A 2714 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 50|
16. Dezember 2011SEXUELLER KINDESMISSBRAUCH
Das Schweigen gebrochen
Der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ hat seinen Abschlussbericht vorgelegt.
Betroffene erhalten finanzielle Hilfen für Therapie und Weiterbildung.
Präventiv sollen Ärzte, Therapeuten und Pädagogen umfangreich fortgebildet werden.
W
ir haben erste Schritte zu einer Kultur der Aufmerk- samkeit für sexuellen Kindesmiss- brauch unternommen – das Schwei- gen ist gebrochen“, sagte Bun - desforschungsministerin Annette Schavan. Zusammen mit Bundes- justizministerin Sabine Leutheus- ser-Schnarrenberger und Bundesfa- milienministerin Kristina Schröder legte sie Ende November den Ab- schlussbericht des Runden Tisches„Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhält- nissen in Einrichtungen und im fa- miliären Bereich“ vor.
Das Wichtigste: 100 Millionen Euro sollen für ein „Hilfesystem“
für Missbrauchsbetroffene zur Ver- fügung stehen. Die Verjährungsfrist für künftig entstehende Schadenser- satzansprüche aufgrund sexuellen Missbrauchs wird von drei auf 30 Jahre verlängert. Präventiv sollen alle, die Kinder und Jugendliche er- ziehen, bilden, betreuen und ärzt- lich behandeln, qualifiziert werden, sexualisierte Gewalt zu erkennen.
Fast zwei Jahre sind vergangen, seit einer der größten Skandale der letzten Jahre seinen Anfang nahm. Der Schulleiter des Berli- ner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, wendet sich im Januar 2010 mit einem Brief an frühere Schüler des Jesuiten-Gymnasiums.
Er bittet diejenigen, die an der Schule Opfer von sexuellem Miss- brauch durch die Patres geworden waren, um Entschuldigung. Mertes tritt eine Welle ungeahnten Aus - maßes los. Nach und nach wird systematischer Missbrauch an kirch- lichen, aber auch reformpädagogi- schen Schulen, wie der Odenwald- schule, bekannt.
Die Bundesregierung reagiert schnell. Im März 2010 wird Dr.
med. Christine Bergmann als „Un-
abhängige Beauftragte“ der Bundes- regierung eingesetzt, kurz darauf ei- ne telefonische Anlaufstelle für die Betroffenen eingerichtet und eine große Medienkampagne gestartet.
Bis Oktober 2011 – dem Ende der Amtszeit Bergmanns – melden sich circa 22 000 Betroffene und Ange- hörige mit zum Teil erschütternden Dokumenten (DÄ, Heft 22/2011).
Der Runde Tisch hat nun ab- schließend Empfehlungen und Leit- linien vorgelegt, die in der Praxis noch umgesetzt werden müssen.
„Vieles vom Runden Tisch ist schon in aktuelle Gesetzesvorhaben eingeflossen, wie beispielsweise in das Bundeskinderschutzgesetz“, betonte die Bundesfamilienministe- rin. Sie habe deshalb „wenig Ver- ständnis“ für die Blockade des Ge- setzes im Bundesrat (DÄ, Heft 46/2011). Ein weiteres, das „Gesetz zur Stärkung der Opfer sexuellen Missbrauchs“ soll Anfang 2012 in Kraft treten.
Institutionen sollen freiwillig Schmerzensgeld zahlen
Die Empfehlungen des Runden Ti- sches: Bund, Länder und Kommu- nen sowie die Institutionen sollen ein „Hilfesystem“ für Missbrauchs- betroffene einrichten und mit 100 Millionen Euro finanzieren. Der Bund will sich zur Hälfte an dieser Summe beteiligen. Finanziert wer- den sollen damit unter anderem Therapiestunden, die über die von den Krankenkassen getragenen hin - ausgehen. Sollten die Wartezeiten bei niedergelassenen Psychothera- peuten zu lang sein, werden auch die Kosten für Therapeuten ohne Kassenzulassung übernommen. Über die Sachleistungen soll ein unab- hängiges Sachverständigengremi- um („Clearingstelle“) entscheiden.Institutionen, in denen Übergriffe
geschehen sind, sollen zusätzlich Schmerzensgeld zahlen – allerdings auf freiwilliger Basis.
Vorrangig appelliert der Runde Tisch daran, die psychotherapeuti- sche Versorgung innerhalb des GKV- Systems zu verbessern: Betroffene sollen zeitnah Zugang haben zu ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten, die Erfahrung mit Traumatisierten haben. Trauma- spezifische Therapien und auch Körper- und Kreativtherapien soll- ten von den Krankenkassen über- nommen werden; bestehende Hilfe- angebote besser vernetzt werden.
Neben den Traumaspezialisten sollten nach Ansicht des Runden Tisches alle Ärzte über Basiswis- sen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt verfügen. Kinder- und Ju- gendärzte, Kinderpsychiater und Hausärzte müssten darüber hinaus in der Lage sein, Missbrauch wahr- zunehmen, zu diagnostizieren und bei einem Verdacht entsprechend sensibel mit den Betroffenen um- zugehen. Viele Missbrauchsbetrof- fene wiesen hier auf Defizite hin.
Ein Grund dafür scheint zu sein, dass es „kaum ärztliche Fortbil- dung zu sexuellem Missbrauch gibt“, wie Prof. Dr. med. Jörg M.
Fegert, Ulm, der die Aufarbeitung des Themas wissenschaftlich be- gleitet, herausfand.
Abhilfe schaffen soll das E-Lear- ning-Projekt „Sexueller Kindesmiss- brauch“, das sich an Heilberufe und pädagogische Berufe richtet. Das Curriculum wird unter der Leitung des Kinder- und Jugendpsychiaters Fegert von einem interdisziplinären Team entwickelt und soll im Früh- jahr 2012 freigeschaltet werden.
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Petra Bühring
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Der Abschlussbericht im Internet:www.aerzteblatt.de/112714