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Archiv "Sexueller Kindesmissbrauch: Am häufigsten unter Gleichaltrigen" (06.02.2015)

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A 226 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 112

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Heft 6

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6. Februar 2015

SEXUELLER KINDESMISSBRAUCH

Am häufigsten unter Gleichaltrigen

K

napp fünf Jahre ist es her, dass die Missbrauchsskanda- le am Berliner Canisius-Kolleg, der Odenwald-Schule und anderen kirchlichen und weltlichen Institu- tionen bekannt wurden. Der gesell- schaftliche und politische Aufschrei war groß. Die Bundesregierung ini- tiierte daraufhin einen runden Tisch und installierte eine Unabhängige Beauftragte zu Fragen des sexuel- len Missbrauchs. Viele Betroffene haben dadurch eine späte Anerken- nung ihres Leids erfahren. Einiges ist auch in Richtung Prävention auf die Schiene gesetzt worden. Den- noch: Sexueller Missbrauch sei

trotz der vielfältigen Bemühungen in den letzten Jahren nicht rück - läufig und die Fallzahlen weiter- hin hoch, bekannte der amtierende Missbrauchsbeauftrage Johannes- Wilhelm Rörig öffentlich in 2014:

„Das gesellschaftliche und politi- sche Engagement muss noch deut- lich gesteigert werden“, forderte er.

Daten kontrovers diskutiert Auch die Forschung zur Häufig- keitsangabe sexuellen Missbrauchs in Deutschland stehe noch am An- fang, bekannte Rörig. Die aktuelle Datenlage werde innerhalb der Fachkreise kontrovers diskutiert

und weise Defizite auf. Deshalb hat der Unabhängige Beauftragte drei internationale Experten aus dem Forschungsfeld nach Berlin einge- laden, die in einem öffentlichen Ex- pertengespräch Ende 2014 ihr Wis- sen austauschten.

Meldepflicht unterschiedlich Der US-amerikanische Soziologe Prof. David Finkelhor, University New Hampshire, forscht seit mehr als 30 Jahren zur Epidemiologie des sexuellen Missbrauchs. Die sehr unterschiedlichen Zahlen, die kur- sierten, hingen immer auch von der Definition ab, erklärte er. Die Zah- len seien niedriger, wenn man aus- schließlich sexuellen Missbrauch mit Penetration betrachtet. Deutlich höher würden die Zahlen, wenn man Übergriffe mit Berührungen im Genitalbereich oder an den Brüsten hinzunimmt. Unterschied- lich beziehungsweise nicht ver- gleichbar seien die Zahlen auch, weil es in manchen Ländern Melde- pflichten zum sexuellen Miss- brauch gibt und in anderen nicht.

So gibt es in Deutschland keine strafrechtliche Meldepflicht für Ärzte.

Finkelhor hob weiter hervor, dass in vielen Studien der Macht- unterschied, der per Definition bei sexuellem Missbrauch vorliegen muss, nur operationalisiert werde durch einen Altersabstand. Viele Übergriffe unter Gleichaltrigen, die aber tatsächliche Übergriffe mit Gewalt und Machtmissbrauch sei- en, würden deshalb übersehen.

Neuere Studien wie die Optimus- Studie aus der Schweiz zeigten, dass das häufigste Problem für Ju- gendliche zwischen zwölf und 18 Jahren – noch vor Missbrauch in der Familie und in Institutionen – Übergriffe durch Peers sind. Be- sonders gravierend sei, dass die Opfer dabei oftmals gefilmt und die Taten über soziale Netzwerke der Öffentlichkeit zugänglich ge- macht würden. Dieses Phänomen Die Prävalenzforschung zu sexuellem Missbrauch steht in Deutsch-

land noch am Anfang. Der Missbrauchsbeauftragte und das Kompetenz- zentrum Kinderschutz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm luden deshalb internationale Experten zum Austausch ein.

Foto: mauritius images

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6. Februar 2015 A 227 sei weltweit nicht ausreichend un-

tersucht; auch für Deutschland ge- be es keine Zahlen, berichtete Fin- kelhor. Bedauerlich fand der Sozio- loge auch, dass es in einem wohl- habenden Land wie Deutschland keine Verlaufsdaten, also keine per- spektivische Begleitung des Wegs der Betroffenen durch die Institu- tionen gebe.

Zur Bedeutung der Inzidenz von sexuellem Missbrauch als relevan- tem Marker sprach Prof. Nico Trocmé von der McGill School of Social Work Montreal, Kanada. In- zidenz sei im Vergleich zur Le- benszeitprävalenz der sensiblere Marker, um festzustellen, ob Be- mühungen, sexuellen Missbrauch einzudämmen, auf gesellschaftli- cher Ebene etwas verändern. Denn bis sich die Lebenszeitprävalenz verändert, brauche es einen viel längeren Zeitraum. Für die politi- sche Steuerung und auch für die ärztliche Fortbildung seien des- halb Inzidenz-Ziffern sehr wichtig.

Weltweit gebe es in den letzten zehn Jahren zwar einen leichten Rückgang der Prävalenz sexuel- len Missbrauchs, sagte Trocmé.

Gleichzeitig gebe es aber vieler- orts, auch in Deutschland, einen dramatischen Anstieg der Inan- spruchnahme von Hilfen in der Gesundheitsversorgung und in Be- ratungsstellen.

In Schweden gibt es einen eige- nen Lehrstuhl innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen Kin- desmisshandlung und sexuellen Missbrauch. Der Lehrstuhlinhaber Prof. Carl Göran Svedin, Universität Linköping, betonte, dass der Zugang über die Schulen sehr wichtig sei, besonders für die regelmäßig durch- geführten Prävalenz-Surveys in Schweden. Kritisch bewertete Sve- din hingegen Online-Befragungen, weil dabei immer unklar sei, welche Selektionseffekte vorliegen. Dies sei zwar die kostengünstigste Art, an Daten zu gelangen, und sie werde immer häufiger eingesetzt. Metho- disch sei dies jedoch sehr fragwür- dig. In einer Kooperation mit den baltischen Ländern führt Schweden seit mehreren Jahren Befragungen mit den gleichen Fragen durch, um eine Entwicklung erkennen zu kön- nen. Befragt werden jeweils die Schulabgänger, also die 16- bis 18-Jährigen, die selber entscheiden können, ob sie an der Umfrage teil- nehmen wollen. Heraus kamen sehr verlässliche Daten zur Häufigkeit sexuellen Missbrauchs, berichtete Svedin. Diese Studie werde zudem als „Omnibus“ verwendet, in die speziellere Fragen eingefügt werden können. Beispielsweise wurden – weltweit zum ersten Mal – Jugendli- che direkt gefragt, ob sie sich schon einmal gegen Geld prostituiert ha-

ben. Resultat: Im reichen Schweden kommt das nicht selten vor.

In der Diskussion mit den Exper- ten wurde grundsätzlich gefragt, ob das Jugendalter überhaupt der richti- ge Zeitpunkt sei, um nach sexuellem Missbrauch zu fragen. Aus allen Studien weltweit gehe nämlich her- vor, dass bei den 40- bis 60-jährigen Betroffenen die Bereitschaft am größten ist, Auskunft zu geben – wenn sie eigene Kinder haben, Kindheitstraumata aufgearbeitet ha- ben oder darüber nachdenken, dies zu tun. Nach dieser Zeitspanne sinke die Bereitschaft, darüber zu reden, deutlich ab. Im Jugendalter könnten also die konkretesten Erinnerungen erwartet werden, im mittleren Le- bensalter jedoch die Offenheit.

Expertise für Deutschland Die vorgestellten Erfahrungen der Professoren Finkelhor, Trocmé und Svedin sollen die Prävalenzfor- schung in Deutschland einen Schritt voranbringen. Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Leiter des dor- tigen Kompetenzzentrums Kinder- schutz, com.can. (www. comcan.

de), wurde beauftragt, bis zum kommenden Sommer eine Experti- se zu erstellen. „Der Auftakt war sehr stimulierend“, sagte Fegert.

Petra Bühring

Hat es Sie überrascht, dass die meisten Übergriffe unter Peers stattfinden?

Fegert: Nein, wir haben das vor ein paar Jahren bereits in einer Expertise für das bayerische Landesjugendamt deutlich ge- macht und auch am Runden Tisch sexuel- ler Missbrauch darauf hingewiesen. Doch das von einem internationalen Experten zu hören, war für mich ein Highlight und auch ein To-do: Wir müssen darauf stärker fokussieren.

Ein leichter Rückgang der Prävalenz, aber eine stark zunehmende Inanspruchnahme.

Wie erklären Sie das?

Fegert: Dieser Unterschied resultiert aus dem Ver- hältnis von Hellfeld und Dunkelfeld. Das medizini- sche und beraterische Hellfeld hat sich deutlich seit der Kampagne des Unabhängigen Beauftrag- ten und seit Einführung des Bundeskinderschutz- gesetzes verändert. Es trauen sich viel mehr Leu- te, sich an uns zu wenden. Wir gehen oft unter in Fällen, obwohl die absolute Zahl wahrscheinlich sinkt. Wir kennen die Inzidenz bisher nicht, aber die Versorgungsangebote reichen nicht aus. Eine Studie zur Inzidenz ist deshalb sehr wichtig.

Wäre bei dem von Schweden initiierten Prävalenz-Survey nicht auch eine Beteili- gung Deutschlands sinnvoll?

Fegert: Deutschland ist angefragt worden, hat sich aber nicht beteiligt, weil der Kultusbereich sich geweigert hat, in Schulen solche Untersu- chungen durchführen zu lassen. Ich überlege, was wir jetzt unternehmen können. In Deutschland gab es zwar auch Versuche, Schulbefragungen durchzuführen, doch teil- weise mit viel zu jungen Kindern, was natürlich die Eltern auf den Plan gebracht und die Kul- tusministerien hoch kritisch sensibilisiert hat.

Sehr sinnvoll scheint der schwedische Ansatz, die Abgängerklassen zu befragen, die rückwir- kend über ihre Jugendphase berichten. So bekommt man relativ realistische Daten über Vorfälle im Kindesalter.

3 FRAGEN AN . . .

Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Leiter des Kompetenzzentrums Kinderschutz in der Medizin

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