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5 Mai 2 01 5 CHF 8.– www .null 41.ch

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Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender N

O

5 Mai 2 01 5 CHF 8.– www .null 41.ch

ECHTER GEHT’S NICHT MEHR

WARUM ES BEIM TOURISMUS IMMER UMS ECHTE GEHT UND DABEI DAS KÜNSTLICHE HERAUSKOMMT.

ECHT SINNLICH: DAS WERK VON HANS SCHÄRER ECHT ILLEGAL: CONTAINERN IN LUZERN

ECHT KNIFFLIG: DIE KUNST, KUNST ZU KONSERVIEREN

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ANZEIGEN

Gestalterischer Vorkurs Jahresausstellung 2015

Mittwoch 20. Mai – Samstag 23. Mai 2015 Öffnungszeiten: Mi – Fr 9.00 – 20.00 Uhr

Sa 9.00 – 17.00 Uhr

Hochschule Luzern – Design & Kunst Sentimatt 1 / Dammstrasse, 6003 Luzern

www.hslu.ch/vorkurs

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PAUSE

Baptiste Gilliéron • André Wilms • Julia Faure

Ein Film von Mathieu Urfer

graphisme latitude66.net / photo C. Leutenegger

AB 21. MAI IM KINO

LONDON SYMPHONY ORCHESTRA

Donnerstag, 28. Mai 2015, KKL Luzern, 19.30 Uhr

Daniel Harding (Leitung) & Janine Jansen (Violine)

Edward Rushton*: «Being Mahler’s fifth symphony», Uraufführung Felix Mendelssohn Bartholdy: Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64 Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5 cis-Moll

*Schweizer Komponist

Vorverkauf

KKL Luzern, Europaplatz 1, 6005 Luzern, Tel. 041 226 77 77, www.kkl-luzern.ch www.migros-kulturprozent-classics.ch

SAISON 2014/2 015

WIr brINgeN e uch klASSIk

© Harald Hoffmann/Decca

VON DER GUILLOTINE ZUM LIKE-BUTTON

DEMOKRATIE

25. April 2015 bis 31. Januar 2016 stadtmuseum.ch

stadt—

museum

aarau

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DAS SCHÖNE UND DAS ANDERE

EDITORIAL

Endlich ist er da, der Frühling.

Allerorts recken Blümlein ihre Hälse, Kräuter spriessen auf Stadtbalkonen und die ersten Schmetterlinge regen sich – auch in manchem Bauch. Mitten in Luzern öffnet diesen Monat aus- serdem eine ganz spezielle Blume ihre Blätter: die Seerose. Sehr gross

und sehr pink gefällt sie nicht allen, ja von manchen wird sie gar als Unkraut geschimpft. Und auch nicht alle mögen, für was sie steht: das Gästival. Gerade in der Kulturszene steht man dem Tourismus-Grossanlass, der sich die Kultur gross auf die Fahne schreibt, kritisch gegenüber: Wird Kultur da nur als leerer Marketing- begriff missbraucht? Oder werden gar Kulturgelder für Eventmanager verbraten? Solche Fragen wurden in den letzten Wochen eifrig diskutiert – gleichzeitig tun viele Kulturschaffende mit eigenen Projekten mit. Wir sind der Sache auf den Grund gegangen und stellen fest: Kulturtöpfe wurden für die aufwendige Kiste keine geplündert. Und im Programm gibt es durchaus auch Interessantes zu entdecken. (Seite 11)

Etwas Künstliches haftet dem Event, der 200 Jahre Tourismus feiert, trotzdem an – wie so einigen anderen

«historischen» Gedenkfeiern in diesem Jahr. Wie könnte es auch anders sein, denn der Tourismus lebt schliesslich von künstlichen Welten, die auch immer wieder neu

erfunden werden müssen, sagt Historiker Valentin Groebner.

(Seite 8)

Alles andere als künstlich, son- dern voll unmittelbarem Leben sind die Werke des Künstlers Hans Schärer. Auf bürgerliche Fassaden gab dieser gar nichts – und wurde deshalb immer wieder als Verrückter abgestempelt. Anlässlich einer grossen Werkschau in Aarau blicken wir zurück auf diese schillernde Figur. (Seite 13)

Abschied nehmen müssen wir an dieser Stelle leider von unserem kürzlich verstorbenen langjährigen IG-Kultur-Präsidenten Armin Meienberg. Er war uns mehr als das, und angemessene Worte gibt es nicht – und das Angemessene hat ihn auch nie interessiert.

Armin, wir sind sehr traurig, dass du nicht mehr da bist, und wir vermissen dich. Wir werden versuchen, den Ofen heiss zu halten, tamam?

Bild: zvg

Martina Kammermann redaktion@kulturmagazin.ch

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INHALT

Bild: Peter Thali

PROGRAMME DER KULTURHÄUSER 44 Stattkino

46 LSO / Luzerner Theater 48 ACT

50 Neubad / Südpol

52 Stadtmühle Willisau / Chäslager 54 Romerohaus

56 HSLU Musik / Kulturlandschaft 58 Kleintheater

64 Kunstmuseum Luzern 66 Kunsthalle / Museum Bellpark 68 Historisches Museum / Natur-Museum 11 HEISSES EISEN

Welche Rolle spielt die Kultur beim Gästival?

20 KUNST MIT ABLAUFDATUM Wie macht man organische oder olfakto- rische Kunst haltbar? In Bern kann man es lernen.

21 ANIMIERTE SCHWEIZ

An der Expo in Mailand gibt es Luzerner Trickfilme zu sehen.

18 DIE MÜLLTAUCHER

Die Anti-Food-Waste-Bewegung hat auch Luzern erreicht.

22 ZUKUNFTSBLICK NR. 5

Die Kunstformate von morgen.

8 DIE SCHÖNERMACHER

Warum der Tourismus immer noch mehr

«Echtes» erfinden muss.

13 DER MADONNEN-ANBETER

Ein Blick in das bewegte Leben von Hans Schärer.

KOLUMNEN

6 Gabor Feketes Hingeschaut 7 Lechts und Rinks: Für eine Mall of Watches

25 Gefundenes Fressen: «Abfall»-Rezepte 42 11 Fragen an: Erich Rothacher 73 Kämpf / Steinemann

74 Käptn Steffis Rätsel 75 Das Leben, wie es ist

SERVICE

26 Bau. Alte Schmuckstücke auf dem Bürgenstock

29 Kunst. Adligenswil hat ein Freiluft-Museum

30 Musik. Lauter, klarer, besser:

Schnellertollermeier

33 Kino. Jetzt ist schon wieder was passiert 37 Wort. Ein Deutscher entwirft die perfekte Gesellschaft

39 Bühne. Das Altern, sprachgewaltig eingekreist

71 Ausschreibungen / Namen&Notizen / Preise 72 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz

KULTURKALENDER 43 Kinderkulturkalender 45 Veranstaltungen 65 Ausstellungen Titelbild: Mart Meyer

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KONZERTE

Donnerstag, 14. Mai 2015 19.30 Uhr, Aula Cher Sarnen

«Eröff nungskonzert»

Freitag, 15. Mai 2015

20.00 Uhr, Aula Cher Sarnen

«Internationale Bläsermusik»

Samstag, 16. Mai 2015 20.00 Uhr, Aula Cher Sarnen

«Sinfonisches Konzert»

Sonntag, 17. Mai 2015 11.30 Uhr, Dorfplatz Sarnen

«Hörnerklang»

Transportsponsor: Mediensponsor:

Hauptsponsoren:

Vorverkauf: www.hornfestival.yourticket.ch Weitere Informationen: www.frenchhorn.ch

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SCHÖN GESAGT

Die Uhrenbranche und Gross- verteiler erobern die Luzerner Altstadt – weitere «Partner- schaften» sind in Planung:

GUTEN TAG AUFGELISTET

GUTEN TAG, MARCEL SCHWERZ- MANN

Eigentlich tust du uns ja fast ein bisschen leid. Zuerst das «IT-Debakel»: Du standest in der Kritik, weil du über mögliche Veruntreuungen des Leiters der Dienststelle Informatik nicht informiert hattest.

Dann «Webgate»: Du standest in der Kritik, weil du über die schlüpfrige Internetnutzung deiner Beamten nicht informiert hattest. Und kürzlich die Steuerpraxisänderung für Gemeinderäte: Du standest beim Verein Luzerner Gemeinden (VLG) in der Kritik, weil du – genau. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Dabei willst du doch nur un- nötige Bürokratie aus dem Weg schaffen, damit alle anderen weniger Arbeit haben. Ein effizienter Regierungsrat eben. Danke! Für deine Wiederwahl im zweiten Wahlgang vom 10. Mai nimmst du für einmal kein Blatt vor den Mund: «Die Geschlech- terquote darf nicht das wichtigste Kriterium sein, das wollen übrigens auch die Frauen nicht.» Jetzt nimmst du auch noch «den» Frauen ein bisschen Meinungsarbeit ab. Wie nett.

Top Secret!, 041 – Das Kulturmagazin.

GUTEN TAG, ZENTRALSCHWEIZ AM SONNTAG

Aufmerksam lasen wir dein Porträt von Regula Schröter, der künftigen Schauspiel-Leiterin des Luzerner Theaters. Wirklich interessant, wie du sie umschreibst: Immer, wenn es irgendwo einen ra- dikalen Neuanfang gab, war Regula Schröter dabei. Wo alle diese Neuanfänge waren, erschliesst sich in deinem Artikel nicht ganz. Aber egal, dabei sein wird sie nun auch in Luzern, und so freuen wir uns auf zahlreiche Momente mit ihr. Denn: Diese Momente, wo mit sehr vielen Utopien und Optimismus an eine Sache herangegangen wird, sind die Momente der Regula Schröter. Sehr schön gesagt. Eloquent erklärst du auch, woher ihre gesammelte Kraft, die sie ausstrahlt, kommt: «Ich brauche immer noch etwas Fleisch, eine Geschichte, einen Stoff, Emotionen.»

Also keine Vegi-Dramaturgin. Wir freuen uns auf nährstoffreiche Inszenierungen.

Alles Andere ist Beilage, 041 – Das Kulturmagazin

- Vögele Gärtli - H & Emmen - Château Gücci - Maihof-Cartier - Glashütte KKL - Buchererain - Lozärner Festina

POSTKARTE VON JEAN-CHRISTOPHE AMMANN AN GALERIST PABLO STÄHLI, 1969 (SEITE 27)

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Mein Sohn wünschte sich ein fernsteuerbares Rennauto, und das genau am Ostermontag. Natürlich hatte ich – als wohlerzogener Papa – eine riesige Lust, seinen Wunsch ganz schnell zu erfüllen.

So gingen wir am Vormittag mit der ganzen Familie los, es zu besorgen. Es gab nur ein offenes Geschäft, das ich eigentlich gar nicht gern besuche. Die bevorstehende Aufgabe erschien mir, wie die Alpenüberquerung mit Elefanten und einem ganzen Heer für den Feldherrn Hannibal einst gewesen sein muss.

HINGESCHAUT

Hannibal in Luzern

Als ich aus dem Bus stieg, sah ich ein Plakat mit Elefanten und dahinter den frisch verschneiten Pilatus. Es war wie ein Zeichen von oben, es wird alles gut … Ostermontag war gerettet.

Bild und Text: Gabor Fekete

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LECHTS UND RINKS

Luzern ist auch Abu Dhabi. Und vielleicht bald der einzige Kanton ohne linke und weibliche Vertretung in der Regierung – dafür mit der grössten Shopping-Mall.

Wer kauft die Wurst noch in der Metzg und den Pinsel im Fachgeschäft? Es werden immer weniger. Die meisten Leute fahren mit ihren Karren in ein Einkaufszentrum in der Agglo und packen dort alles ein, was nicht niet- und nagelfest ist: im Hornbach die Bausachen, im Ikea die Möbel und im Aldi alles andere.

Noch bequemer geht es, wenn alle Waren am gleichen Ort sind. Dieser umwerfende Service entsteht jetzt in Ebikon mit der Mall of Switzerland (was für ein Name! – da sollte dem Gästival im Vergleich die Schamröte ins Gesicht beziehungsweise in die Blütenblätter steigen).

Diese Mall – also eigentlich Markthalle – verei- nigt alles, was das Konsumherz braucht, unter einem Dach. Und zwar einem grossen: Mit einer Verkaufsfläche von 46 000 Quadratme- tern steigt der Ebikoner Gemischtwarenladen in die Topliga der grössten Einkaufszentren in der Schweiz auf. Die Schindler AG hat für den Landverkauf 82 Millionen eingestrichen, nachdem sie als Investorin wieder ausge- schieden ist. In die Bresche gesprungen ist die Freo-Gruppe. Dahinter steht die Kapitalgeberin Tamweelview European Holdings AG. Diese ist wiederum eine Tochtergesellschaft der Abu Dhabi Investment Authority, mit einem Vermögen von schätzungsweise 875 Milliarden Dollar. Irgendwo müssen die Scheichs ja ihre Ölmilliarden deponieren, warum also nicht auf dem Bürgenstock oder eben in der Mall of Switzerland? Allerdings bereitet die potente Konkurrenz direkt vor der Haustür dem Lu- zerner Gewerbe schlaflose Nächte. Gerade hat die CVP dazu eine Interpellation gemacht und der Detaillistenverband Kanton Luzern zeigte sich an seiner Medienorientierung über die Situation ebenfalls nicht wirklich begeistert.

Dass dabei auch noch die Saudis ihre Finger mit im Spiel haben, macht die Sache nicht besser. Überhaupt hat das Lädelisterben in der

Stadt nicht zuletzt mit den reichen Arabern und Asiaten zu tun, die in Luzern Uhren und Schmuck kaufen wollen. Am liebsten hüpfen sie direkt aus den Cars in die Läden von Bucherer & Co., die sich in der Altstadt immer breiter machen. Kein Wunder: Ausser ihnen und ein paar globalen Modeketten kann sich die horrenden Mietpreise (bis zu 6000 Franken kostet der Quadratmeter pro Jahr!) niemand mehr leisten; so macht aktuell gerade Musik Hug mehr oder weniger freiwillig Platz für ein weiteres Uhrengeschäft. Damit sich das Business weiterhin wie geschmiert entwickeln kann, unterstützt diese Branche übrigens das Parkhaus Musegg mit einem Zustupf, damit

das Konzept weiterverfolgt werden kann. Christine Weber, Illustration: Stefanie Dietiker Ein guter Schachzug: Dieses absurde Projekt wird niemals realisiert werden, jedoch über Jahre Alternativen blockieren. Das kommt der Uhren-/Schmuckbranche entgegen: So ist sichergestellt, dass die potente Kundschaft weiterhin von den Cars bis zur Ladenkasse kutschiert werden kann. Dabei gäbe es eine simple und effektive Lösung: Die gesamte Schmuck- und Uhrenbranche zügelt 2017 in die Mall of Switzerland.

Dort kann sie sich auf 46 000 m2 ausbreiten und weiterhin viel Geld

verdienen. Vorteile: Es braucht dann kein Parkhaus in der Altstadt, die Mieten pendeln sich auf einem zahlbaren Niveau ein, einheimische Lädeli und Fachgeschäfte siedeln sich wieder an und alle können besser schlafen.

Für diese linkslastige Idee müssten diverse Beteiligte zu ihrem Glück gezwungen werden, was die Luzerner Kantonsregierung vermutlich nicht tun wird. Erst recht nicht, falls nach den Wahlen fünf rechtschaffene und bürgerliche Männer das Sagen haben sollten. Aber dieses Szenario schliessen wir vorerst noch aus:

Anders als in Abu Dhabi reden hier die Frauen mit. Auch in der Regierung.

PS: Ziehen Sie bei Wahlen und Abstimmungen meist den Kürzeren? Ich auch. Egal: Hingehen!

Reiche Scheiche

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Die Berge sind schön. Die Aussicht ist schön. Die Altstadt ist schön.

Und damit das nicht in Vergessenheit gerät, wird im Jahr 2015 die zweihundertjährige Tourismusgeschichte der Region gefeiert, mit dem interessanten neuen Wort Gästival und unter dem Motto:

«Unsere Gäste, unsere Freunde.» 1815 seien die ersten Hotels am Vierwaldstättersee und auf der Rigi eröffnet worden: An diesen Urknall des Fremdenverkehrs wollen die Initianten anknüpfen.

«Wir alle», weiss das Vorwort der Broschüre, «wollen unsere positive Kraft, unsere Frohnatur, unsere Naturverbundenheit und unsere Ausstrahlung zeigen.»

Tourismus, wird da unübersehbar, ist keine Industrie wie jede andere. Sondern auch nationale Pflicht, erste Person Plural: Um

Unerträglich schön:

die unkaputtbare rosa Fabrik

Beim Tourismus geht es immer ums «Echte», und dieses Echte muss immer wieder neu erfunden werden. Aktuell vom Gästival, einem neuen Höhepunkt der Künstlichkeit.

Von Valentin Groebner*

unser Echtestes geht es. Um echte Gefühle, echte Natur, echte Erlebnisse und echte Schönheit. Damit für jeden der fünfeinhalb Millionen Besucherinnen und Besucher, die heute jährlich in Luzern ankommen, auch genug vom Echten da ist.

Das Unschöne des Schönen

Ganz einfach ist das nicht. Ganz einfach war es auch schon im 19.

Jahrhundert nicht, als die ersten grossen Hotels für die Fremden eröffnet wurden. Der Zustrom von fremden Besuchern in die abgelegensten Schweizer Alpentäler werde von Jahr zu Jahr grös- ser, erklärte der Brite John Ruskin 1856. Jeder Franken, der von ihnen ausgegeben werde, zerstöre die Eigenart und die Schönheit

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TOURISMUS

dieses Landstrichs; unberührte Landschaften und mittelalterliche Städte würden unwiderruflich verschandelt. Binnen weniger Jahre, prophezeite er, werde die Stadt Luzern aus einer Reihe einförmiger moderner Hotels bestehen, mit einer Promenade am Seeufer, die alten Brücken abgerissen und durch billige Vergnügungen für die Touristen ersetzt. Dort würden dann, setzte er sarkastisch hinzu, die aufgeklärten Reisenden, Vertreter der europäischen Kultur, an jedem Sommerabend auf ihre moderne Weise einen Totentanz aufführen – der Tod des Schönen, zerstört vom Tourismus.

Auch das ist Tourismusgeschichte: Der organisierte Fremden- verkehr, wie wir ihn kennen, war zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre alt. Ein französischer Schriftsteller schrieb 1860 von den

«Strömen von Reisenden», die alle schönen Orte übervölkerten,

«begierig, alles zu betrachten» und sie dadurch ruinierten. Ziemlich ähnlich klingen die Bemerkungen, die Mark Twain zwanzig Jahre später über die Innerschweizer Attraktionen machte. Die Promenade am See sei überlaufen, die Luzerner Hofkirche voll mit lauten, trampelnden Touristen. «Das Wirtschaftsleben Luzerns besteht hauptsächlich aus dem Andenkentrödelmarkt.» Die Läden seien vollgestopft mit Fotos, Schnitzereien und kleinen Reproduktionen des berühmten Löwen – derart allgegenwärtig, so Mark Twain, dass sie «unerträglich» würden.

Zerstören die Massen also die Schönheit, von der sie angezogen werden? Oder mag der Tourist einfach keine anderen Touristen?

Auf jeden Fall hat die Suche nach Schönheit, die im 19. und 20.

Jahrhundert zu einer extrem erfolgreichen Dienstleistungsindustrie wurde, neben Grand Hotels, Reisecars und Souvenirläden auch jede Menge Selbsthass produziert. Am elegantesten hat das Hans Magnus Enzensberger in seiner «Theorie des Tourismus» formuliert. Der Tourist sei das Spiegelbild dessen, was er loswerden wolle. Deshalb nehme er es überall hin mit. Es sei leicht, fügt Enzensberger hinzu, sich über den Massentourismus lustig zu machen. «Aber damit, dass man ihn verhöhnt, kann man ihn weder erklären noch lähmen.»

Aufwendig hergestellte Wirklichkeiten

Es ist ja nicht so, dass der Tourist einfach frei hat. Im Gegenteil:

Er muss die Inszenierungen und künstlichen Welten des Schönen bespielen, die für ihn angelegt werden. Diese Sehenswürdigkeiten zeigen auch ganz selbstbewusst vor, dass sie Illusionen sind. Sie sind gemacht für den Blick des Besuchers, der sie bewundern soll.

«Keine leichte Arbeit», weiss Enzensberger. «Die Trostlosigkeit ist dem Touristen vertraut.»

Geschrieben wurde das 1957. Die Zahl der touristischen Ver- gnügungsreisen hat sich seither vervierzigfacht – Fremdenverkehr ist heute die drittgrösste Dienstleistungsbranche des Planeten. Er muss aber noch weiter wachsen; so jedenfalls die Initiatoren des Gästival. Fragt sich nur: Wie geht das? Auf der Website des Jubilä- ums erscheinen all die Embleme, mit denen schon in den letzten

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TOURISMUS

eineinhalb Jahrhunderten die besonderen Qualitäten der Inner- schweiz griffig visualisiert werden sollten, vom Edelweiss und der Sicht auf weisse Berge vor blauem Himmel bis Rütli und Kapellbrücke.

Tourismus ist also eine Reise in eine geträumte Vergangenheit. Und dabei soll das Schöne gefälligst auf dieselbe Art schön bleiben, wie es vermeintlich immer schon war.

Dummerweise hat es die gute alte Zeit nie gegeben. Die Inner- schweiz war am Beginn des 19. Jahrhunderts kein Hort idyllischer bäuerlicher Freiheit, sondern ein kriegszerstörtes Armenhaus, aus dem Zehntausende auswanderten. Davon ist beim Gästival nicht die Rede, verständlicherweise. Die Luxushotels der Belle Epoque, deren Glanz wir heute auf alten Fotos

bewundern, wurden mit ausländi- schen Arbeitsmigranten betrieben – zum grössten Teil schlecht bezahlte Saisonniers, die mit Wanzen und der gefürchteten Tuberkulose zu kämpfen hatten, sarkastisch «Hotelkrankheit»

genannt, und teilweise nur von Trink- geldern lebten.

Doch egal was früher war, oder nicht – das schöne Gestern will ange- boten sein, und notfalls auch erfunden.

Willkommen also in der rosa Fabrik.

Schon im 19. Jahrhundert wurden Vergangenheiten neu errichtet: der

sterbende Löwe, der an heroische freie Schweizer erinnerte (die komischerweise für den französischen König gestorben waren), Alpen- und Gletscherlandschaften, mitten in der Stadt nachgebaut, komplett mit Berghütte und ausgestopften Tieren. Gleichzeitig wurde Unpassendes von früher umstandslos abgerissen, zum Beispiel die mittelalterliche Hofbrücke, die ab den 1840er-Jahren der Aussicht von den neu gebauten Hotels am Schweizerhofquai im Weg war.

Auch die davor errichtete elegante Promenade am See war nicht für alle gedacht: Der Luzerner Hotelierverein beschäftigte eigene Privatdetektive, um unerwünschte Personen, Bettler und Hausierer sofort und diskret aus der Schauseite der eleganten Fremden- metropole zu entfernen. Die Geschichte des Fremdenverkehrs ist eine Geschichte aufwendig hergestellter neuer Wirklichkeiten.

Neues Wunderland nach dem Grounding

Im Sommer 1914 war das alles dann sehr plötzlich und sehr gründ- lich vorbei – an das 100-Jahr-Jubiläum dieses Groundings mochte sich letztes Jahr in der offiziellen Schweizer Tourismuswirtschaft niemand erinnern. Zum Glück hat ein umtriebiger Fremdenver- kehrsdirektor in den boomenden Nachkriegsjahren an der Reuss ein neues Wunderland errichtet. In ihm verwandeln sich auch vermeintlich handfeste Dinge wie Holzbrücken, Barockfassaden und pittoreske Altstadtgassen in lackierte Kopien ihrer selbst, komplettiert mit einem chinesischen Restaurant, über dessen Eingang ein Schild hängt: «Lieblingslokal Richard Wagners». Die Vergangenheit, unendlich vervielfältigt, wird nie vergehen. Das sind die Wunder der Vervielfältigungsagentur Fremdenverkehr:

eine mittelalterliche Altstadt, die aus den 1970er-Jahren stammt.

Ausser der Kapellbrücke natürlich. Die ist von 1993.

Vortrag zur Tourismusgeschichte

Heinz Horat, ehemaliger Leiter des Historischen Museums Luzern, hält auf dem Bürgenstock einen Vortrag zum Zentralschweizer Tourismus. Er erzählt seine Entwicklung von den fremdinitiierten Anfängen um 1815 über den massiven Einbruch im Ersten Weltkrieg bis zu den heutigen Ausfor- mungen. Dabei wird Horat auf verschiedene wichtige Akteure, archi- tektonische (Un-)Taten und wirtschaftliche Auswirkungen eingehen und daneben aufzeigen, wie die Politik dem kantonsübergreifenden Ziel der Vermarktung der Vierwaldstättersee-Landschaft Hand bot.

Von Schuhputzern, Zimmermädchen, Steuermännern und Direktoren, SO 10. Mai, 10.30 Uhr, Bürgenstock Resort, Stickerei- gebäude, Eintritt frei

* Valentin Groebner lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Ein aktuelles Forschungs- projekt, 2013 gestartet, beschäftigt sich mit touristischer Bilderproduktion und der Neuins- zenierung von Mittelalter im 21. Jahrhundert.

Das stört auch niemanden, denn Wiederholung ist die Grundbe- dingung für touristische Verwertbarkeit. Meist fällt die etwas laut, aufdringlich und unverstellt sentimental aus – das ist weder zufällig noch böse gemeint, sondern Geschäftsmodell. «Hey», schreibt ein Besucher der Kapellbrücke auf seiner Website Travelbuddy, «I saw this view a 1000 times before I came here.»

Denn das ist das Versprechen des Reisens: Wiederfinden einer geträumten Vergangenheit, plus wundersame Kontrolle über die Zeit, die für einmal nicht unablässig abläuft, sondern sich stillstellen lässt, und nach Belieben zurückdrehen. Auf dem Tourismus-Planeten, den die Science-Fiction-Autorin Ursula LeGuin erfunden hat, kön-

nen die Besucher an unterschiedlichen Destinationen Weihnachten, Silvester oder Ostern feiern. Auf der Weihnachts- insel ist immer Heiligabend, auf der Silvesterinsel der 31. Dezember mit Champagner, Feuerwerk und grosser Sause – täglich. Verwaltet wird dieser Planet von der «Great Joy Corporation».

Klingt fast schon nach Innerschweiz.

Hier ist nämlich immer Idylle, natur- verbunden, mittelalterlich und authen- tisch. Tourismus ist Zeitmanagement.

Deswegen haben die es alle auch immer so eilig. Unvergessliches Erlebnis, Reise ins Ursprüngliche, beliebig wiederhol- bar. Vielleicht können die Organisatoren vom Gästival fürs nächste Jubiläum den Künstler Jeremy Deller verpflichten? Der hat vor drei Jahren das berühmteste aller englischen Monumente nach- gebaut: Stonehenge, in Originalgrösse und mit allen Details – als transportable aufblasbare Hüpfburg. Das Publikum war begeistert.

Und so etwas müsste mit dem Hotel Palace, dem Wasserturm und der Museggmauer doch auch gehen. Also, Tourismus Innerschweiz und Sponsoren, reisst euch zusammen! Zeigt eure Frohnatur und positive Kraft – «Unsere Gäste, unsere Freunde» wollen schliesslich etwas geboten kriegen.

Die Suche nach Schönheit hat

neben Grand Hotels, Reisecars

und Souvenirläden auch jede

Menge Selbsthass produziert.

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GÄSTIVAL

Eieiei, Gästival. Das Thema ist heikel. Wir spüren es bei jedem Telefonat. Es wird herumgedruckst und beschwich- tigt. Die Medien haben im Vorfeld schon für einige Kontroversen gesorgt. Kulturschaffende bekommen keine Gagen! Freiwillige Helfer werden ausgebeutet!

Die Festivalleitung zockt ab! Die Vorwürfe werden dünn und nichtig, wenn man genau nachfragt. Nur der Name, der bleibt grässlich. Gästival, mein Gott!

Wer in dieser grossen Kiste nach so etwas wie Kultur sucht, entdeckt zunächst ein riesiges Chrüsimüsi. Doch der genauere Blick offenbart, dass auch jenseits von Chue Lee und anderen Leuchtpunkten helvetischer Cervelat-Unterhaltung noch ein gewisses Spektrum an intelligenterer Kost geboten wird. Sogar besondere Geschmäcker werden nicht ganz vergessen. Ein eigenes Programm von Canaille de Jour (Max-Christian Graeff und Christov Rolla) – wer ist da nicht sehr gespannt? Oder Jazz mit Peter Schärli – ein sicherer Wert von Qualität.

Die seekranke Talkshow mit Dominic Deville oder die Comedy von Johnny Burn – das könnte geistreich werden. Auch die theatralische Inszenierung der Seerose (Konzeption und künstlerische Leitung Ueli Blum) mit eigens geschriebenen Texten von Erwin Koch, Franz-

Xaver Nager, Federica de Cesco, Romano Cuonz oder der jungen Autorin Jana Avanzini ist ein vielversprechendes und eigenes Projekt, zumal im Theaterensemble neben Laien auch bekannte Namen wie Margrit Bischof oder Werner Bodinek mitwirken.

Gagen für Kulturprofis

Arbeiten die alle für ein Butterbrot, wie besorgte Kul- turschaffende vor Monaten mal aufschrien? Stefan Ragaz, verantwortlich für die Kommunikation, winkt ab. «Alle professionellen Künstler und Kulturschaffenden bekommen selbstverständlich eine Gage.» Im Budget sind 600 000 Franken für Gagen vorgesehen, die an über 100 Künstler verteilt werden. Dass einige mehr als andere erhalten, ist übliche Marktlogik. Schlecht sind die Gagen jedenfalls nicht, wie ein paar Rückmeldungen vermuten lassen.

«Kultur ist nicht loszulösen von allem andern, sie ist das Gesicht unserer Region», unterstreicht Ragaz die Bedeutung der Kultur an diesem Tourismus-Festival.

Das Gästival sei ein Projekt der Wirtschaftsförderung, das man möglichst breit abstützen wolle. Und hier spiele die Kultur eine wichtige Rolle, da sie nicht zuletzt auch

Das Gästival ist eine riesige Kiste: Der mehrwöchige Event soll Werbung für den Tourismus und die Gastfreundschaft machen. Wichtiges Schmier- mittel dafür ist die Kultur. Das ist schön und recht. Und kostet.

Von Pirmin Bossart

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GÄSTIVAL

touristisch attraktiv sei. «Die Seerose ist in erster Linie eine Bühne für die Kultur. Und dafür wenden wir am meisten Geld auf. Planung, Bau und Betrieb kosten rund 4,5 Millionen Franken, das ist mehr als die Hälfte des Gesamtbudgets.» Das Gesamtbudget des Festivals beläuft sich auf 8,2 Millionen Franken. Zum Vergleich:

Das Geld würde für acht Jahre Betrieb und innovative Kultur im Südpol reichen.

Öffentliche und private Gelder

Der Aufwand für das Gästival ist auch sonst beträchtlich.

Alleine Projektleitung, Projektbegleitung und Experten kosten 1,478 Millionen Franken. Stefan Ragaz relativiert den Betrag: «Es gibt Leute, die insgesamt vier Jahre lang für diesen Anlass arbeiten. Die meisten sind drei Jahre involviert, mit Pensen zwischen 40 und 80 Prozent.

Durchschnittlich entfallen auf die Projektverantwort- lichen rund 3000 Franken pro Monat, das ist bestimmt nicht überrissen.» Dazu kommen Architekten, Ingenieure und anderen Fachleute, die dafür besorgt sind, dass die Seerose einwandfrei funktioniert und richtig vertäut werden kann. Auch sie wollen ein anständiges Honorar.

Laut Ragaz ist das Gästival von der Neuen Regional- politik (NRP) des Bundes als Vorzeigeprojekt gewürdigt und entsprechend finanziert worden. «Dadurch konnten wir auch mehr private Gelder generieren.» Der private Anteil beläuft sich auf 4,4 Millionen Franken. Weitere Erträge stammen von Lizenzeinnahmen und den Ein- trittsgeldern. «Von der öffentlichen Hand stammen 36 Prozent des Gästival-Gelder. Wir haben also aus jedem öffentlichen Franken drei Franken gemacht.»

Die fünf Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden und Nidwalden sowie der Bund zahlen knapp 3 Millionen Franken an das Gästival. Wie viel davon Kulturgelder sind, kann das Gästival selber nur bedingt eruieren.

Ragaz: «Da alles über die Schiene NRP läuft, wissen wir nicht im Detail und in jedem Fall, aus welchen Kassen die Kantone die Gelder nehmen.»

Die Kantone Nidwalden und Obwalden haben nur be- schränkt und sehr gezielt Gelder aus der Kulturförderung für das Gästival gesprochen. Obwalden zahlt laut dem Kulturbeauftragten Christian Sidler aus Swisslos-Geldern 10 000 Franken für das spartenübergreifende Projekt des Obwaldner Musikers Roman Britschgi. Nidwalden gibt 6000 Franken an das Nidwaldner Carte-Blanche-Projekt

«Trachten Stans und Projekt 28». «Wir wollten nicht einfach Infrastrukturaufgaben unterstützen. Die Kul- turgelder sollen auch tatsächlich den Kulturschaffenden zugute kommen», sagt der Nidwaldner Kulturbeauftragte Stefan Zollinger.

Luzern spart nicht

Luzern, bekannt für seine kreativen Sparideen, lässt für einmal grosszügig 650 000 Franken für das wirtschafts- politische Happening der Gastfreundschaft springen. «Die

Gelder werden über die Dienststelle Raum und Wirtschaft abgewickelt und stammen aus dem Lotteriefonds», sagt Alessa Panayiotou von der Kulturförderung, um dann mit Nachdruck festzuhalten: «Die Kulturschaffenden werden aufgrund des Gästivals nicht weniger Gelder zur Verfügung haben. Das kommt aus einem andern Topf.» Und ja: Wer mit einem Kulturprojekt am Gäs- tival mitmacht, kann über die regulären Kanäle bei der Kulturförderung Kanton Luzern ein Gesuch um Unterstützung einreichen.

Nichts zu holen für kulturelle Gästival-Projekte gibt es hingegen beim Fuka-Fonds der Stadt Luzern, wie Kulturchefin Rosie Bitterli auf Anfrage sagt. «Wir haben auf ein Gesuch hin 30 000 Franken an das Gästival

bewilligt. Das ist ein Pauschalbeitrag, der konkret für die Kulturprojekte eingesetzt werden soll. Damit hat es sich.» Das Geld stammt aus dem Fonds Kultur und Sport, der von den Erträgen der Billettsteuer gespiesen wird. 2014 wurden aus diesem Fonds 2,4 Millionen Franken für den Bereich Kultur vergeben.

Neben Festivals wie World Brass, Blue Balls, Woerdz, Lucerne Blues oder Fumetto werden auch Institutionen wie Kleintheater, Südpol, Gletschergarten oder die Galerie o.T. und sic! aus diesem Kulturfonds unterstützt. Und warum das Gästival? «Weil es ein Kulturprogramm hat, das auch unterstützungswürdig ist», sagt Rosie Bitterli.

«Es bietet Vielfalt und spricht eine breite Bevölkerungs- schicht an. Daher passt es zu unserem Kulturbegriff.»

Gästival: 29. Mai bis 4. Oktober, verschiedene Orte in der Zentralschweiz. Infos: www.gaestival.ch

Eröffnung Seerose mit Kulturprogramm: SA 30. Mai, 10 Uhr, Luzern

«Die Kulturschaffenden werden aufgrund des Gästivals nicht weniger Gelder zur Verfügung haben.»

Alessa Panayiotou, Kulturförderung Kanton Luzern

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RETROSPEKTIVE

Bürgerlichkeit

Karren Der gefallen vom

Hans Schärer hätte sein Leben der Musik widmen können, hätte er denn deren Inten- sität ertragen. Er hätte seinem Vater folgen und Arzt werden können. Er hätte die École de commerce abschliessen können. Er wurde Maler. Und einer der bedeutendsten Schweizer Künstler – wenn auch ein verkannter. Das Aargauer Kunsthaus zeigt nun eine grosse Ausstellung mit zwei seiner wichtigsten Werkserien. Von Pablo Haller

Madonna mit Spiralen, 1975, 96 x 87 cm, Öl, Mörtel und Steine auf Hartfaserplatte

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Der «Stern» erklärte Hans Schärer 1990 in einem mit

«Kunst von psychisch Kranken» überschriebenen Ar- tikel für verrückt; er habe «sein ganzes Leben lang nur Blödsinn im Kopf». Die deutschen Journalisten stellten den 1927 in Bern geborenen und 1997 in St. Niklausen verstorbenen Künstler als daueralkoholisierten Wirrkopf hin. Dieses Missverständnis passierte nicht nur das eine Mal. Wer war dieser feinsinnige Querkopf, dieser hochgebildete Wilde?

Als Scheidungskind in Bern und Burgdorf aufgewach- sen, absolvierte Schärer vorerst die Handelsschule in Lausanne. Doch die Bürgerlichkeit und das vorgespurte Leben wurden ihm bald zu viel. 21-jährig verlässt er die Schweiz in Richtung Südfrankreich; 1949 trifft er in Paris ein. Er inhaliert die Gegenwartskunst, die verschiedens- ten Strömungen der Moderne und vor allem die Malerei der «École de Paris». Es sind entscheidende Impulse für seinen autodidaktischen Werdegang, für Techniken und Sujets seines frühen malerischen Werks. 1956 kehrt er in die Schweiz zurück, wo er Marion Bucher heiratet. «Wir kamen beide aus einem ziemlich bürgerlichen Milieu.

Unsere Väter waren Ärzte. Ihre Lebensvorstellungen liefen uns zuwider. Stets hiess es: Das tut man nicht, jenes tut man nicht», erinnert sich die Witfrau. Wir treffen Marion Schärer auf jenem legendären Grundstück in St. Niklausen, wo ihr Grossvater ein Sommerhaus baute

und wo sie und Hans Schärer seit 1958 im ehemaligen Gärtnerhäuschen lebten. Das Grundstück hat einen der wenigen natürlichen Sandstrände am Vierwaldstättersee.

Jahrhundertelang rasteten dort Vorbeifahrende am Ufer. Vor einigen Jahren hat die 85-Jährige für sich daneben einen leichter zugänglichen Pavillon gebaut.

Die gelernte Grafikerin und Illustratorin ist selbst noch künstlerisch aktiv, vor zwei Jahren veröffentlichte sie den Erzählband «Drei Grossmütter, zwei Märchen» – sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit.

Der wirbelnde Schlund

Irgendetwas ergreift sie, wenn sie von Hans Schärer erzählt: «Er berührte mich von Anfang an mit seinem Werk. Es war immer empfunden. Nie oberflächlich.

Auch wenn er Stillleben machte oder Landschaften.

So hat er mich erobert. Und noch mit etwas anderem:

Er hat Klavier gespielt, Brahms und Bach.» Warum er nicht Musiker wurde? Da gibt eine Notiz aus dem Jahr 1957 Aufschluss: «Mit Tönen wäre vielleicht eher zu deuten, was in mir ist. / Ist in meiner Malerei ein Sinn?

/ Sie ist wohl meine Genesung – die Musik zöge mich in den wirbelnden Schlund.»

«Mit Hans war es vom ersten bis zum letzten Tag nie langweilig. Er hat auch nie ein böses Wort zu mir gesagt; ich hoffe, ich war da genau so.» Charles Wyrsch,

RETROSPEKTIVE

Ohne Titel, 1974, 44 x 49,5 cm, Aquarell, Tusche, Gouache auf Aquarellpapier

Nach der Verleihung

des Luzerner Kunst-

preises zündete er

zur Feier sämtliche

Mülleimer zwischen

dem Lido und der

Seebrücke an.

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RETROSPEKTIVE

ein Kollege, habe ihm sehr viel über Techniken und Farben beigebracht und ihm den «Doerner» zu lesen gegeben, ein Fachbuch für Künstler. «Darauf war Hans sehr bedacht, dass es fachlich in Ordnung war, was er tat.

Er malte immer sehr gerne mit Öl, das modische Acryl mochte er nicht. In der Ölmalerei kann man Schicht auf Schicht übereinanderlegen, es wird viel reichhaltiger und durchsichtiger. Aber es braucht halt Geduld.»

Erotik und Madonnen

In Aarau werden nun in einer grossen Auswahl von etwa 230 Bildern die Werkserien der Madonnen und der erotischen Aquarelle gezeigt. Zu letzteren schrieb Marion Schärer im Vorwort des Buches «Gespenster im Leib» (Edizioni Periferia, Luzern 2008): «Die Aquarelle von Hans Schärer zeigen einen zum kleinen Wicht gewordenen Mann, der von nach wie vor wundervoll fülligen, rosaroten Damen zu einem ‹Schrecken und Entzücken› nicht nur über den Tisch gezogen wird.

Nicht als Drama stellte der Maler die Situation des Männchens dar, sondern als Tragikomödie, der er als sich amüsierender Zuschauer beiwohnte.»

Die Madonnen, mit denen Schärer Ende der 1960er- Jahre begann und die er bis etwa 1983 immer wieder variierend malte, waren schon zur Entstehungszeit viel beachtet; heute zählen sie zu den Trouvaillen der

Schweizer Kunst. Vor zwei Jahren hingen fünf von ihnen in der Themenausstellung der Biennale di Venezia. Der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wismer schreibt über sie: «Die Madonnen haben zwar archaische und arche- typische Schwestern und Vorfahrinnen, aber sie sind auch Verwandte der Salome, der Delila und der Judith, jener Femmes fatales also, die ihre auf dem sexuellen Begehren des Mannes beruhende Macht einsetzen, um ihn zu vernichten.»

Die Inspiration zum Motiv ereilte ihn in Italien.

Marion Schärer erinnert sich: «Wir machten Urlaub in Venedig. Da haben wir auch die Insel Torcello besucht, damals ein wunderbarer, abgelegener Ort. Dort steht eine Basilika, mit einer irrsinnigen Madonna in einer runden Kuppel. Sie hatte eine unglaubliche Präsenz.

Nach diesem Erlebnis begann Hans, Madonnen zu malen. Erst nur Umrisse, dann immer ausgearbeiteter.»

Kinder in Schubladen

Hans Schärer war ein Familienmensch, obwohl oder gerade weil er ein Scheidungskind war. «Nach der Ge- burt des ersten Sohnes Niklaus sind wir vom Luzerner Mühlenplatz nach St. Niklausen gezogen. Kurz darauf kamen noch drei Söhne, Theo, Stephan und Felix. Im Gartenhäuschen hatte es nur zwei bewohnbare Zimmer, unsere Kinder sind auf engstem Raum aufgewachsen und schliefen in Doppelbetten. Als Max von Moos einmal zu Besuch kam, rief er entsetzt: ‹Ihr habt ja eure Kinder in Schubladen!›»

1956 zitierte ein Zeitungsartikel den Paris-Heim- kehrer, er habe noch nie ein Bild verkauft. Zwei Jahre später läuft es schliesslich besser: Hans erhält den An- erkennungspreis der Stadt Luzern, das Kiefer-Hablitzel- Stipendium, das eidgenössische Stipendium und kann in der Galerie an der Reuss bei Sepp und Erica Ebinger ausstellen. Doch als seine Landschaften plötzlich gut ankommen, hört er auf, sie zu malen. Er wollte stetig experimentieren, etwas Neues machen. Seine Sujets und malerischen Interessen wechselten mehrmals, ohne dass er jedoch seine unverwechselbare malerische Handschrift und seine ureigene Art, Geschichten über das Leben der Menschen zu erzählen, aufs Spiel setzte.

Fehlende Anerkennung

«Was mich gequält hat, und ihn wohl auch, war, dass man ihn bei Gruppenausstellungen oftmals aussen vor liess», stellt Marion Schärer fest. «Wahrscheinlich, weil er bereits so weit auf seinem eigenen Pfad war. In den 1970er-Jahren unter Direktor Jean-Christophe Ammann war er im Luzerner Kunstmuseum noch gut vertreten.

Nach der Retrospektive im Kunsthaus Aarau 1982 hatte Hans aber nur noch wenige Einzelausstellungen in Museen, nur noch in Galerien.»

Theo Schärer, der zweitälteste Sohn, selbst Künstler und ehemaliger Galerist (Trip-Galerie, Marinemuseum

Madonna 6, 1973, 98 x 86 cm, Öl, Steine und Nägel auf Hartfaserplatte

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RETROSPEKTIVE

Luzern) ist ebenfalls zugegen und fügt an: «Ich hatte immer das Gefühl, sie hatten Angst vor ihm. Als Künstler war er ein Übermensch. Alle sahen, dass er stärker war als die anderen. Ein einsamer Planet. Aber ein absolut geselliger Mensch. Sehr intelligent und sehr belesen. Die Philosophie interessierte ihn stark. Und Autoren wie Jung und Canetti.» Wenn der grosse Ruhm zu Lebzeiten auch ausblieb, so erarbeitete Hans Schärer sich als Einzelgänger fernab der Trends des Kunstmarktes durch sein nie eingefahrenes, ständig überraschend bleibendes Werk und durch engagierte Galeristen und leidenschaftliche Sammler dennoch einen ausserordentlichen Ruf in der nationalen Kunstlandschaft, und wurde gelegentlich auch international gezeigt.

Feingeistiger Bürgerschreck

Hans Schärer lebte immer in der Gegenwart, habe aber nie damit geprahlt. Der Diskurs über den Menschen in der Jetztzeit steckte so sehr in seinen Bildern, dass dies vielleicht einer der Gründe war, warum die Leute sich gefürchtet haben. Es gab aber keinen Anlass dazu.

Gut, Bürgerschreck sei er schon gerne gewesen, lacht Marion Schärer.

«Da gab es dieses frühe Interview in der ‹Annabel- le›. Die Chefredaktorin kam vorbei und schrieb über ihn und die Familie. Die antiautoritäre Erziehung war damals noch kein Schlagwort, aber wir haben sie in- tuitiv gemacht. Diese demonstrative Überlegenheit von Erwachsenen lehnten wir ab. Das haben nicht alle Lehrer gleich gut vertragen, deshalb mussten unsere Kinder in der Schule oft unten durch. So gab ihnen Hans, um sie aufzumuntern, bei schlechten Noten Geld. Und das hat er genussvoll der ‹Annabelle› erzählt, wo dann stand:

‹Ich gebe meinen Kindern für jede schlechte Note einen Fünfliber!› Das sorgte schon für einiges Aufsehen.»

Theo übernimmt: «Einmal schauten wir Fernsehen, die ganze Familie versammelt in seinem Atelier. Alt- bundesrat Ogi hielt eine Rede, wie man energiesparend Eier koche. Da stand Hans auf, holte den grössten Topf, füllte ihn mit eiskaltem Wasser, setzte ihn aufs Feuer und machte sich ein einzelnes Ei.» Überhaupt: Sein grosser Traum sei ein amerikanischer Wagen gewesen. Einer, der möglichst viel Sprit söffe und stets eine Panne hätte, um Staus zu verursachen. «Er hasste den Verkehr. Das war für ihn ein tägliches Ärgernis.»

Die Anekdoten scheinen endlos: Einmal ging der Künstler in der Majorsuniform seines Vaters und mit einer Gummimaske im Gesicht zur Fasnacht. Als ihn eine gutbürgerliche Frau anherrschte, er solle nach Hause gehen und etwas Anständiges anziehen, fragte er zurück: «Ist dieses Gewand etwa nicht anständig?» Sehr viel später machte er in Zürich eine Eintagesausstellung mit Porträts von Uniformierten und stellte die Werke am Abend zur «ersten Schweizer Offiziersverbrennung» ins Feuer. Im Jahr der Umwelt machte er ein 1.-August-Feuer

nur aus Gummireifen, und als er einmal nachts an der damaligen Polizeiwache bei der Kornschütte vorbeikam, rannte er wie vom Affen gebissen an den Beamten vorbei die Rathaustreppe runter und schrie: «Ich bin unschuldig!» Und am Abend nach der Verleihung des Luzerner Kunstpreises zündete er zur Feier sämtliche Mülleimer zwischen dem Lido und der Seebrücke an.

Bei der Arbeit aber war Hans Schärer diszipliniert.

Da konnte in der Nacht davor gewesen sein, was wollte, er war um 8 Uhr in seinem Atelier und malte, zeichnete und aquarellierte. Oftmals von Besuch umgeben, aber immer am Werk. Es kamen nicht nur viele treue und langjährige Freunde und Künstlerkollegen, sondern oftmals auch anstrengende Gäste. «Tagediebe und Säu- fer», wie Marion lachend sagt. Viele seiner Motive sind auch aus diesen Situationen heraus entstanden. «Ich bin froh, dass die Anstrengenden verschwunden sind, als er gestorben ist», sagt sie. « Sie haben sich einen Neuen gesucht. Hans hat sich sehr um diese Leute gekümmert;

er war ein sozialer Faktor für die Gestrandeten. Er, der Verrückte zuhauf anzog, war eine Vaterfigur für sie.»

Sein Urgrossvater, ein Psychiater, war einst Leiter der psychiatrischen Klinik Waldau gewesen. Und Hans Schärer hat man, aufgrund seiner Aufgeklärtheit und

Hamlet, 1986, 70 x 50 cm, Öl auf festem Papier

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der ehrlichen Weltbetrachtung seines in die Nähe der Art brut gestellten Werks, allzu oft selbst für verrückt erklären wollen.

Der Krebs, der Tod, die malade Welt

Ja, das Sterben. Der Krebs. Es war die Niere, nicht die Leber, wie man hätte annehmen können. Marion erinnert sich: «Er wurde immer dünner. Erst dachte ich, prima! Dann ging er zum Arzt. Er trug das mit Würde, hat nie gejammert.» Sein Verhältnis zur Religion, über das auch aufgrund der Madonnen immer wieder spekuliert wird, ist nicht ganz klar. «Auf jeden Fall war er ein eingefleischter Pfaffenhasser», wirft Theo Schärer ein. «Aber das hat nichts mit Glauben zu tun.»

Er habe grossen Respekt vor der Schöpfung gehabt, mit ihrer ganzen Zwiespältigkeit. Auch mit all dem, was ihn traurig machte.

«Wenn ich an diesen Gott glauben müsste, würde ich ihm alle Schande sagen, weil er es so eingerichtet hat, dass jeder jeden fressen und jeder jedem auf die Nase geben muss. Ich denke, er hatte da eine ähnliche Haltung», so Marion Schärer. Er war ein Mensch, der die Menschen liebte, aber an der Welt verzweifelte. An dem, was sich die Menschen gegenseitig antun. Theo

Schärer: «Ich denke schon, dass er im Alter erdrückt wurde von dieser maladen Welt. Er wusste genau, wer er war und was er machte, und dass er die Akzeptanz nicht kriegte, nervte ihn – und auch die Verluderung der Welt.»

Bleibt zu hoffen, dass zumindest Ersteres bei der Ausstellung in Aarau wieder ins rechte Licht gerückt werden kann. Das Aargauer Kunsthaus hat Hans Schä- rers Werk schon seit der Retrospektive 1982 engagiert gewürdigt. Ein Teil der Werke wird im Anschluss, ab dem 18. November, im prominenten Swiss Institute in New York gezeigt. Und noch in diesem Frühjahr publizieren die Erben Hans Schärers das offizielle Werkverzeichnis als Online-Datenbank, ein privat initiiertes Dokumen- tationsprojekt, das nach mehrjähriger Arbeit vorerst etwa 3000 Werke Hans Schärers vereint und Grundlage zukünftiger Forschung sein wird.

Hans Schärer: Madonnen & Erotische Aquarelle.

FR 1. Mai bis SO 2. August, Aargauer Kunsthaus, Aarau. Vernissage: DO 30. April, 18 Uhr.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalogbuch in der Edizioni Periferia, Luzern.

Ohne Titel, 1976, 49,5 x 41,7 cm, Aquarell, Tusche und Gouache auf Aquarellpapier

Ohne Titel, 1985, 70 x 100 cm, Öl und Gouache auf Karton

RETROSPEKTIVE

Bilder: © Erben Werk Hans Schärer / ProLitteris, Zürich 2015

Als Max von Moos einmal

zu Besuch kam, rief er entsetzt: «Ihr

habt ja eure Kinder in Schubladen!»

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FOODWASTE

Was ist schlimmer: Noch essbare Nahrungsmittel weg- zuwerfen oder das fortgeworfene Essen zu stehlen? Für A.S.* ist der Fall klar. Wenn er sich nachts den Rucksack auf den Rücken schnallt, die Stirnlampe umbindet und sich auf sein Fahrrad schwingt, dann fühlt er sich nicht wie jemand, der gleich das Gesetz brechen wird. Er gehört einer wachsenden Szene an, die sich gegen Foodwasting einsetzt und die Container von Lebensmittelläden nach noch essbaren Produkten durchforstet. «Moralisch habe ich dabei überhaupt kein schlechtes Gewissen», sagt er.

Es handle sich schliesslich um ungewollte Ware, die sogar noch Kosten und Aufwand bei der Entsorgung verursache, begründet er. Vor rund 15 Monaten begann er mit dem sogenannten Containern. Wie kam es dazu? «Meine persön- liche Auseinandersetzung mit unserer Wegwerfgesellschaft hat mich dazu motiviert.» Er traf Leute, die schon länger containern, sie nahmen ihn mit.

Wer sich die Suche nach weggeworfenen Lebensmitteln nun als abenteuerliche Nacht- und Nebelaktion vorstellt, wird von A.S.’ Schilderung enttäuscht sein. «Es ist nicht sehr spektakulär.» Zum Container fahren, Lampe ein- schalten, Augen nach noch Geniessbarem offen halten, die Beute in einem Plastiksack im Rucksack verstauen

und weiterziehen. Diese Routine will jedoch geübt sein.

«Die ersten paar Male war ich schon nervös, das muss ich zugeben.» Viel interessanter sei aber sowieso das, was nach dem Containern komme. Das Sortieren, Waschen, Zubereiten der «geretteten» Lebensmittel – und natürlich das Wichtigste, das Essen.

Exotische Früchte und Gratisbier

Wo finden sich denn in der Stadt Luzern die besten Con- tainer? Wo stehen die Chancen am besten, mit vollem Rucksack nach Hause zu kommen? So konkret will A.S. die Frage nicht beantworten. «Jede Person, die containert, hat ihren Favoriten.» Leer würde man jedoch selten ausgehen.

«Es gibt in jedem Quartier der Stadt Läden – alle werfen sie Lebensmittel in den Müll. Manche mehr, manche weniger.» Wie sieht es denn im Innern solcher Container aus? Das sei unterschiedlich, sagt A.S. Viele Läden hätten gesonderte Obst- und Gemüsecontainer. «Da sieht es dann aus wie auf dem Kompost.» Dennoch gebe es zwischen Vergammeltem auch oft viel Geniessbares zu finden. Andere Container seien voller Mülltüten, in denen verschiedenste Dinge zu finden seien. Die Grenzen zwischen essbar und ungeniessbar lege jede Person selber fest.

Containern, dumpstern, mülltauchen, Essen «retten»: Auch in Luzern weh- ren sich immer mehr junge Leute gegen Lebensmittelverschwendung. Ihre Methoden sind unterschiedlich – auch was die gesetzliche Lage betrifft.

Von Martin Erdmann

«Verdammt,

warum leben wir so?»

*Name der Redaktion bekannt

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ist man wachsam. Mediensprecher Philippe Vetterli: «Wir beobachten die Situation der Containering-Bewegung.

Entsprechende Massnahmen werden situationsbedingt und filialweise ergriffen.»

«Angst vor Umsatzverlust»

Wer etwas gegen Lebensmittelverschwendung machen will, muss nicht zwangsläufig das Gesetz brechen. Im Neubad steht seit letztem Monat im Bistrobereich der Kühlschrank des Projekts «Food-Save Luzern» des Vereins Neugarten. Darin befinden sich «gerettete Lebensmittel», wie es Vereinsmitglied Marcel Kofler nennt. «Wir holen in Läden Gemüse und Obst ab, das nicht mehr verkauft wird, weil es nicht mehr den Qualitätsmerkmalen entspricht», sagt Kofler. Dieses landet dann sortiert und gesäubert im Kühlschrank und kann gratis abgeholt werden. «Es dürfen sich alle bedienen, unabhängig von sozialem Status, Herkunft, Job oder Geschlecht.» Es handle sich nicht um ein Projekt für Bedürftige, sondern soll eine Diskussion anstossen, das «Unvermeidbare zu vermeiden».

Das Projekt steckt noch in der Startphase und diese ist nicht einfach. «Wir haben bisher leider nur einen Liefe- ranten gefunden.» Die Suche sei schwierig, gerade bei den Grossisten werde man stets abgewiesen. «Die haben Angst vor Umsatzverlusten», sagt Kofler. «Vielleicht fürchten sie sich auch vor Imageschaden, wenn herauskommt, wie viele Lebensmittel sie wegwerfen», fügt er an.

Ist es denn hygienisch, einen Kühlschrank mit Waren, die nicht mehr ganz taufrisch sind, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Kofler hat keine Bedenken. Man habe in Zusammenarbeit mit dem Luzerner Amt für Le- bensmittelkontrolle ein Konzept zur Einhaltung des Le- bensmittelgesetzes erarbeitet. «Durch die tägliche Kontrolle der Lebensmittel und der Reinigung des Kühlschrankes minimieren wir die Risiken.» Und was passiert mit Ware, die selbst im «Foodsave»-Kühlschrank liegen bleibt? «Werden Waren schimmlig, landen sie auf dem Neugarten-Kompost», sagt Kofler. Dieser dünge dann wieder die Neugarten-Beete.

«Damit schliesst sich der Kreislauf – zumindest im ganz Kleinen.»

«Verdammt, warum leben wir so?», fragt sich A.S.

jeweils, wenn er unbeschädigte Esswaren aus dem Müll zieht. «Das ist eben die Kehrseite des Wohlstands.» Etwas Gutes kann er der Wegwerfgesellschaft trotzdem abge- winnen. «Oft freue ich mich über exotische Früchte, die ich mir aufgrund ihrer Herkunft und Anbauweise nicht kaufen würde.» Diese stehen aber auf seiner Highlight- Liste nicht zuoberst. Denn das Beste, was er je aus einem Container gefischt hat, ist weit weniger exotisch: «Nicht abgelaufenes Bier.»

Das Containern könne das Einkaufen nicht ersetzen, sagt A.S. Grund: «Vieles ist eher selten zu finden, Teigwa- ren zum Beispiel oder Salatöl.» Das sei aber nicht weiter schlimm, schliesslich gehe er nicht nur containern, um sich gratis ernähren zu können. «Ich sehe es eher als Lebensmittelrettung und Konsumkritik.»

Die Angst, erwischt zu werden, kennt A.S. nicht. Im Gegenteil: «Eine Konfrontation würde ziemlich sicher eine Debatte auslösen, die das Thema noch weiter vorantreiben würde.» Dass darüber gesprochen wird, sei bitter nötig:

«Lebensmittelverschwendung ist ein Tabu-Thema.» So würden praktisch alle Ladenbetreiber nicht zugeben, dass auch bei ihnen noch geniessbare Lebensmittel im Müll landen.

Migros greift durch

Ein moralisch intaktes Wertesystem befreit allerdings noch lange nicht von den gesetzlichen Vorschriften. Con- tainern kann ein böses Nachspiel haben. Urs Wigger von der Luzerner Polizei erklärt: «Mögliche Straftaten sind sogenannte Antragsdelikte wie Hausfriedensbruch, ge- ringfügiger Diebstahl oder Sachbeschädigung.» Das heisst, dass die Polizei erst Ermittlungen aufnimmt, wenn der Geschädigte einen Strafantrag unterzeichnet. Solche seien bei der Luzerner Polizei in Bezug auf Containern noch nicht ins Haus geflattert.

Obwohl die Containerer noch nicht auf dem Radar der Luzerner Polizei aufgetaucht sind, können sie sich nicht in Sicherheit wiegen. Denn gerade Grossverteiler verste- hen keinen Spass, wenn es um ihre Abfallbehälter geht.

Die Migros findet die deutlichsten Worte: «Wer erwischt wird, wird angezeigt», sagt Mediensprecherin Monika Weibel. «Solche Personen betreten nachts Privatgelände und verschaffen sich gewaltsam Zugang zu Waren, die ihnen nicht gehören.» Lebensmittel aus Containern zu stehlen sei nicht nur verboten, sondern auch gefährlich, so Weibel. «Dort finden sich zum Beispiel auch Waren, die zurückgerufen wurden und für den Konsumenten gesundheitsgefährdend sein können.» Deshalb seien die Container der Migros immer abgeschlossen. Bei Coop sei man vom Containerer-Phänomen nicht betroffen. «Das ist bei uns kein Thema», sagt Mediensprecherin Nadja Ruch.

«Unsere Container befinden sich in der Regel innerhalb der Gebäude oder innerhalb eines bestimmten Gebietes, das nach Ladenschluss nicht zugänglich ist.» Bei Aldi hingegen

FOODWASTE

«Die haben Angst vor

Umsatzverlusten.»

Marcel Kofler, Verein Neugarten

Mit Weggeworfenem und Grünabfall lässt sich Gutes kochen: Siehe Seite 25

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Die in Dresden lebende Schweizer Künstlerin Isabelle Krieg kreiert Kunst aus eigenwilligen Materialien, beispielsweise den Resten der Sauce einer aufgegessenen Currywurst oder was von einem Kaffee in der Tasse übrig bleibt. Wie kann ein solches Kunstwerk auch in zehn Jahren noch betrachtet werden, ohne dass es schimmelt oder stinkt? Oder frühe Videokunst auf VHS-Kassetten, einst präsentiert auf Röhrenfernsehern, wie sie heute im Sperrgut landen. Wie wird gewährleistet, dass die Videobänder nicht mit der Zeit zerbröseln bzw. die benötigten Abspielgeräte überall entsorgt sein werden?

Um solche Probleme kümmern sich Konservatoren und Restau- ratoren. Ihre Aufgabe ist es, Kunst und Kulturgütern ein möglichst langes, unbeschädigtes Überdauern zu sichern, egal ob Ölgemälde, Skulpturen, Textilien, Grafiken, Fotografien, Bücher, audiovisuell basierte Medien, Kunststoffobjekte oder schützenswerte Gebäu- de inklusive Inventar. Erlernen lassen sich die entsprechenden Kompetenzen im Swiss Conservation-Restoration Campus (Swiss CRC), an dem vier Institutionen in den Kantonen Bern, Tessin und Neuenburg beteiligt sind und der derzeit von über 150 Bachelor- und Masterstudierenden besucht wird.

Minidisc und VHS

Andreas Buder leitet die Bachelorausbildung an der Hochschule der Künste Bern. Er erklärt den Leitspruch «Keine Zukunft ohne Vergangenheit» der Ausbildung: «Das ist ein hochrelevanter Beruf, wir kümmern uns um die Bewahrung von Kunst und Kulturgütern für künftige Generationen.» Dass die Abgänger des Studiengangs gefragt sind, zeige eine Umfrage unter den Alumni von 2014: «Alle können in ihrem Beruf arbeiten.» Auch der Hochschule geht die Arbeit nicht aus. Buder erklärt: «Wir übernehmen Konservierungs- aufträge von Institutionen oder Privatpersonen und integrieren sie in die Ausbildung, sodass sich Theorie und Praxis die Waage halten.» Die persönliche Spezialisierung findet in einer von acht Vertiefungsrichtungen statt. Eine davon sind moderne Materialien und Medien. Für letztere unterhält die Hochschule eine Sammlung von Referenzgeräten, also VHS-Player, S/W-Röhrenfernseher, Minidisc-Geräte usw. «Diverse Medienkunst kann originalgetreu nur mit diesem Equipment gezeigt werden. Für Ausstellungen stellen wir diese Geräte mit entsprechendem Support zur Verfügung.»

Düfte festhalten

Wie aber geht man nun konkret vor, wenn statt Öl auf Leinwand eben Curry-Ketchup auf Pappe konserviert werden soll? Als Erstes müsse man als Konservator das Kunstobjekt an sich begreifen, erklärt Buder, also die Intention dahinter, seine Geschichte und Aussage.

Und auch das Material: Aus was besteht Ketchup? Mit welchem Kunststoff ist die Pappe beschichtet? Sehr wichtig sei auch, den Ist-Zustand des Objekts zu dokumentieren, an dem man sich künftig orientieren kann. Dann müsse man sich fragen: Was ist mit dem Objekt in fünf Jahren? Kann das Ketchup abblättern? Verblassen?

Diese Möglichkeiten untersucht man zum Beispiel mittels Vergleichen mit ähnlichen Werken oder durch Simulationen der Alterung an Dummys. Daraus folgt ein individuelles Konzept. «Es gibt nie ein Standardrezept, an das man sich halten kann, denn jedes Werk ist anders», sagt Buder. Ziel eines solchen Konzepts könnten präventive Massnahmen sein, die zur Erhaltung des Objekts beitrügen, z. B.

eine Lagerung bei optimaler Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit.

Oder man könne präventiv eingreifen und die Formulierung der Nahrungsmittel vor der Entstehung des Kunstwerkes so verändern, dass der alterungsbedingte Zerfall verlangsamt wird.

Neben Objekten aus der Eat-Art, die von den Wein-Bildern eines Dieter Roth bis zu Butterskulpturen reichen können, sind olfaktorische Werke, also Düfte, eine aktuelle Herausforderung der Konservatoren. Hier sind Studierende daran, eine geeignete Sprache zur Charakterisierung von Düften im Zusammenhang mit einem Kunstwerk zu prüfen. Vom menschlichen Geruchssinn ausgehend, werden Fachtermini aus der Lebensmitteltechnologie verwendet, die Düfte und Texturen von riechenden Gegenständen beschreiben können, damit sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut im gleichen Setting wieder gezeigt werden können. Solange also den Kunstschaffenden die Ideen nicht ausgehen, fehlt es den Kon- servatoren auch nicht an Herausforderungen.

Mario Stübi

Wie bleibt die Currywurst auch als Kunstobjekt geniessbar?

Kunst zu sammeln ist nicht schwer, sie zu konservieren aber manchmal sehr – vor allem, wenn sie organisch ist, dem technischen Fortschritt zuwiderläuft oder sich unmittelbar zu verflüchtigen droht. Wie man sie haltbar macht, lehrt ein interkantonaler Studiengang.

WISSENSCHAFT

Infos zum Swiss Conservation-Restoration Campus: swiss-crc.ch

Doktor der Künste werden

In Bern kann man neu in Kunst doktorieren. Ein transdisziplinäres Programm bringt Kunst und Wissenschaft zusammen und ermöglicht Kunsthochschul- absolvierenden erstmals, künstlerisch/gestalterisch-wissenschaftlich zu promovieren. Nach einer Pilotphase hat man beschlossen, das 2011 begon- nene Modell definitiv weiterzuführen. 26 Doktorierende aus Design, Tanz, Konservierung oder Musik sind derzeit in diesem Promotionsprogramm eingeschrieben. Die einen bringen mehr künstlerisch-gestalterische Erfah- rung mit, die anderen mehr methodisches Wissen und Schreibroutine. Für Fachhochschulabsolventen erfolgt der Zugang zum dreijährigen Doktorat durch einen vorgelagerten speziellen Masterstudiengang an der Universität.

Dort können sie ihre Defizite im wissenschaftlich-methodischen Bereich wettmachen. Weitere Informationen: www.gsa.unibe.ch

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ANIMATION

Auch die Schweiz präsentiert sich der Welt an der Expo in Mailand. Für ihren Pavillon haben zwei Luzerner Animationsfilmer 16 Trickfilm-Porträts produziert.

Swissness, made in Lucerne

In den Medien ist die Weltausstellung in Mailand auch kurz vor der Eröffnung erstaunlicherweise nicht allzu präsent. Berichtet wurde hauptsächlich von Bauverzögerungen, dubiosen Komplikationen

«anderer» Pavillons, der damit verbundenen Baukosmetik und von enthusiastischen Reden des Ministerpräsidenten Renzi. Doch davon bekamen die zwei Animationsfilmer Claudia Röthlin (30) und Yves Gutjahr (35) nicht viel mit – zu sehr waren sie mit dem gewonnenen Auftrag für den Schweizer Pavillon beschäftigt. Noch Ende April gaben sie ihrer Grossleistung den letzten Schliff: In knapp acht Monaten schufen sie 16 Trickfilm-Kurzporträts, die Menschen und ihre Tätigkeiten in den Bereichen Nachhaltigkeit, Innovation, Tradition und Technologie beleuchten. Denn der rote Faden durch die gesamte Weltausstellung ist mit «Feeding the Planet, Energy for Life betitelt». Die Trickfilme sind auf das ganze Pavillongelände verteilt und hauchen diesem – neben mit Wasser, Kaffee, Salz und Apfelringen gefüllten (Konsum-)Türmen – auf charmante Weise eine (Schweizer) Seele ein.

Interviews und Fotoporträts als Basis

Zur Recherche reisten die beiden Animatoren durch die ganze Schweiz, etwa zu den Salzsalinen im waadtländischen Bex, zu Geissenzüchtern an idyllischen Tessiner Hängen, nach Chur zur Foodwaste-Institution Tischlein deck dich, oder nach Basel in die Pflanzensamen-Bibliothek von ProSpecieRara. Wem die englische Serie Creature Comforts (1989, 2003–2007) von Aardman Animations bekannt ist, weiss um das Humor-Potenzial, das die Zusammen- führung real aufgenommener Stimmen und kreierter Trickfilmfi- guren bergen kann. Es ist diese Note Sympathie, welche die rund einminütigen Porträts versprühen: Die kleine Giulia putzt sich im Waschzuber und erzählt verträumt von den vielen Tieren, die sie auf dem Bauernhof mit ihrer Schulklasse traf, Käsermeister Meier sitzt gleich selbst auf dem Käselaib und sinniert, was denn einen Emmentaler ausmacht – es sei natürlich der nussige Geschmack und die Löcher – und UrbanFarmer Operations Manager Aleix erklärt im quitschgelben Nordwester das komplizierte Aquaponic-System auf kurze, logische Weise: Wir füttern die Fische, die Fische füttern die Pflanzen, die Pflanzen füttern uns!

Die Vielfalt der Charaktere sei eine wundervolle Spielwiese gewesen, auf der sie sich, en masse produzierend, richtig austoben konnten. Da Authentizität an oberster Stelle des Auftrags stand, ist nun ein dokumentarischer Trickfilmblick auf die Schweiz mit viel Liebe zum Detail entstanden.

Seit fünf Jahren arbeiten Röthlin und Gutjahr vollberuflich an gemeinsamen Projekten im In- und Ausland. Letzten Herbst gründeten sie die Tiny Giant GmbH; denn sie arbeiten mit kleinen

Figuren, die im Endprodukt gross erscheinen – so ihre Erklärung des Namens. Gigantisch war im Expo-Projekt doch die Mitarbeiter- Maschinerie: Rund 30 Leute unterstützten die beiden, dies reicht vom Kameramann zur rätoromanischen Übersetzerin über den Postproduktions-Stab bis zum Ton- und Filmschnitt. Ja, hier wurde kein Aufwand gescheut, kleine Helden gross rauszubringen.

Lea Hunziker

Repräsentieren die Schweiz an der Expo: Die Trickfiguren von Claudia Röthlin und Yves Gutjahr. Bilder: zvg

EXPO Mailand: 1. Mai bis 31. Oktober Die Filme werden gestaffelt aufgeladen auf:

www.padiglionesvizzero.ch

Auch zu sehen auf: www.tinygiant.ch

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KULTURZUKÜNFTE

Früher war alles besser. Interessierte man sich für Kultur, dann las man das Feuilleton der NZZ oder der FAZ und wusste, welche Literatur besprechungswürdig, welche The- aterstücke und Ausstellungen sehenswert, welche Konzerte hörenswert waren. Man wusste also, was Kultur war und wo man sie finden konnte, wohin man gehen muss- te, wenn man Kultur wollte. Dann wurde es schwieriger: Das Feuilleton wuchs, die Themen und die Medien wurden breiter, die besprochenen Ereignisse und Produkte zahlreicher, die Locations ebenso; die Krite- rien dessen, was ins Feuilleton gehört, un- durchschaubar. Es traten auf/ein: der Film, das Radio, das Fernsehen, das Jazzkonzert, das Pop- und Rockkonzert, die Pop-Up- Galerie, der Poetry Slam, zahllose Magazine und Zeitschriften, Podcasts, Musikvideos, Comics, Games, die Festivalitis, die Lounge, der Rave, Websites, Blogs, Mehrsparten- grossinstitutionen, Kleinst- und Nischen- events – es will und will kein Ende nehmen.

Aber: Früher war auch das Reden über das

«Früher» besser. Denn die vermeintliche Klarheit und Einheit der Kultur, ihrer Formate, Orte, Darbietungsformen und Verständnisse war «früher» keineswegs eindeutiger. Immerhin gab es in den Künsten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Avantgarde(n), das Phänomen einer sich als

Das Kunstwerk der Zukunft

Vorreiter einer neuen Entwicklung verste- henden kleinen Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die gerne provozierten und oft mit einem beachtlichen Theorie- Rucksack unterwegs waren. Diese sorgten für Verunsicherung, provozierten Gelächter, Erstaunen oder schroffe Ablehnung. Einlass ins Feuilleton fanden sie anfänglich nur unter dem Etikett des Kurios-Abseitigen.

Schaut man historisch noch ein paar Jahr- zehnte weiter zurück, rückt das folgende Zitat von Richard Wagner in seinem 1850 erschienenen Buch «Das Kunstwerk der Zukunft» in den Blick: «Der künstlerische Mensch kann sich nur in der Vereinigung aller Kunstarten zum gemeinsamen Kunst- werke vollkommen genügen: In jeder Ver- einzelung seiner künstlerischen Fähigkeiten ist er unfrei, nicht vollständig das, was er sein kann; wogegen er im gemeinsamen Kunstwerke frei, und vollständig das ist, was er sein kann.» Das Werk markierte den Ausgangspunkt eines Diskurses über neue Kunstformen, neue Formen der Produktion und des Konsums von Kultur.

Wagner selbst verlieh seiner Innovation des einen allumfassenden Kunstwerks den Namen «Gesamtkunstwerk».

Dieses Konzept wird heuer 165 Jahre alt.

Und es hat viele Anhänger gefunden:

1882 begann in Barcelona der Bau der Sagrada Família, 1900 wurde der Monte Verità in Ascona gegründet, 1913 wurde der Grundstein des ersten Goetheanums in Dornach gelegt, und 1923 begann Kurt Schwitters in Stuttgart seinen Merzbau zu errichten. 1983, zum 100. Todesjahr von Richard Wagner, dokumentierte Harald Szeemann in seiner Ausstellung «Der Hang zum Gesamtkunstwerk» im Kunsthaus Zürich all diese und weitere Ansätze.

So unterschiedlich sie auch sein mögen, Szeemann verstand sie als Gesamtkunst- werke. Was zeichnet sie aus? Noch einmal Wagner: «Das grosse Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermassen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzweckes aller, nämlich der un- bedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses grosse Gesamtkunstwerk erkennt er (der menschliche Geist) nicht als die willkürlich mögliche Tat des Einzelnen, sondern als das notwendig denkbare gemeinsame Werk des Menschen der Zukunft.»

Das Ideal des Gesamtkunstwerks vereinigt also nicht nur alle Kunstgattungen in sich, es ist darüber hinaus ein kollektives Werk und es hat ein Ziel: die Verwirklichung Von Basil Rogger

Richard Wagner entwickelte 1850 die Idee des Gesamtkunstwerks, die bis heute nachwirkt. Revolutionär ist sie noch immer – trotzdem muss gefragt werden:

Welches sind die Kulturformate von morgen?

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