Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 274. Juli 2008 A1489
P O L I T I K
Abs. 7 AEUV). Als gleichberechtig- ter Mitgesetzgeber neben dem Mi- nisterrat könnte darüber hinaus das EP jederzeit die Notbremse ziehen.
Den 785 Europaabgeordneten kommt damit eine entscheidende Verantwortung zu, Gesetzesvor- schläge der Europäischen Kommis- sion daraufhin zu durchforsten, ob sie das Subsidiaritätsprinzip in der Gesundheitspolitik verletzen.
Zu einem Prüfstein in dieser Hin- sicht könnte die Richtlinie zur Si- cherung der Rechte von Patienten bei grenzüberschreitenden medizi- nischen Leistungen werden. Ulmer glaubt nämlich, dass die Direktive die Gesundheitspolitik der EU-Län- der nachhaltig beeinflussen könnte.
„Letzten Endes“, so der CDU-Poli- tiker, „wird die Frage einer europä- ischen Gebührenordnung oder der- gleichen auftreten, um eine Ver- gleichbarkeit der Leistungen zu er- reichen.“ Ähnliche Befürchtungen äußert der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, Christoph Fuchs: „Der geplante Rechtsrahmen für die Rechte der Patienten in der EU sieht offensichtlich vor, die Ge- sundheitssysteme anzugleichen.“
Volle Fahrt aufgenommen Skeptisch beurteilt der CDU-Europa- abgeordnete Peter Liese darüber hin- aus die gesundheitspolitischen Am- bitionen der EU-Kommission bei Or- gantransplantationen. Die Behörde plant, in der zweiten Jahreshälfte ein Maßnahmenpaket vorzulegen, das die Qualität der Transplantations- medizin EU-weit verbessern soll.
Liese sowie führende deutsche Trans- plantationschirurgen fürchten indes- sen, dass das Brüsseler Regelwerk dem bewährten deutschen System eher schaden als nützen könnte.
Die Beispiele zeigen: Die eu- ropäische Gesundheitspolitik hat längst volle Fahrt aufgenommen.
Und die Europäische Kommission steckt das Feld – unabhängig vom Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags – munter weiter ab. Es hängt jedoch nicht zuletzt von den Mitgesetzge- bern auf EU-Ebene und den Interes- senvertretungen im Gesundheitswe- sen ab, zu bestimmen, wann die Grenze erreicht ist. I Petra Spielberg
D
ie pränatale humangenetische Diagnostik wird im oben ge- nannten Bericht fälschlicherweise als „unzuverlässig“ dargestellt, weil bei der Untersuchung von Chro- mosomen aus Fruchtwasser bezie- hungsweise Chorionzottenmaterial angeblich eine erhöhte Fehlerrate be- obachtet wurde. Diese Darstellung ist aufgrund eines Übersetzungsfeh- lers falsch. Vielmehr handelt es sich bei der zitierten Studie um die Fest- stellung des Risikos für Chromoso- menveränderungen in Feten mittels der biochemischen Analyse im Erst- trimester-Screening. Zu den Details:Dr. Francesca Grati hatte bei der Jahrestagung der Europäischen Ge- sellschaft für Humangenetik 2008 die Ergebnisse ihrer retrospektiven Stu- die über biochemische Diagnostik- verfahren zur Erkennung von Chro- mosomenstörungen vorgestellt. Die- ses Verfahren (Ersttrimester-Scree- ning) wird Schwangeren von Gynäko- logen als IGeL-Leistung angeboten, um die Indikationsstellung der aus Altersgründen durchgeführten Am- niozentesen zu verbessern und unnö- tige Untersuchungen zu vermeiden.
Von 1 000 Neugeborenen 35-jäh- riger Mütter haben nur etwa drei eine Trisomie 21 (Down-Syndrom), weitere drei eine andere Chromoso- menanomalie und 994 einen un- auffälligen Chromosomensatz. Die Wahrscheinlichkeit eines Down- Syndroms als häufigste Chromoso- menaberration beträgt somit in die- sem Alter nur etwa 0,3 Prozent; 994 invasive Untersuchungen würden ein unauffälliges Ergebnis zeigen.
Die Untersuchung biochemischer Marker in Verbindung mit Ultra- schallmessungen des Feten („Nacken- transparenz“) ermöglicht eine Wahr- scheinlichkeitsberechnung für eine fetale Chromosomenveränderung.
Diese Bestimmung kann zu einer Re- duktion des rechnerischen Risikos
führen oder – bei auffälligen Werten – auf ein erhöhtes Risiko hinweisen.
Die meisten Schwangeren verzichten bei einem niedrigen Risikowert auf eine Fruchtwasserpunktion. Das Verfahren untersucht aber lediglich die Wahrscheinlichkeit für eine fetale Chromosomenveränderung, nicht je- doch den Chromosomensatz selbst.
Der Vorteil des Ersttrimester- Screenings liegt (auch im Hinblick auf das Abortrisiko) in der Nichtinva- sivität. Der Nachteil liegt in der, ver- glichen mit der Chromosomenanaly- se aus fetalen Zellen, sehr schlech- ten Sensitivität; zudem besteht nur die Möglichkeit der Risikoberech- nung für die Trisomien 13, 18 und 21.
Es ist deshalb folgerichtig, dass die Fruchtwasseruntersuchung für Frau- en ab 35 Jahren sowie bei sonstigen Risikokonstellationen für eine Chro- mosomenveränderung eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen ist, das Ersttrimester-Screening dagegen eine IGeL-Leistung, die die Schwan- geren selbst bezahlen müssen.
Tatsächlich kennen alle Human- genetiker/innen Fälle von Kindern mit einer Trisomie 21, bei denen alle nicht invasiven biochemischen und sonografischen Untersuchungen unauffällig waren. Viele der betrof- fenen Eltern dachten jedoch nach dem Screening, dass eine Chromo- somenveränderung ausgeschlossen worden wäre. Die Humangenetiker empfehlen deshalb im Einklang mit den Entwürfen zum Gendiagnostik- gesetz, dass vor jeder genetischen Untersuchung eine qualifizierte Be- ratung durch Fachärzt(inn)e(n) für Humangenetik oder Kolleg(inn)e(n) mit der Zusatzbezeichnung Medizi- nische Genetik stattfinden muss. I Dr. med. Bernt Schulze*
Prof. Dr. med. André Reis*
* für die Vorstände des Berufsverbands Deutscher Humangenetiker e.V. und der Deutschen Gesell- schaft für Humangenetik e.V.
PRÄNATALE DIAGNOSTIK