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Archiv "Sexueller Kindesmissbrauch: Aus der Opferrolle herausfinden" (01.02.2013)

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A 170 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 5

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1. Februar 2013

SEXUELLER KINDESMISSBRA

UCH

Aus der Opferrolle herausfinden

Es gibt eine verwirrende Vielzahl von Hilfsangeboten.

Und dennoch bestehen Engpässe in der Traumatherapie.

Institutionen tragen ein „strukturelles Risiko“.

A

m 31. Dezember 2012 schal- tete die katholische Deutsche Bischofskonferenz ihre Hotline ab, bei der Opfer sexueller Gewalt an- rufen konnten. Es habe kaum noch Anrufe gegeben, hieß es. Eine am 17. Januar vorgelegte Statistik der Hotline – mehr als 10 000 Kontakte innerhalb von zwei Jahren – lässt das Ausmaß der Handlungen erah- nen. Genaueres zum Missbrauch von Abhängigen durch Geistliche sollte ein Forschungsprojekt zutage fördern, mit dem der Kriminologe Prof. Dr. jur. Christian Pfeiffer be- traut wurde. Der Vertrag platzte am 9. Januar. Die gegenseitigen Vor- würfe lassen auf einen versteckten Dissens schließen: Die Vertrags- partner hatten sich in der Eile nicht genügend über ihre jeweiligen Er- wartungen und Möglichkeiten aus- getauscht. Vertane Zeit.

Dennoch. Die Gesamtbilanz der Bemühungen um Aufarbeitung und Opferhilfe sieht so schlecht nicht aus, seit im Januar 2010 jener Brief bekanntwurde, der die Miss- brauchsdebatte ins Rollen brachte.

Der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, Jesuitenpater Klaus Mertes, hatte an mehr als 600 Ehemalige geschrieben und vom systematischen sexuellen Missbrauch an vielen Schülern berichtet. Nicht nur ka - tholische Erziehungseinrichtungen waren betroffen, wie sich heraus- stellte, doch blieben sie, neben der Odenwaldschule, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Die Welle von immer neuen Of- fenbarungen, von Empörung und Anschuldigungen führte dazu, dass die verantwortlichen Institutionen gezwungen wurden, Missbrauch nicht insgeheim aufzuklären, son-

dern strafrechtlich verfolgen zu las- sen. Zugleich wurden die Opfer er- mutigt, sich zu melden, Therapien anzunehmen und Entschädigungen zu fordern.

Institutionell ist, wenn auch mit Abstrichen, einiges geschehen:

1. Die katholischen Bischöfe er- nannten noch im Februar 2010 den Trierer Bischof, Dr. Stephan Acker- mann, zum Missbrauchsbeauftrag- ten, gaben im August 2010 Leitlini- en zum Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger heraus und entschlossen sich schließlich im März 2011 zu gewissen Ent- schädigungen. Stecken blieb hin - gegen die unvoreingenommene Aufdeckung der die Missbräuche fördernden Strukturen.

2. Gleich drei Bundesministerin- nen (für Bildung, Familie und Jus- tiz) versammelten im Frühjahr 2010 die Betroffenen um einen „Runden Tisch“; dieser kam Ende 2011 mit einem Paket von Empfehlungen zum Umgang mit Opfern, zur Inter- vention bei Verdachtsfällen und zur Prävention heraus. Die freilich müssen noch umgesetzt werden.

3. Gleichzeitig etablierte die Bundesregierung einen „unabhän- gigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“.

Dieser schließt seitdem unermüd- lich mit den Dachverbänden von Heimträgern, Kliniken und Jugend- einrichtungen freiwillige „Verein- barungen“ zum Schutz von Jugend- lichen.

4. Ärzte, Psychotherapeuten, Kran - kenhäuser und gesetzliche Kran- kenversicherung einigten sich im September 2012 auf eine Rahmen- empfehlung, um das Informations- angebot und die Versorgung von

Missbrauchsopfern zu verbessern (siehe DÄ, Heft 44/2012).

5. Bund und Länder errichteten 2012 – nicht nur infolge der Miss- brauchsdebatte, aber durch sie vor - angebracht – die beiden Fonds für Heimkinder West (dieser auch ge- meinsam mit den Kirchen) und Heimkinder Ost.

6. Ein Netz von Anlauf- und Be- ratungsstellen entstand.

Defizite bei Prävention und Therapieangeboten

Die Missbrauchsdebatte förderte aber auch erstaunliche Defizite zu- tage: in der Prävention, beim Um- gang mit Verdachtsfällen, bei der Zuwendung zu den Opfern, im The- rapieangebot. Diese wurden zwar angegangen, sind aber keineswegs behoben. Dem Betroffenen fällt es immer noch schwer herauszufin- den, welche Beratungsstelle für ihn zuständig, auf welche Anspruchs- grundlage er seine Forderung nach Hilfe stützen kann oder welcher Therapeut geeignet erscheint.

Wenn er überhaupt einen findet.

Denn es gibt erhebliche Versor- gungslücken auf dem Land, für Behinderte und für Betroffene mit Migrationshintergrund . Auch in der Stadt heißt es warten. Bei einem Workshop des Traumanetzes Seeli- sche Gesundheit zum Thema „Trau- ma und Institution“ im Dezember Der aktuelle

Kampagnenspot des Missbrauchs- beauftragten, gestaltet von Daniel Levy, verweist wei- terhin auf die telefo- nische Anlaufstelle:

0800 22 55 530.

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1. Februar 2013 A 171 2012 in Dresden wurden Warte -

zeiten von einem Jahr genannt.

Wünschenswert sei zudem, dass sich fortgebildete Traumatherapeuten der Missbrauchsopfer annähmen.

Nicht jeder Psychiater/Psychothe- rapeut sei gleich auch ein Trauma- therapeut. Ähnliches scheint, folgt man dem Workshop, auf psych - iatrische Gutachter zuzutreffen, die zum Beispiel bei Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz ei- ne ausschlaggebende Rolle spielen.

Psychiatrische Gutachter schätzten Traumatisierungen oft zu gering ein, bedauerte Dr. med. Julia Schel- long von der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychoso- matik in Dresden. Das sei auch eine Frage der „Schulen“. Schellong sieht die Traumatherapie als noch relativ junges, aber schon eigen- ständiges, wissenschaftlich fundier- tes Fach an. Sie gehört zu den Ini- tiatoren des „Traumanetzes“, in dem Ärzte, Psychologische Psycho- therapeuten und weitere Gesund- heits- und Sozialberufe vorwiegend aus Sachsen zusammenarbeiten.

Eine gemischte Bilanz zog auf seiner Jahrespressekonferenz in Berlin der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig. Vor allem in der Prävention sei nicht genug erreicht. „Vordringlich müssen die Spielräume der Täter eingegrenzt werden“, bekräftigte er bei dem Dresdener Workshop. Vielen Insti- tutionen scheine immer noch das Problembewusstsein zu fehlen. Die Einstellung reiche vom Eingeständ- nis, man habe das Problem „sträf- lich vernachlässigt“, bis zu: „Bei uns ist die Welt Gott sei Dank noch in Ordnung“, zitierte Rörig Antwor- ten aus einer Befragung bei circa 200 Einrichtungen aus dem Jahr 2012. Demnach haben 61 Prozent der befragten Einrichtungen ein Präventionskonzept erarbeitet, eine Risikoanalyse nur 36 Prozent, von einem „Notfallplan“ bei Verdacht auf Missbrauch berichten 58 Pro- zent. Ein Musterstück an Hilflosig- keit lieferte im November 2012 die Berliner Charité. Hier wurde ein Pfleger verdächtigt, sich Patientin- nen gegenüber auffällig verhalten zu haben. Der Fall ist bislang nicht vollständig geklärt. Doch, um mit

Rörig zu sprechen, „es war der Lei- tung nicht klar, was getan werden muss, wenn ein Verdacht auf- kommt“. Nun arbeite sie an einem Konzept. „Und ich hoffe, dass die Charité nun zum Vorbild wird.“

Verlorenes Vertrauen, zögernde Wiedergutmachung

Die kindlichen und jugendlichen Opfer von sexueller und anderer Gewalt stehen zumeist allein einer

„Institution“ gegenüber. Diese neigt dazu, Anschuldigungen abzuweh- ren oder kleinzureden, ja, sich selbst als Opfer der Täter zu sehen.

Ein Lied davon kann der Jesuiten- pater Mertes singen, dem die Auf- deckung der Taten am Canisius- Kolleg keineswegs gedankt wurde.

Bei dem Dresdener Workshop be- richtete er von spontaner Abwehr der Kirchenoberen und von Anwür- fen, die ihm entgegenschlugen. Die Institution rutsche leicht ab „in das Jammern über die eigenen Schmer- zen“. Das könne geradezu in Hass-

gefühle gegenüber den Opfern wie den Aufklärern umschlagen. Doch die Institution, hier die Kirche, müsse den Opfern Vertrauen entge- genbringen. „Das wichtigste ist, die Opfer anzuhören“, betonte Mertes.

Prävention von Gewalt setzt Selbsterkenntnis bei den Verant- wortlichen voraus. Denn „Institu- tionen, in denen Mädchen und Jungen leben und lernen, tragen ein strukturelles Risiko sexueller Gewalt“, resümierte Christiane Hentschker-Bringt, eine Sozial - pädagogin, die an Schulen mit Kindern einübt, sich zu behaupten.

Täter suchten sich bewusst oder unbewusst solche Einrichtungen.

Dabei geht es nicht allein um sexu- elle, sondern auch um körperliche und psychische Gewalt.

Gewalt jeder Art scheint in Hei- men der DDR verbreitet gewesen zu sein. Sie betraf weniger die soge- nannten Normalheime als die spe- ziellen Einrichtungen für verhal- tensauffällige Jugendliche, etwa die Jugendwerkhöfe, insbesondere den geschlossenen Jugendwerkhof Tor- gau. Ziel der Einweisung sei Dis- ziplinierung, Anpassung, ja Unter- werfung gewesen, berichtete die Psychiaterin Ruth Ebbinghaus, Würzburg, auf der Dresdener Ta- gung. Sie arbeitete 2011 bei einem Bericht über die DDR-Heimerzie- hung mit. Das sei durch Kollektiv- erziehung, Drill und harte Strafen wie Essensentzug, An-den-Pranger- Stellen, Arrest, vielfältige Gewalt durch Erzieher, erreicht worden.

Die Folgen seien überangepasstes wie auch aggressives oder auto - aggressives Verhalten, fehlende Selbstständigkeit oder auch die Un- fähigkeit, Hilfe anzunehmen. Wich- tig für die Rehabilitation sei die of- fizielle Anerkennung des erlittenen Unrechts und Leids. Eine materielle Entschädigung sei auch psychisch wichtig. Entscheidend sei es, dass es den Betroffenen gelinge, aus der Opferrolle herauszufinden. Es gel- te, das persönlich erlittene Unrecht als gesellschaftlich verursacht an- zusehen. Es gebe freilich bisher keine speziellen Konzepte für die Behandlung komplexer Traumati-

sierungen.

Norbert Jachertz Nach dem Opferentschädigungsgesetz haben Opfer ei-

nes „tätlichen Angriffs“, der sich nach dem 15. Mai 1976 (alte Bundesländer) oder 2. Oktober 1990 (neue Bundes- länder) zugetragen hat, Anspruch auf Heilbehandlung und Rehabilitation nach dem Bundesversorgungsgesetz. Sexu- eller Missbrauch wird als tätlicher Angriff gewertet.

Heimkinder aus den alten Bundesländern, die zwischen 1949 und 1975 in Heimen waren, können durch den Fonds Heimerziehung West, der von Bund, West-Län- dern und Kirchen getragen wird, entschädigt werden (An- träge bis 31. Dezember 2014). Heimkinder aus den neuen Bundesländern, die zwischen 1949 und 1990 in DDR-Hei- men waren, können Entschädigungen aus dem Fonds Heimerziehung Ost erhalten, der von Bund und Ost-Län- dern getragen wird (Anträge bis 30. Juni 2016).

Beide Fonds prüfen zunächst die Berechtigung und schließen sodann mit den Antragstellern individuelle Ver- einbarungen über materielle, medizinische oder psycho- therapeutische Leistungen ab. Betroffene, die zwangswei- se in DDR-Heime eingewiesen waren, insbesondere in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, können zudem nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz auch Ansprüche auf finanzielle Leistungen haben.

Die katholischen Bistümer vergüten bis zu 50 Sitzun- gen bei einem approbierten Psychotherapeuten (bei Paar- betreuung 25 Sitzungen) und zahlen außerdem eine Art Schmerzensgeld von bis zu 5 000 Euro.

ANSPRUCHSGRUNDLAGEN

P O L I T I K

Referenzen

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