[76] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 45|
12. November 2010VON SCHRÄG UNTEN
Fahrlässigkeit
Dr. med. Thomas Böhmeke
D
ie Verrechtlichung unserer täglichen Arbeit schreitet so unaufhaltsam voran wie der medizi- nische Fortschritt. In unserer täglichen Arbeit sind mitt- lerweile Dinge von A wie Aussageverweigerungsrecht über F wie Fahrlässigkeit bis hin zu Z wie Zwangs - vollstreckungsmaßnahmen präsenter als Anteilnahme, Fürsorge oder Zuwendung zu unseren Patienten. Nun, dies scheint wohl ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein. So zeigen die Berichte von Patienten, die im Ausland ein gesundheitliches Unglück erlitten ha- ben, eindrucksvoll eine andere, sozusagen ju- ristisch unbeschwerte Gestaltung der medi- zinischen Versorgung.Eine meiner Patientinnen erlitt in Spanien einen Vorderwandinfarkt, ih- re Herzkranzarterie wurde umge- hend in einer Privatklinik rekana - lisiert. Sie wurde aber erst aus der stationären Behandlung entlassen, nachdem ihr Sohn 12 000 Euro überwiesen hatte. Hier gerierte das Hospital als Haftanstalt, mutierte die Honorarnote zur Lösegeldfor- derung. Der Eingriff war im- merhin erfolgreich, nicht so jedoch bei einem 53-jähri- gen Patienten, der mit aku- tem Hinterwandinfarkt in Pattaya/Thailand im Kran- kenhaus vorstellig wurde.
Eine weitergehende Behand- lung gönnte man ihm erst, nach- dem er 18 000 Euro auf den Tisch des
Hauses gelegt hatte. Weil er dafür etwas Zeit benötig- te, vernarbte seine Herzmuskelhinterwand vollständig.
Dies war wohl der Grund für die Kollegen, nicht die für den Infarkt verantwortliche rechte Herzkranzarte- rie zu rekanalisieren, sondern eine insignifikante Ko- ronarstenose im linken System zu stenten. Nun, eine Sorgfaltspflichtverletzung kann man dem Kranken- haus nur eingeschränkt vorwerfen, da es äußerst sorg- fältig auf die Kostenerstattung geachtet hatte. Noch sorgfältiger waren allerdings kardiologische Kollegen in Schanghai, die für ein vergleichbares Prozedere 40 000 Dollar forderten. Eine Summe, die über dem Regelleistungsvolumen vieler niedergelassener Kolle- ginnen und Kollegen liegt. Getoppt wird all dies durch einen marokkanischen Patienten, der in Rabat um - gerechnet 20 000 Euro für eine Herzkatheterunter - suchung mit nachfolgender Ballondilata - tion bezahlt hatte. Er brachte mir die
Ka theterfilme mit, nach sorgfäl - tiger Durchsicht konnte ich
dem Mann gratulieren: Er war völlig koronargesund, auf den Filmen war weder
ein Krümel in den Koro- narien noch der Zipfel
eines Dilatationsballons zu erkennen.
Wenn ich diese ge- sammelten Beispiele aus meiner Praxis betrachte, so komme ich doch zu dem Schluss, dass wir, lie- be Kolleginnen und Kolle- gen, im internationalen Ver- gleich einen der letzten Plätze belegen. Und mir wird klar, warum deutsche Staatsanwälte uns heimischen Ärzten trotzdem fortwährende Fahrlässig-
keit unterstellen: Sie argwöhnen, dass wir alle ins Ausland fahren wollen, um mit
Lässigkeit Unsummen zu verdienen.
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.