Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ
Das Auftreten von Krampfanfällen bei Kindern stellt eine der häufig- sten Notfallsituationen dar, mit der sich der Arzt konfrontiert sieht und in der von ihm umsichtiges und zielstrebiges Handeln erwartet wird.
Dieses Handeln muß darauf gerich- tet sein, den aufgetretenen Krampf- anfall so rasch wie möglich und so wirkungsvoll wie möglich zu un- terbrechen und ein Rezidivieren des Anfalls zu verhindern. Wenn auch die primäre Letalität eines isolierten großen Anfalls sehr ge- ring ist, so verschlechtert sich doch die Prognose mit der Dauer des Anfalls. Dies gilt ganz beson- ders für den Grand-mal-Status, das heißt für das gehäufte Nacheinan- derauftreten von großen Anfällen, ohne daß das Kind in den Interval- len zwischen den Anfällen das vol- le Bewußtsein wiedererlangt. Je länger ein Grand-mal- oder Hemi- grand-mal-Status andauert, umso schlechter wird die Prognose; das gilt besonders im Hinblick auf die Letalität. Sie steigt mit der Dauer des Status epilepticus, wobei es neben einer Zunahme der Todes- fälle im Anfall vor allem zu einer Häufung von Todesfällen nach Un- terbrechung eines Status epilepti- cus kommt. Hält ein Grand-mal- oder Hemigrand-mal-Status über sechs Stunden an, so steigt — wie Heintel zeigen konnte — die Le- talität auf nahezu 20 Prozent.
Es sind also vor allen Dingen Grand-mal- und Hemigrand-mal- Staten, die bei Kindern eine echte Notfallsituation darstellen und als lebensbedrohlich anzusehen sind.
Da man von keinem großen Anfall weiß, ob er in einen Status überge- hen wird, erfordert jeder länger als fünf bis zehn Minuten anhaltende große oder Halbseitenanfall eine rasche und energische Behand- lung.
Die Art des therapeutischen Vorge- hens hängt bis zu einem gewissen Grad von der Ätiologie der Krampf- anfälle ab. In der Regel läßt sich jedoch eine ätiologische Diagnose in der Kürze der Zeit bis zur Fest- legung des therapeutischen Vorge- hens kaum treffen, so daß nach an- deren Kriterien für die Wahl der therapeutischen Maßnahmen ge- sucht werden muß. Erleichternd kommt uns bei Kindern die Alters- abhängigkeit bestimmter Anfallsfor- men zu Hilfe.
So sind von vornherein die Anfälle in der Neugeborenenperiode an- ders zu beurteilen als die großen Anfälle im Kleinkindes- oder Schul- alter; während in der Neugebore- nenperiode beim therapeutischen Vorgehen berücksichtigt werden muß, daß ein Großteil der Anfälle durch Stoffwechselstörungen wie Hypoglykämien und Hypokalzämien hervorgerufen werden, ist es im Kleinkindes- und Schulalter für die
Das Auftreten von Krampfan- fällen bei Kindern stellt eine der häufigsten Notfallsituatio- nen dar, die es durch ra- sches Handeln zu beherr- schen gilt. Die Behandlung des einfachen Grand-mal-An- falles kann zu Hause erfol- gen, ein epileptischer Status sollte immer in eine Klinik eingewiesen werden, um die auch heute noch hohe Letali- tät weiter zu senken. Bei der Behandlung sollten bestimm- te Richtlinien sowohl in der Ergreifung allgemeiner Maß- nahmen wie auch bei der Wahl und Dosierung der anti- konvulsiven Medikamente beachtet werden.
im Augenblick zu ergreifenden the- rapeutischen Maßnahmen von un- tergeordneter Bedeutung, ob es sich um einen der häufigen Fieber- kämpfe, um einen Anfall bei einer entzündlichen Erkrankung des Ge- hirnes oder um einen echten epi- leptischen Anfall handelt. In allen drei Fällen werden wir die gleiche Sofortbehandlung durchführen.
Treffen wir ein Kind jenseits der Neugeborenenperiode im großen Anfall an, so sollte unter Beruhi- gung der verständlicherweise meist sehr erregten Angehörigen zunächst eine Beobachtung der Phänomenologie des Anfalls erfol- gen; der Patient sollte so gelagert werden, daß eine Aspiration oder eine Erstickung durch beengende Kleider vermieden wird. Durch das Einführen eines Gummiteiles zwi- schen die Zähne sollte man Zungen- oder Wangenbisse zu verhüten su- chen, allerdings nicht unter Anwen- dung von Gewalt, denn ein ausge- brochener Zahn wäre ein größerer Schaden als ein Zungenbiß. Die meist vorhandene Zyanose sollte nicht dazu verführen, eine Sauer- stoffbeatmung durchzuführen, da diese den Anfall verlängern kann.
Eine Intubation ist meist nicht nö- tig (Tabelle 1).
Notfalltherapie
des zerebralen Anfalls im Kindesalter
Helmut Fichsel
Aus der Universitäts-Kinderklinik Bonn (Direktor Prof. Walther Burmeister)
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 42 vom 16. Oktober 1975 2907
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Zerebrale Anfälle beim Kind
Medikamentös geben wir zur Un- terbrechung eines Grand-mal- oder eines Hemigrand-mal- Diazepam (Valium) bis zum Sistieren des An- falles langsam i. v. ohne Verdün- nung, in der Regel reichen 5 bis 10 mg aus. Ist der Anfall vor dem Ein- treffen des Arztes bereits zum Still- stand gekommen, so sollte zur Ver- hütung eines Rezidives Phenobar- bital i. m. gegeben werden oder auch Chloralhydrat rectal (1 bis 4 Kapseln je nach Alter).
Handelt es sich um einen Grand- mal- oder Hemigrand-mal-Status, sollte wie in Tabelle 2 dargestellt vorgegangen werden.
Das Mittel der Wahl ist immer noch Diazepam (Valium®) i. v.; bei Säug- lingen 2 bis 5 — (10) mg, bei Kleinkindern und Schulkindern 10 mg, bei Jugendlichen und Erwach- senen bis 20 mg. In zweiter Linie kann das Phenobarbital (Lumi- nal®) eingesetzt werden, als in- travenöse oder intramuskuläre In- jektion bei Säuglingen zwischen 1 /2 bis 1 Ampulle (entsprechend 0,1 bis 0,2 g), bei Klein- und Schulkin- dern 1 bis 1 1 /2 Ampulle (0,2 bis 0,3 g) und bei Jugendlichen und Er- wachsenen bis 2 Ampullen, ent- sprechend 0,4 g Aprobarbital (Som- nifen®), das sich ebenfalls sehr
Tabelle 1: Maßnahmen, die zu treffen sind, wenn der Pa- tient im Krampfanfall ange- troffen wird
O Beruhigung der erregten Angehörigen, gleichzeitig gute Anfallsbeobachtung O Den Patienten so lagern, daß eine Aspiration oder eine Erstickung vermieden wer- den kann
O Zungen- und Wangenver- letzungen durch einen Gum- mikeil verhüten. Keine Ge- walt anwenden
O Keine Sauerstoffbeat- mung, da dadurch der Anfall verlängert werden kann
• Medikamentöse Unterbre- chung des Anfalls
gut zur Durchbrechung eines epi- leptischen Status eignete, aber seit einigen Monaten aus dem Handel genommen wurde. Sollte man mit Diazepam oder Phenobarbital kei- nen Erfolg gehabt haben, haben
wir im Phenytoin (Phenhydan®, Epanutin(D) ein ebenfalls außeror- dentlich wirksames Präparat zur Verfügung, das als intravenöse oder intramuskuläre Injektion in ei- ner Dosierung von 1 bis 2 Ampul- len (0,25 bis 0,5) bei Kleinkindern und Schulkindern und 2-4 Ampul- len (0,5 bis 1,0 g) bei Jugendlichen und Erwachsenen gegeben werden sollte. Auch das auf dem deut- schen Markt noch nicht erhältliche Clonazepam (Rivotril®) ist intrave- nös angewendet, gut geeignet den Grand-mal- oder Hemigrand-mal- Status zu unterbrechen, bei Säug- lingen reichen meist 1 /2 bis 1 Am- pulle i. v. ( 1 /2 bis 1 mg), bei Klein- und Schulkindern 1 bis 3 Ampullen (1 bis 3 mg) und bei Jugendlichen und Erwachsenen 1 bis 4 Ampullen (1 bis 4 mg) aus.
Bei der Gabe von Diazepam (Va- lium®) muß auf langsame intrave- nöse Injektion geachtet werden, denn auch bei diesem Mittel wer- den gelegentlich Atemdepression und Atemstillstand beobachtet, we- sentlich häufiger jedoch beim Aprobarbital (Somnifen®), dessen therapeutische Breite wesentlich geringer war. Die Gefahr der Atem- depression besteht bei der intrave- nösen Gabe von Phenytoin (Phen- hydan® und Epanutin()) nicht. >
Tabelle 2: Medikamentöse Initialbehandlung des Grand-mal- und Hemigrand-mal-Status
Medikament Dosierung
Säuglinge Klein- und Erwachsene Schulkinder
O Diazepam (Valium) i. v. 5-10 mg
1 Amp. = 10 mg ( 1/2 — 1 Amp.)
• Phenobarbital (Luminal) i. v. oder i. m. 0,1-0,2 g
1 Amp. = 0,2 g ('/2 — 1 Amp.)
• Aprobarbital (Somnifen) i. v. oder i. m. 1/2 — 1 Amp.
O Phenytoin (Phenhydan, Epanutin) i. v. oder i. m.
1 Amp. = 0,25 g
O Clonazepam (Rivotril) i. v. '/2 — 1 mg
1 Amp. = 1 mg ('/2 — 1 Amp.)
10 mg (1 Amp.)
0,2 g (1 Amp.)
1 Amp.
0,25 — 0,5 g (1 — 2 Amp.)
1 — 3 mg (1 — 3 Amp.)
20 mg (2 Amp.)
0,4 g (2 Amp.) 2 — 3 Amp.
0,5 — 1,0 g (2 — 4 Amp.)
1 — 4 mg (1 — 4 Amp.)
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Zerebrale Anfälle beim Kind
Ist der Grand-mal-Status erfolg- reich unterbrochen worden, be- steht die Weiterbehandlung in der intramuskulären Gabe von Pheno- barbital oder Phenytoin in langsam länger werdenden Intervallen von zwei, drei, sechs und acht Stunden, um dann schließlich wieder auf die orale Antikonvulsivumtherapie überzugehen.
Neben der medikamentösen Durch- brechung des Status ist die Kor- rektur einer entstandenen Azidose, die vorsichtige Rehydratation einer Exsikkose, die Bekämpfung des Hirnödems durch Mannitolinfusio- nen und Lasixgaben (Furose- mid), gegebenenfalls antipyretische Maßnahmen und eine antibiotische Therapie erforderlich, um die hohe Mortalität in der dem Status folgen- den Phase zu senken (Tabelle 3).
Nach einem einfachen Grand-mal sind besondere Maßnahmen in der postparoxysmalen Phase, in der der Patient entweder schläfrig, komatös oder kurzzeitig erregt sein kann, nicht erforderlich. Zentral stimulie- rende Analeptika sollten wegen ih- rer anfallsprovozierenden Wirkung vermieden werden.
Petit-mal-Staten, wie sie beim myo- klonisch-astatischen Petit-mal nicht selten sind, aber auch beim Impulsiv-Petit-mal und der Absen- ce-Epilepsie auftreten können, ver- laufen weit weniger dramatisch und sind auch nicht als lebensbe- drohlich anzusehen. Oft — wie zum Beispiel beim myoklonisch-asta- tischen Petit-mal — werden sie erst im Elektroenzephalogramm aufge- deckt, weil die Umdämmerung der Kinder der Umgebung gar nicht auffiel.
Auch diese Staten lassen sich durch intravenöse Diazepamgaben unterbrechen, aber auch Clonaze- pam (Rivotril®) leistet in der Do- sierung von 1 bis 3 Ampullen i. v.
gute Dienste.
Phenytoin (Phenhydan®, Epanu- tin® intravenös) erweist sich zur Beendigung von fokalen Anfallssta-
Tabelle 3: Zusätzliche Maß- nahmen bei der Behandlung des Grand-mal-Status
O Ausgleich einer bestehen- den Azidose
O Vorsichtige Rehydratation einer bestehenden Exsikkose
• Bekämpfung des Hirn- ödems
a) Mannitolinfusionen 20 0/0 1,5 — 2,0 g innerhalb von 2 Stunden
b) Lasix i. v.
O Antipyretische Maßnah- men
O Gegebenenfalls antibioti- sche Behandlung
ten oder Staten von psychomotori- schen Anfällen als gut geeignet.
Therapeutische Schwierigkeiten bereiten oft tonische Anfälle oder gar ein Status tonischer Anfälle, bei denen mitunter Diazepam so- gar eine Verschlechterung bewir- ken kann. Phenytoin oder Pheno- barbital sollten hier eingesetzt wer- den, in verzweifelten Fällen ist ein Versuch mit einem Steroid i. v.
nicht von der Hand zu weisen.
Bei den Krampfanfällen in der Neu- gecorenenperiode sollte vor Pheno- barbital und Diazepäm Calcium i. v. in einer Dosierung von 2 bis 3 bis 5 ml (10 Prozent Ca-Glukonat) gegeben werden, wenn nicht durch ein Serumionogramm schon gesi- chert ist, daß keine Hypokalzämie besteht. Höher konzentrierte Glu- kose sollte i. v. nur bei eindeutig nachgewiesener Hypoglykämie zu- geführt werden, die heute übliche frühzeitige intravenöse fünf oder zehnprozentige Glukosezufuhr ver- hindert sicher das Manifestwerden leichterer Hypoglykämien.
Während ein isolierter Krampfanfall ohne weiteres in häuslichem Milieu
behandelt werden kann, sollte die Behandlung eines Grand-mal-Sta- tus in einer geeigneten Klinik erfol- gen, da sich — worauf eingangs hingewiesen wurde — auch heute noch die meisten Todesfälle in der Phase nach der Durchbrechung des Grand-mal-Status ereignen.
Aber auch die Kinder mit einem Petit-mal-Status sollten trotz der nicht bestehenden Lebensgefahr stationär in einer Klinik behandelt werden, da sie oft eine ausgepräg- te Rezidivneigung aufweisen.
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Helmut Fichsel Universitätskinderklinik 53 Bonn
Adenauerallee 119
ECHO
Zu: „Die Situation der Klinischen Onkologie" von Prof. Carl Schmidt und Prof. Eberhard Scherer in Heft 27/1975, Seite 2009 ff.
Engpaß in Krebsbekämpfung
„In einer von tiefer Sorge ge- tragenen Denkschrift haben Tumorforscher jetzt darauf hingewiesen, daß sich in der Bundesrepublik der Rück- stand und Engpaß der Krebs- forschung und Krebsbekämp- fung bedrohlich abzeichnet.
Prof. Dr. Karl G. Schmidt, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft in Essen, und Prof. Dr. Eberhard Sche- rer vergleichen im DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATT den Stand der Medizinischen On- kologie (Geschwulstfor- schung) in vielen Ländern Europas und den USA und kommen zu dem Schluß, daß demgegenüber der Nachhol- bedarf der Bundesrepublik ,mindestens zehn Jahre be- trägt' ..." (Welt am Sonntag, Hamburg)
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 42 vom 16. Oktober 1975 2909