

borish ülcan am 15.06.2016 um 09:06 auf 20min.ch:

«der absoulte witz ist der new point in lu- zern. nachtzuschlag auf döner und getränke.

die haben da einen, der das geld kassiert, das rückgeld war noch nie korrekt und es wird auch des öfteren behauptet, die leute haben nicht bezahlt. ich vermute, das ist beabsichtigt.

versuchen die betrunkenen abzuzocken. falls doch nichts mehr offen hat, alles bestellen, nur keinen döner. denn der ist das schlechteste, was man dort essen kann.»

Come on, «borish». So schlecht ist der nicht.

Das mit einer Haushaltsschere geschnittene Kebabfleisch hat genau die richtige Bissgrösse.

Unter der Woche ist der New Point an der Winkelriedstrasse leer. Es stehen drei Mitar- beitende herum, der kleine Mann mit den kurzen, grauen Haaren grummelt irgendetwas in einer nicht näher bestimmbaren Sprache.

Eine Mitarbeiterin, die den Raum hinter der Theke etwas stärker beansprucht, antwortet auf Schweizerdeutsch: «Joo, ech mues dem no alüüte.» Der kleine Mann mit den kurzen, grauen Haaren läuft grummelnd einige Schritte in Richtung Schöpftheke. Ich glaube nicht, dass sie sich verstanden haben.

Der kleine Mann mit den kurzen, grauen Haaren ist fast schon so etwas wie ein Stadt- original. «Saliwigets» ist zwar sein einziges deutsches Wort, irgendwie gelangt man jeweils trotzdem an die notwendige Portion alkver- dünnendes Salzfleisch.

Jetzt steht der kleine Mann da und schaut sich auf dem obligatorischen Dönerbudenfernse- her die gesamte Diskografie von Jennifer Lopez und Christina Aguilera an. Was wohl in seinem Kopf vorgehen mag? Es ist ein poetisches Bild.

Hier noch mehr Poesie:

Die Luzerner Neustädter, ob Hipster, Szenie oder Assi, haben zwei Dinge gemeinsam. Erstens: Alle finden den New Point scheisse. Zweitens: Alle strömen zu nächtlichen Zeiten dorthin. Eine Hommage mit allem, scharf, Cocktail.

Von Heinrich Weingartner

Der New Point – Eine Hassliebe

«Gömmer no i New Point?»

Unbekannt

N.T.* – 1 Stern

«Nach dem Ausgang noch schnell einen Pepito, dacht ich mir...weil eh meistens nur mehr ein ‹blatt› pulet drin war, sagte ich DOPPELT Pulet! Der pepito schmeckte schei...e und die hauchdünnen Pulet's waren überwürz- te Schuhsohlen!! Und das für 19.– wucher- Stutz!!!!»

* öffentliche Bewertung auf Facebook, Name geändert Und sie essen trotzdem immer wieder dort.

Nicht nur Menschen, die Sprache verwenden wie ihre Toilette, namhafte Vertreterinnen und Vertreter der Kulturszene – diesen Begriff sollte man langsam abschaffen – finden im Slalom immer wieder an die Winkelriedstrasse 47. Es ist der Treffpunkt für verlorene Nachtkinder.

Jedes verdammte Wochenende kehren sie zurück. Nicht so Albert:

Albert am 15.06.2016 um 13:20 auf 20min.ch:

«Ich habe 3 mal ein New Point Kebab gegessen.

Das erste das einzige und das letzte mal!»

Der New Point ist Trash, aber alle gehen dahin, weil wir ganz tief in uns diesen Trash fressen wollen. Genauso wie wir uns besoffen um 4 Uhr morgens gerne in Dreck, verflos- senen Liebschaften und Bierlachen wälzen.

Das ist Fast Food für die inneren Dämonen.

Vielleicht ist die Erklärung aber auch ganz einfach: Es gibt nur einen Dönerimbiss, der fast 24 Stunden offen hat und so zentral liegt, dass er auch mit 2,5 Promille erreicht werden kann.

Zum Schluss noch ein Zückerli:

Eidgenosse69 am 14.06.2016 um 17:05 auf 20min.ch:

«Also ich geh nicht in den New Point, liebe aber den G-Point meiner Ol-Lady»

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Y E S B I L L AG

Das Schweizer Radio und Fernsehen steht vor einer existenziel- len Volksbefragung. Sein oder Nichtsein, das sind präzis die Optionen. Der Luzerner Beat Bieri arbeitet als Dokfilmer für SRF und wird am Wochenende der No-Billag-Abstimmung pensioniert. Hier seine Innensicht, die mit den Jahren auch zu einer Aussensicht geworden ist.

Sendeschluss Sendeschluss Sendeschluss

Illustrationen: Mart Meyer

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Y E S B I L L AG

E

s gibt Leute, die finden die SRG zu gross. Womöglich ist das so. Einige meiner Freunde und Bekannten sa- gen, SRF sei überheblich und arrogant. Ich muss das zur Kenntnis nehmen. Und auch ich finde nicht alle Sendungen für mich zwingend notwendig.

Nur, um diese Fragen geht es nicht bei der No-Billag-Abstimmung im März. Es geht einzig darum, ob es noch ein öffentliches Fernsehen und Radio geben soll. Oder ob ein künftiges Fernseh- und Radioangebot ausschliesslich nach kommerziellen oder politischen Interessen gestaltet werden soll.

Was das bedeuten würde und wer überhaupt genügend Geld und Antrieb hätte, seine poli- tischen Ideen mit einem eigenen TV-Angebot in die Köpfe der Leute zu pflanzen, das weiss jeder, der es wissen will. Darüber wurde in den letzten Monaten genügend geschrieben.

Ich arbeite seit 25 Jahren beim Schweizer Fernsehen. Damals hiess es noch SF DRS.

Bei jedem Direktionswechsel stiegen die Handwerker aufs Hochhausdach und mon- tierten eine neue Leuchtschrift: SF DRS, SF, dann SRF. Doch meine Arbeit hat das nicht wesentlich tangiert. Ich hatte als Redaktor zuvor beim Jean-Frey-Verlag (Bilanz) und bei Ringier (Cash-TV) zwar mehr verdient.

Doch das war mir egal, die neue Anstellung bei «10 vor 10» schien spannend und heraus- fordernd. Und gewiss, die Aussicht, mit seiner journalistischen Arbeit überregional zur Kenntnis genommen zu werden, vielleicht sogar Wirkung zu haben, solcherlei ist für jeden Journalisten verlockend.

DOK-Filme in der Prime Time

Seit über zehn Jahren nun bin ich für SRF als Dokumentarfilmer tätig. Es mag etwas pathetisch klingen, doch ich finde tatsäch- lich, dass ich die beste Arbeit habe, die diese Branche zu bieten hat. Als Dokumentarfilmer mache ich jedes Jahr drei bis vier Filme.

Solche Filme lassen sich in der Regel nicht in einigen Tagen herstellen. Es braucht oft genügend Zeit, sich auf die Protagonisten und ihre Themen einzulassen. Vertrauen zu gewinnen, damit sie ihre Geschichten überhaupt erzählen. Denn Kameras können Angst und Unbehagen wecken. Damit sich – beispielsweise – die Männer und Frauen im Alkoholikerheim im Jura gegenüber

auch eine Aussensicht des Schweizer Fern- sehens gewonnen habe. Es ist schon so, dass man eine eigene Welt betritt, wenn man die Zugangsschranken beim SRF-Empfang überwunden hat. Bösartigerweise könnte man auch sagen: Man gelangt unter eine Käseglocke. Der Komplex, einem Irrgarten ähnlich, will Eindruck machen – und tut es auch. Der Hang zum selbstreferenziellen Verhalten, zur Beschäftigung mit sich selbst, ist hier wohl grösser als in anderen Betrieben.

Und grösser ist hier auch die Loyalität der 2000 Mitarbeiter gegenüber dem Arbeitgeber.

Kaum je dringen Geschichten von Intrigen, Konflikten, Affären nach draussen zu den hungrigen Kollegen der Boulevardzeitungen (und solche Geschichten gäbe es natürlich einige). Diese Loyalität ist einerseits echt:

Die Leute mögen ihre Arbeit, sind motiviert und machen meiner Ansicht nach auch meist einen guten Job. Doch es ist auch eine Loyalität, die durch die Umstände erzwungen ist. SRF ist, auch wenn man dies nicht gerne hört, ein Monopolarbeitgeber. Wer in der Schweiz (ausserhalb des lokalen Bereichs) Fernsehen machen will – als Kameramann, Dokfilmer oder Fernsehdirektor – der ist auf SRF angewiesen.

Hohe Glaubwürdigkeit

Und auf ein so mächtiges, monopolartiges Ge- bilde angewiesen zu sein, sogar existenziell, das ist eine unangenehme Sache, besonders auch für freie Mitarbeiter. Ein Beispiel: Ein Freund von mir, ein freier Autor, hat einer Redaktion ein Projekt vorgeschlagen. Er erhielt keine Antwort. Wenn er SRF nun arrogant findet, kann ich ihm nicht wi- dersprechen. Ein anderes Beispiel: Meine früheren Filme habe ich bei einem Cutter in Luzern geschnitten. Er hat das gut und vergleichsweise günstig gemacht. Doch SRF entschloss sich leider, die Schnittkapazitäten in Zürich zu zentralisieren. In der Folge mussten einige freie Cutter in der Schweiz ihren Betrieb aufgeben. Wenn diese das Schweizer Fernsehen nun ebenfalls mono- polistisch, übermächtig und niederwalzend finden, kann ich das verstehen.

Vor wenigen Jahren hat man Radio und Fernsehen zusammengelegt, Konvergenz nennt sich der Vorgang. Betriebswirtschaft- lich mag das Sinn machen. Doch was die Aussenwahrnehmung angeht, könnte sich ein weniger vorteilhaftes Bild ergeben: Die dem fremden Besucher mit seiner Kamera

überhaupt öffnen, ist behutsames Vorgehen angezeigt. Doch warum soll man überhaupt derartige Filme machen? Ist das nicht einfach eine Zurschaustellung von Unglücklichen und Versagern? Ich finde das nicht. Dieser Film hat mir (und hoffentlich auch einigen Zuschauerinnen und Zuschauern) drastisch gezeigt, wie schmal der Pfad ist, auf dem wir wandeln, wie nah ein Absturz ins Bodenlose sein kann.

SRF sendet solche Filme in der sogenann- ten Prime Time, also um 20 Uhr. Ich kenne keine kommerzielle Privatfernsehstation, die das macht. Und doch schauen sich Hun- derttausende in der Schweiz SRF-Dokfilme an. Zum Beispiel der oben genannte Film:

Obschon der Titel «Ganz unten – Ein Ort im Jura, wo Scheitern erlaubt ist» nicht gerade einen gemütlichen Fernsehabend verspricht, haben sich über 400 000 Leute diesen Film angesehen.

Die SRF-Dokfilme erfreuen sich in der Tat eines grossen, auch treuen Publikums.

Und doch wäre es zu wenig gross, als dass nach einer Abschaffung der SRG ein kom- merzieller, privater Sender die Finanzierung dafür übernehmen würde. Dokfilme mit Schweizer Themen – auch die meisten frei- en Ko-Produktionen fürs Kino – würde es schlicht nicht mehr geben.

Da ich meine Filme selbst drehe und auch selber den Rohschnitt mache, geniesse ich bei meiner Arbeit eine grosse Autonomie.

Trotz einer 100-Prozent-Anstellung arbeite ich meist zu Hause in Luzern oder auswärts beim Drehen, bin also nicht mehr oft im Zürcher Studio Leutschenbach zugange.

Dies führte dazu, dass ich mit den Jahren

Dokfilme mit Schweizer Themen – auch die meisten freien Ko-Produktionen fürs Kino – würde es schlicht nicht mehr geben.

Von Beat Bieri

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Y E S B I L L AG

Artikeln frage ich mich jeweils, warum die schreibenden Kollegen meinen, es ginge ihnen besser, ginge es den SRF-Kollegen schlechter.

Anschlag auf den Gemeinsinn

Man könnte nun der Ansicht sein, ich würde mir hier die Finger wundschreiben, um meine berufliche Existenz zu retten. Das ist nicht der Fall. Ich werde am Wochenen- de der No-Billag-Abstimmung pensioniert.

Existenziell ist es für mich nicht von Belang, ob die SRG untergeht oder nicht. Auch die Schweiz würde nach einem Lichterlöschen bei der SRG weiterbestehen. Und doch geht es bei dieser Abstimmung um verdammt viel.

Für das kulturelle Leben in diesem Land, für die demokratische Auseinandersetzung wäre es katastrophal, würden künftig die Inhalte von Radio und Fernsehen ausschliesslich von kommerziellen und politischen Interessen diktiert werden.

Diese extrem egoistische Ich-Initiative zielt auf das Essenzielle dieses Landes, auf den Gemeinsinn, die wesentliche Kraft, die ein Land zusammenhält, welches weder eine gemeinsame Sprache noch natürliche Grenzen kennt. Und nach einem geglück- ten Abriss der SRG bliebe Weiteres zu tun.

Ist die obligatorische Krankenkasse nicht sozialistisches Teufelszeugs, wie es auch Millionen amerikanischer Glaubensbrüder der No-Billag-Initianten sehen? Muss eine einzige Bahnlinie zwischen Zürich und Genf nicht reichen, weil der Markt nicht mehr hergibt? Eines Morgens wird im Kanton Zug ein Jungfreisinniger aus dem Bett steigen und die Idee zu einer nächsten Initiative haben:

Warum soll sein reicher, tüchtiger Kanton im nationalen Finanzausgleich den armen, faulen Kantonen Millionen rüberschieben?

Vielleicht wird es ja dereinst gelingen, die unfreie Schweiz durch den freien Markt zu erlösen.

Beat Bieri – er war auch Mitbegründer dieses Kulturmagazins – lebt in Luzern und arbeitet für SRF als Dokumentarfilmer. Er drehte über 40 Dokfilme, viele davon spielen in der Zentralschweiz.

Sie behandeln gesellschaftliche Themen (Migrati- on, Identität, Fremdenfeindlichkeit) und solche aus dem alpinen Raum. Für den Film «Neue Heimat Lindenstrasse» (2007) erhielt er zusammen mit Co-Autor Ruedi Leuthold den Europäischen Fern- sehpreis Civis und für «Kampf um die Engstlenalp»

(2008, ebenfalls mit Ruedi Leuthold) den Berner Fernsehpreis.

Radio-Kultur und die Fernseh-Kultur sind zu einer einzigen grossen Kulturabteilung verschmolzen worden (wo auch ich arbeite).

Einzelne Kulturschaffende oder -veranstal- tende stehen mit ihren Anliegen nun ziemlich klein einer machtvollen SRF-Kulturabteilung gegenüber. Ich weiss zwar von keinen kon- kreten Konflikten deswegen, doch so alles dominierende Gebilde können einfach kaum Sympathien erzeugen.

Die SRG ist gross, vielleicht zu gross für dieses kleine Land. Und das weckt Missgunst, Argwohn und sogar, wie unüberhörbar ist, enthemmte Aggressionen. Da hilft auch die etwas klebrige Unterstützung durch den Werbetexter nicht weiter («Die Schweiz im Herzen»). Doch dass sich nun in den sozialen Medien eine derartige Flut an Gift und Galle über die SRG ergiesst, ist durch das Wirken derselben nicht zu erklären. Denn die Ra- dio- und TV-Programme der SRG geniessen immer noch höchste Glaubwürdigkeit, wie Umfragen regelmässig zeigen. Es ist doch bemerkenswert, dass in den Tausenden von Wut- und Hass-Mails eigentlich kaum je Fehler im Programm moniert werden. Und man darf es getrost glauben: Würden sol- che entdeckt, erführe es die Öffentlichkeit

Und auf ein so mächtiges, monopolartiges Gebilde angewiesen zu sein, sogar exis- tenziell, das ist eine unangenehme Sache,

besonders auch für freie Mitarbeiter.

unverzüglich in grossen Lettern, denn die Kollegen vom Print sind in solchen Fällen schnell zur Stelle. Und das ist auch richtig so: SRF ist eine Medienmacht, die grösste im Lande, und man soll ihr Wirken kritisch beäugen.

Doch hält man sich vor Augen, welchen gewaltigen journalistischen Output SRF jeden Tag leistet, zeitlich in vorderster Front, wo besonders viele Fehler geschehen können, dann ist es frappant, wie wenig Fehlleistun- gen zu verzeichnen sind.

In einer Sonntagszeitung konnte man lesen, dass «fast drei Viertel» der SRF-Mitar- beiter politisch links seien. Eigentlich waren es ja bloss 68 Prozent, die sich selbst links der Mitte verortet haben. Doch wie links? Das erfuhr man in diesem Artikel wohlweislich nicht, sonst hätte es der skandalisierende Text vermutlich nicht auf die Frontseite geschafft.

Auf einer Skala von 0 (links) bis 10 (rechts) liegt die politische Selbsteinschätzung des durchschnittlichen SRF-Mitarbeiters bei 3.8 : also etwas wenig links der Mitte, ziemlich unspektakulär, fast langweilig. Man darf also beruhigt konstatieren: Ein grosses re- volutionäres Potenzial hat sich bei SRF nicht versammelt. Nach solchen absichtsvollen

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V E R M I T T LU NG

Nach all den Bildschirmen, die in den letzten Jahren in Museen installiert wurden, gibt es nun neue Heilmittel, die Museen vor dem Aussterben bewahren sollen. Als Trägersubstanz kommen dabei Apps zum Einsatz. Man- che Produkte haben so klingende Namen wie Virtual Reality, Augmented Reality oder Mixed Reality. Die eingesetzten Medien reichen vom Tablet übers Handy bis zur 3-D-Brille. In unterschiedlicher Dosierung arbeiten sie alle mit demselben Wirkstoff – Immersion. Er soll das möglichst vollständige Eintauchen in die Themenwelt eines Museums bewirken.

Ohne Frage, es ist ein verständliches Ziel, die Be- sucherinnen und Besucher möglichst vollständig in eine Themenwelt hineinzuversetzen. Welches Museum möchte nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Publikums? Man muss als Institution heute ein Erlebnis bieten, das zu wiederkehrenden Besuchen motiviert.

Damit werden schliesslich Einnahmen generiert – und hohe Besucherzahlen sind heute beinahe die einzige Rechtfertigung für die Existenz eines Museums. Der

Immer mehr Museumsverantwortliche setzen auf den Einsatz von digitalen Medien als Erlebnis- Booster. So etwa im Luzerner Bourbaki-Panorama. Dies geschieht selten ohne herausfordernde Begleiterscheinungen.

Von Ralph Eichenberger, Bilder: Natalie Boo / AURA

Wie viel Digitalisierung erträgt ein Museum?

Blick auf die Besucherzahlen und die Mitbewerbenden auf dem Freizeitmarkt sind jedoch nur ein Grund, weshalb immer mehr Museen auf digitale Medien setzen. Ein mindestens ebenso starker Motivator ist das Bedürfnis, die eigene Faszination für ein Thema zu teilen, die Inhalte verständlich und unterhaltsam zu vermitteln und, ganz zentral, auf keinen Fall als verstaubte Institution zu gelten.

Da wirken die neuen, digitalen Heilmittel natürlich sehr verlockend. Ein Museum mit einer eigenen App gilt als zeitgemäss – ohne scheint es an Man- gelerscheinungen zu leiden. Zudem kauft sich ein Museum mit den digitalen Medien automatisch Interaktion ein, heute ein weiterer wichtiger Bestandteil des Angebots. Die Gäste erwarten, selbst aktiv sein zu können; und sei es nur durch das Tippen auf einen Bildschirm. Wer keine Interaktionsmöglichkeiten bereitstellt, hat Mühe damit, seine Institution als modernes und attraktives Ausflugsziel darzustellen. Der Konkurrenzdruck und die Erwartungen der Museumsbesucherinnen und -besucher treffen also auf neue Möglichkeiten wie Apps, Virtual und andere Realitys – wer könnte da widerstehen?

Ein Trend mit Nebenwirkungen

Es gibt allerdings einige Indikatoren, die darauf schliessen lassen, dass der Einsatz digitaler Medien nicht ohne unerwünschte Folgen zu haben ist. Zum

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V E R M I T T LU NG

einen sind da technisch-logistische Faktoren wie Kosten und Abhängigkeiten.

Der professionell produzierte Einsatz digitaler Medien verlangt erhebliche In- vestitionen, eine laufende Aktualisierung der Soft- und Hardware und schafft neue Abhängigkeiten gegenüber teils themenfremden Tech-Lieferanten. Diese Herausforderungen lassen sich mit genügend finanziellen Mitteln und einer sorgfältigen Auswahl der Produktionspartner bewältigen.

Um einiges einschneidender ist die zweite Gruppe möglicher Nebenwirkun- gen. Sie umfasst alle Faktoren, die das Besuchserlebnis direkt beeinflussen. Da ist zum einen der Fokuswechsel vom Ausstellungsobjekt zum mobilen Gerät.

Wenn die Inhalte über ein Handy oder ein Tablet vermittelt werden, müssen die Besucherinnen und Besucher ihre Aufmerksamkeit teilen. Je attraktiver und komplexer eine App gestaltet ist, umso mehr zieht sie den Fokus auf sich. Das geht zwingend zulasten des eigentlichen Ausstellungsobjekts. Mobile Geräte müssen die ganze Zeit herumgetragen werden und beschäftigen die Hände.

Damit geht viel Freiwilligkeit verloren. Die digitalen Inhaltsvermittler werden vom Angebot zum Zwang.

Was den Erlebniswert zusätzlich negativ beeinflusst, kann unter dem Begriff Isolation zusammengefasst werden. Tippen, wischen, scrollen und unter Ohrstöpseln zuhören – so sehen Museumsbesuche immer häufiger aus.

Das Bild kennen wir auch aus dem Zug, dem Bus und von Touristen, die mit Handy oder Tablet bewaffnet durch Luzern browsen. Wenn digitale Gadgets im Einsatz sind, entfremden sich Nutzerinnen und Nutzer von der Umwelt und in einem Museum auch vom Ausstellungsobjekt.

Ein Beispiel dafür ist seit Neustem im Bourbaki-Panorama zu finden. Die Gäste erhalten am Empfang ein Tablet und einen Kopfhörer mit auf den Weg.

Die App, in der Edouard Castre als Erzähler viele spannende Inhalte zum Rundgemälde vermittelt, erhält 100 Punkte. Sie ist sorgfältig, professionell und unterhaltsam gemacht. Sie schafft mit Geräuschen Atmosphäre und die kleinen Bildanimationen wirken gut. Storytelling steht im Zentrum, die Be- nutzerführung und die Länge der Textinhalte stimmen. Die Verbindung zum Originalgemälde wird hergestellt. Alles bestens soweit.

Und dennoch: Beide Hände und Ohren sind per- manent beschäftigt. Der Fokus liegt auf der App und das Rundgemälde wird zur Illustration der Erzählung.

Die Ruhe, Kraft und Ausstrahlung des Gemäldes gehen verloren, genauso wie das Gruppenerlebnis auf der Be- sucherplattform – jeder Gast ist alleine unterwegs und wandelt mit Tablet und Kopfhörer durch den Raum.

Dazu kommt, dass das Tablet im anschliessenden Besuch des Museums (noch?) keine Funktion erfüllt – trotzdem muss es mit herumgetragen werden …

Deshalb: Einen hohen Erlebniswert mit Immersion und Interaktion zu kreieren, ist ein gerechtfertigter Anspruch, bei dem sich Museumsfachleute und Mu- seumsgäste schnell finden können. Um dieses Ziel zu erreichen, sind digitale Medien jedoch nur ein mögliches Mittel unter vielen. Ihre Anwendung sollte vorsichtig dosiert werden, denn allfällige Nebenwirkungen sind nicht zu unterschätzen. Allheilmittel gibt es nicht.

Der Erfolg eines Museums ist übrigens völlig unab- hängig vom Einsatz digitaler Medien. Viel entscheiden- der sind zum Beispiel die Museumsmacherinnen und -macher, ihr Engagement, ihr Wissen um die Inhalte und ihr Geschick im Umgang mit dem ganzen Spektrum an Vermittlungsformen.

Ralph Eichenberger ist Szenograf. Seit 1995 entwickelt und realisiert er Erlebnisräume für Firmen, Museen und Institutionen.

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Wechselnde Namen und Funktionen: Die Diebe.

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A K T U E L L

Im fünften Stock vor der Felswand. Der Raum ist bevölkert von Gestalten. Eine Band spielt. In der Nische blinkt die Zeitmaschine. Der nächtliche Ausblick durch die Fenster ist ungewohnt. Es könnte eine Kleinstadt im Nordosten von China sein. Aber wir sind, wo Luzern am gewöhnlichsten und interessantesten ist. Baselstrasse 61 A.

Die Zentrale der Diebe ist gleichzeitig ein kleines Ton- studio. Hier lagern sie ihr Diebesgut: Soundfragmente, Ideenschnipsel, Bildmomente, Projektballone, rauchende Geistesblitze und manchmal ganze Imaginationspakete.

Alles der Wirklichkeit abgeluchst. Und ihrer Vorstellung, wie diese sein könnte.

Das jüngste Werk ist ein Jahreskalender. Jeder Monat ist einem Projekt gewidmet, mit dem die Diebe im Jahr 2017 zu tun hatten. Die Macherinnen und Macher posieren in Schwarz-Weiss, je ein Songtext ist abgedruckt, die Songs, da- von zehn in der Zentrale produziert, können heruntergeladen werden. Einige Namen: Käti Käti Maria. Ron y Ruido. Roli Rausch. Heligonka. Smaack. Who´s Elektra. Auch ein Dichter ist dabei. Bardhec Berisha. Und sein Sohn. Königswasser.

Einige Daten sind im Kalender fix eingetragen. Jeden zweiten Monat findet die Konzertreihe «Delik(a)t» statt.

Die Diebe laden die Musizierenden und Bands selber ein. Es muss eine «connection», eine ähnliche Wellenlänge spürbar sein. Einmal jeden Monat – bei Vollmond – beamen sie eine Person in die Zentrale, stellen ihr Fragen, nehmen alles in Ton und Bild auf und drucken Auszüge des Gesprächs auf ein Flugblatt, das sie in Luzern verteilen.

Die Diebe sind diskret. Man kommt ihnen nicht so leicht auf die Schliche. Und wenn sie von den Hintergründen ihres Tuns erzählen, könnte ein streng rational denkender Zeitgenosse schnell hilflos werden. Er wüsste, als einge- gleister Wirklichkeitsfunktionär, gar nichts anzufangen mit den enthusiastischen Ideen und den anti-ökonomischen Philosophien des Duos. Eigentlich möchten sie am liebsten Heinzelmännchen bleiben, die machen, was sie treibt.

Subversive Impulse

Ihre Namen und Funktionen wechseln. Mal sind sie Die Diebe, die mit ihren Aktivitäten eine Plattform entwickeln, damit

Seit bald einem Jahr treiben Die Diebe in Luzern ihr heiteres Unwesen. Sie laden Bands ein, nehmen Musik auf, führen Gespräche, produzieren satirische Nachrichtensendungen, hecken Projekte aus. Sie machen, was sie können. Und sie tun es mit Lust.

Von Pirmin Bossart, Bild: Bujar Berisha

Stehlen – Geben – Transformieren

Leute ihre künstlerischen Projekte verwirklichen können.

Manchmal werden sie zu Petra Galli und Geri Weber, die be- flissene Nachrichtensprecherin und der windige Reporter, die ihre satirische Newssendung «Danachrichten» produzieren.

Dann sind sie wieder Lili und Bujar, die Markendesignerin und Kulturwissenschaftlerin, der Musiker und Fotograf.

Am Anfang stand die Idee, Musikerinnen und Musi- kern die Gelegenheit zu geben, Songs aufzunehmen. Dann provozierten die Kultur-Sparmassnahmen des Kantons die beiden zu einem spontanen Video. Daraus wurden die

«Danachrichten», die sie weiterführen. Auch ein Kinderbuch mit eigenen Zeichnungen ist in der Pipeline. Ein Verlag.

Ein Label. Warum nicht? Probieren geht über Studieren.

Do it yourself!

Wer etwas machen will, kann sich an Die Diebe wenden.

Die Ansätze für ihre Dienstleistungen sind fair. Bei Bedarf arbeiten sie auch gegen Naturalien. Sie schlagen dem beherr- schenden Geld-System ein Schnippchen. Der grassierende, unhinterfragte Konsum interessiert sie nicht. Die Diebe sind subversiv. Allfälligen Bedenken setzen sie ein Lächeln entgegen. Sie machen einfach. Das macht Die Diebe stark.

Wo andere abwinken und feststellen, das ginge finanziell eh nicht, kommen sie in die Gänge. Ihre Philosophie ist eine Mischung aus Transformations-Esoterik und Altruismus.

Sie haben auch Glaubenssätze veröffentlicht. Nicht, um eine Wahrheit zu verkünden, sondern um Inspirationen zu teilen. Sie möchten den Dingen mehr auf den Grund gehen, statt sich in Trägheit mit den Gegebenheiten zu arrangieren.

Die Aktionen und Ideen der Diebe setzen kreative Impulse frei. Sie regen die Leute dazu an, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, ihre Sinne zu brauchen, Sachen auszuprobieren, Neues zu entdecken, selber zu denken, offen zu sein, kritisch zu bleiben. Über allem steht die Energie des Positiven, die Lust am Machen, die Freude am Sein und Verwandeln. So wollen sie weiterkommen. Robin und Hood. Für dich und mich und für alle.

www.diediebe.ch

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K U LT U R TA N K

Der Gedanke des Wettbewerbs ist heute vielerorts negativ behaftet. In der Antike erfüllte der Wett- streit jedoch viele Funktionen für Kunst und Kultur. An jährlichen Wettkämpfen rangen ebenso Sportler wie auch Sänger und Dichter um die Gunst der Jury. Die griechische Wettkampfkultur barg verschiedene Potenziale, die im heutigen Kulturschaffen aus dem Blick geraten sind.

Braucht das Kulturschaffen mehr Wettstreit?

I

m 19. Jahrhundert wiesen Friedrich Nietz- sche und Jacob Burckhardt eindringlich auf die Wichtigkeit und die Vorteile einer Wettkampfkultur hin. Sie waren der Meinung, dass künstlerische Freiheit unter Wettkampfbedingungen besonders fruchtbar sei. Während die beiden Basler Professoren den wirtschaftlichen Wettbewerben kritisch gegenüberstanden, plädierten sie ausdrück- lich für den Nutzen des Wettstreits in Kunst und Kultur. Der Akzent liegt nicht auf einem kosteneffizienten Gewinnstreben, sondern auf der Situation des Wettkampfes.

Der griechische Begriff Agon ( ) lässt sich im Deutschen ungefähr mit Wettstreit übersetzen und bildete einen integralen Be- standteil in Religion und Kultur verschiede- ner Stadtstaaten der Antike. Während man heute unter Wettkämpfen hauptsächlich die gymnischen Agone versteht (sportliche Wettkämpfe), hatten u. a. in Athen während mehreren Jahrhunderten die musischen Ago- ne (insbesondere Theater-, Lyrik- und Musik- wettkämpfe) den höheren Stellenwert. Die Siegesgöttin Nike, die heute zum kommerzi- ellen Branding gesponserter Sportler dient, schien in den antiken Siegerdarstellungen die musischen Wettkämpfer zu bevorzugen.

Die Athener hatten für ihre musischen Wettbewerbe ein ausgeklügeltes Bewertungs- system: Aus jedem der zehn Bezirke des Stadtstaats rekrutierte man ein Jurymit-

glied. Dieses Vorgehen ermöglichte einen repräsentativen Beschluss und war darüber hinaus für ganz Athen identitätsstiftend.

Denn die Jurymitglieder repräsentierten nicht nur sich, sondern Ehre und Ansehen ihres Bezirks. Diese Wettbewerbe waren auch für die Kunstschaffenden besonders befriedigend, weil sie vom ganzen Stadtstaat beachtet, geehrt und gefeiert wurden.

Wettbewerb als Brücke zwischen Künstlern und Publikum

In der Antike war es ein Fakt: Künstler nei- gen zu Eitelkeit, Ehrgeiz und Selbstsucht.

Das war damals kein persönlicher Vorwurf, sondern ein nüchterner Befund über eine menschliche Energie, die es sinnvoll zu nut- zen gilt. Der künstlerische Hang zur mass- losen Individualisierung wurde durch den Wettkampf gezähmt und als schöpferische Energie ausgenutzt. Im Wettbewerb konnten die Künstler ihr Talent beweisen und zugleich ihren selbstsüchtigen Ehrgeiz ausleben.

Die Wettkampfsituation verlangte von den Künstlern einerseits den Einsatz von traditionellen und verständlichen Kunst- mitteln, anderseits von Neuerungen, die den entscheidenden Unterschied zu den Mitstreitern bewirken sollten. Ein Werk, das sich im Willen, anders oder neu zu sein erschöpfte, empfanden die damaligen Athe- ner nicht als erstrebenswert. Sie sahen in

den anerkannten Normen und Techniken keine Einschränkungen der künstlerischen Freiheit, sondern die Möglichkeit, das eige- ne Kunstschaffen zu steigern und anderen Menschen zu präsentieren. Nietzsche fasste das wie folgt zusammen:

«Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der neue Zwang, den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (sodass er Nachahmer findet)? […]

‹In Ketten tanzen›, es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, – das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen.»1 Die Meisterschaft einer Kunst bestand darin, Kontinuität und Innovation ineinander zu verschränken. Damit wurde ein zentrales Problem des Kunstschaffens entschärft – die Kluft zwischen Künstler und Publikum.

Durch den Wettbewerb wird den Künstlern das Vermitteln ihrer Werke, dem Publikum das Annehmen derselben reizvoll gemacht.

Diese simple Tatsache ist alles andere als selbstverständlich.

Kultureller Wettstreit heute?

Heute empfindet man es als gegeben, dass im Kulturschaffen grösstenteils kein direkter Wettbewerb stattfindet. Kulturpreise ehren

«Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten, so gebietet die hellenische Volkspädagogik:

während die neueren Erzieher vor Nichts eine so große Scheu haben als vor der Entfesselung des sogenannten Ehrgeizes.»

Friedrich Nietzsche*

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* Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, § 5 Homer’s Wettkampf (1872).

1 Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten (1879), Aphorismus 140.

2 www.artechock.de/film/text/special/2017/locarno/08_16_festivalkino.html

K U LT U R TA N K

gerne ein Lebenswerk oder eine individuelle Handschrift, weniger aber das Durchset- zungsvermögen unter Konkurrenzdruck.

Und wenn doch, dann handelt es sich um eine Fachjury, die wiederum nach subjek- tiven Kriterien ein Werk auswählt. Es ist kein Geheimnis, dass je nach Jury-Zusam- mensetzung an Filmfestivals entweder die besonders kritischen, experimentellen oder provokativen Filme die grössten Chancen haben. Die Fachjurys repräsentieren vor allem ihren eigenen Geschmack und ihre individuelle Expertise. Deshalb waren viele Besucher des letzten Filmfestivals in Locarno einmal mehr empört über den Gewinner des Pardo d'oro, während die Jury sich für ihren

«mutigen» Entscheid auf die Schulter klopfen durfte. Der Filmkritiker Rüdiger Suchsland äusserte sich diesbezüglich treffend über den Gewinnerfilm «Mrs. Fang» vom Regisseur Wang Bing:

«Denn Wangs extrem gedrehter, Geduld fordernder Darstellungsstil aus langen, langsamen und weitgehend ereignislosen Einstellungen, kann sich zwar immer da- rauf berufen, dass ja so halt das Leben ist – aber all das bringt das Kino und die Welt- erfahrung nicht voran. Erst recht nicht die Absage an irgendeine Geschichte, an irgendeine Form von ‹Relevanz› – ich weiß schon, dass dies das Schimpfwort unter

den Liebhabern der Gegenwartskunst ist, aber genau hier sollten wir eine Debatte beginnen.»2

Diese Debatte müsste die Frage beinhal- ten, ob mehr Wettbewerb und repräsentative Publikumsteilnahme (auch an Jurys) dem Kulturschaffen guttäte. In der Antike waren Religion, Kunst und Politik nur schwer zu trennen. Es mag zwar richtig sein, dass alles Kunstschaffen einzigartig, subjektiv und unvergleichbar ist. Diese Vorstellung wirkt zuweilen jedoch wie ein Schutzschild, unter dem sich das Kunstschaffen unkritisierbar isoliert, darob jedoch gesellschaftlich irrele- vant wird. Man könnte von den Athenern lernen, dass der Hauptzweck von Wettbe- werben nicht bloss in der Auszeichnung von Werken liegt, sondern darin, dass sie das Kunst- und Kulturleben mit der Zivil- gesellschaft verzahnen.

Da wir heute nicht mehr in einer atheni- schen Demokratie leben, ist das Modell der musischen Agone nur begrenzt übertragbar.

Die antiken Agone lassen uns aber von einem Kulturschaffen träumen, das weit über klei- ne Gruppen hinaus Relevanz geniesst und das durch unterhaltsame Wettbewerbe alle Bürger miteinander verbindet.

Tobias Brücker

Die Artikel im Kulturtank sind eine Einladung zum Diskurs und wollen einen Beitrag zu einem reflek- tierten und kritischen Selbstverständnis des Kultur- schaffens leisten.

Beispiel für Wettstreit im Kulturschaffen: Die Gewinnerinnen und Gewinner des «Kick Ass Award» (Bester Song) werden zu einer Hälfte durch die nominierten Bands und zur anderen Hälfte durch ein öffentliches SMS-Voting bestimmt. Bei den anderen Awards (Best Album, Playlist Hero) wird der Sieger durch eine Jury entschieden. Bild: Radio 3fach

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Hipster Knoblauch

G E F U N D E N E S F R E S S E N

Zwei Dinge scheinen für junge Spitzenköche heute unabdingbar: Einerseits die obligate Pinzette, die in der Tasche am Ärmel der Kochschürze steckt und mit der – und nur der – die Teller angerichtet werden. Und an- derseits Menüs, dominiert von eigenmächtig fermentierten Lebensmitteln. Nichts gegen Fermentiertes, im Gegenteil: Bei Bier, Wein, Käse und Brot bin ich da voll und ganz mit von der Partie. Auch ein schönes Sauerkraut in Ehren, doch spätestens wenn man mehrere Abende in Folge bei angesagter und vornehm- lich fermentierter Kost verbringt, wird man feststellen müssen, dass der Magen dies oft weniger goutiert und der Mikrobenzirkus verrückt spielen kann. Die neue Liebe der Spitzenköche am Fermentierten hat aber glücklicherweise ein altgedientes koreanisches Heilmittel in unsere Küchen gebracht, das es hierzulande lediglich in Apotheken als Medizin in Pillenform zu erstehen gab: den

fermentierten Knoblauch. Hergestellt nach einem uralten Rezept in einem südkorea- nischen Familienbetrieb, soll die schwarze Knolle von Kochgott Ferran Adria vor einigen Jahren bei einer Asien-Reise nach Spanien gebracht worden sein, von wo aus sie sich in Windeseile in der Sternegastronomie verbrei- tete. Die Herstellung ist denkbar einfach und wenig energieeffizient: Bei konstanten 60°

Celsius und entsprechender Feuchtigkeit wird Knoblauch während 40 Tagen fermentiert.

Durch diesen Prozess verändert sich nicht nur die Farbe der Knolle in ein tiefes Schwarz, auch verwandelt sich deren Konsistenz ins Weiche, fast etwas Klebrige, und sie erhält ein unvergleichliches Aroma mit Suchtpotenzial, das am ehesten an Pflaumenkompott, Lakritze oder Balsamico erinnert. Der schwarze Knob- lauch passt hervorragend zu Käse (Raclette!

Weg mit den Gurken!), zu Pasta, fein gehobelt mit etwas Spargel, zu Lammfleisch oder auch

perfekt, um eine Butter zu aromatisieren. In Luzern ist der schwarze Knoblauch im Italo Hispano beim Helvetiaplatz zu erstehen. In der Comestible-Perle, die Andrea Baum- gartner und Philipp Fekete nun seit bald dreissig Jahren führen, wird Ajo Negro aus der nordspanischen Region Castilla y León verkauft, die Knollen schmuck verpackt im Kartonschächtelchen. Und: Mundgeruch gibt’s vom schwarzen Knoblauch keinen.

Text und Bild: Sylvan Müller

Infos: Italo Hispano, Moosstrasse 15, Luzern www.italohispano.ch

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Greifvogelschwingen, Vogelkörper in flatternder Bewegung, Wald- tiere im «Lidschlag des Hundes», Köpfe und Augen kenntlich als aufblitzende Fragmente lebendiger Gestalten, Füsse, Hände, Detail- sichten menschlicher Figuren: In Bruno Murers grossformatigen Pastellbildern stellen sich im Moment des Sichtbarwerdens die Fragen nach Inhalt und Möglichkeit zeichnerischer und malerischer Darstellung. Was Bruno Murer mit Strich und Farbe aufs Papier bringt, sind keine abgeschlossenen, ein für allemal festgesetzten Bilder, dem Wiedererkennen anheimgegeben: Es sind Bilder, die das Sehen, das zu ihrem Entstehen Anlass gab, mit zeigen, die im Betrachter dieses Sehen noch einmal ins Werk setzen. Fragen sind es, die von diesen Bildern ihren Ausgang nehmen, nicht Antworten, in denen sich die Wahrnehmung erschöpft.

Was ist zu sehen? Was heisst Sehen überhaupt? Diese Fragen bewegen den Künstler Bruno Murer seit je in seinem Schaffen. Am Ursprung selbst will er das bildweckende Sehen festmachen, an jenem Punkt, wo sich der nach innen genommene Ausseneindruck mit der Vorstellung verbindet, wo die aufs Auge treffenden Form- und Farbfragmente Erkennen in Gang setzen, die komplexen Prozesse, die das neu Gesehene mit zuvor Gesehenem, in der Erinnerung Bewahrtem, mit Wissen und je schon Erkanntem zusammenbringen.

In Bewegung

Diesen Prozessen, dem Quellpunkt der Bilder, will Bruno Murer nahekommen. Es sind lebendige Vorgänge, nach denen er fragt,

Was ist zu sehen?

Bruno Murer stellt in der Kunsthalle Luzern aus. Der 1949 in Beckenried geborene Künstler arbeitet in seinem Atelier in Alpnach und lebt in Kriens, das ihm 2017 den Kulturpreis verlieh. In einer kon- zisen Auswahl zeigt Murer in der Kunsthalle Luzern Skizzenbücher, Zeichnungen, Pastellmalerei und Skulpturen.

und er erhält sie in seinen Bildern am Leben. Was er aufs Papier bringt, bleibt in Bewegung. Da ist nichts Erstarrtes, da ist Werden und Vergehen, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt. In der Auseinandersetzung werden die Betrachterin und der Betrachter ins Bild mit einbezogen. Nicht allein das eigene Sehen: Der eigene Standpunkt, die eigene Perspektive sind erfordert. Das zu Sehende auf sich selbst zu beziehen, sich selbst in Bezug zum Dargestellten zu setzen, dazu fordert der Künstler das angesprochene Gegenüber seiner Bilder heraus.

Diese Herausforderung anzunehmen ist ein Abenteuer. Aus einem rauschhaften, noch unbestimmten ersten Eindruck gilt es, sich zu vergewissern: seiner selbst und des Angeschauten mit seinen Verweisen auf die Lebenswirklichkeit, auf die Natur und den Menschen in ihr und als ihr Gegenüber zugleich, wie er sich sieht, wie er sich im lebendigen Zusammenhang mit Welt und Wirklichkeit erkennt.

Alltagseindrücke

Bruno Murer gewährt in seiner Ausstellung in der Kunsthal- le Luzern einen präzise konzipierten Einblick in sein Schaffen.

Sieben grossformatige Pastellmalereien, jede in der Zeitspanne eines je einzigen Tages 2017 entstanden, stehen sieben Skulpturen gegenüber, denen der Künstler das Zeitmass eines Jahres zumisst.

Daneben sind sieben «Feldbücher» aus den Jahren 2011 bis 2017 am jeweils selben Tag aufgeschlagen. In diesen Büchern erkundet der

KUNST

Blick in Bruno Murers Atelier in Alpnach. Bild:

Ruth Murer

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