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Archiv "Sexueller Kindesmissbrauch: Vertrauen in die Heilberufe" (06.03.2015)

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A 406 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 10

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6. März 2015

D

er Missbrauchsskandal, oder besser gesagt die verstärkte öffentliche Wahrnehmung eines seit Jahrzehnten andauernden skandalösen Zustands durch die Öffentlichkeit und Politik, ist in diesem Jahr nun fünf Jahre her. Es hat sich einiges zum Wohle der Be- troffenen getan, dennoch bleibt im- mer noch sehr viel zu tun. Praxen und Einrichtungen der Heilberufe sollten dafür sorgen, dass sie Schutzorte für heute betroffene Kinder und Jugendliche ebenso wie für in ihrer Kindheit betroffene Personen sind. Hierzu gehört ein

„offenes Ohr“: zum Beispiel non- verbale Hinweise im Wartezimmer wie Plakate des Unabhängigen Be- auftragten der Bundesregierung oder Infomaterial lokaler Bera- tungsstellen, die signalisieren, dass man hier über diese Thematik spre-

chen darf. Gerade weil die Bevöl- kerung in die Heilberufe ein hohes Vertrauen setzt, gilt es, dieses Ver- trauen durch Fortbildung, Weiter- qualifikation, aber auch durch eine adäquate Personalpolitik, zum Bei- spiel Einholung von Führungs- zeugnissen bei Personen, die regel- mäßig mit Kindern arbeiten, zu rechtfertigen.

Heilberufe sind privilegierte Ansprechpartner

Für viele Betroffene ist professio- nelle Hilfe noch vor der Unterstüt- zung durch Angehörige zentral für den Umgang mit ihren belastenden Erfahrungen (1). Das wissen wir aus Berichten von Betroffenen, die in der telefonischen Anlaufstelle der ersten Unabhängigen Beauf- tragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine

Bergmann, von Mai 2010 bis Ok- tober 2011 dokumentiert wurden, und aus Briefen und Mails mit ins- gesamt 6 754 der Forschung zu- gänglichen Datensätzen. Deutlich wurde, dass gerade für die Betrof- fenen, die sich in der Mitte des Le- bens oder auch im höheren Alter entschlossen haben, über ihre Er- fahrungen (erneut) zu sprechen, Angehörige der Heilberufe die pri- vilegierten Ansprechpartner waren, denen sie sich anvertrauten.

Sehr viele Betroffene hatten Er- fahrungen mit Psychotherapie und psychiatrischer Behandlung. Häu- fig wurden verschiedene Zugänge, zu unterschiedlichen Zeiten oder auch kombiniert, gesucht. Zahlrei- che Betroffene bedauerten, keine spezifischen Angebote der Trau- matherapie erhalten zu haben.

Knapp zwei Drittel bewerteten die

Universitätsklinik für Kin- der- und Jugendpsychia- trie und Psychotherapie

Ulm: Prof. Dr. med.

Fegert

Bundespsychotherapeu- tenkammer: Prof. Dr.

phil. Richter

Beide Autoren gehören dem Beirat des Unab- hängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch an.

Foto: iStockphoto

SEXUELLER KINDESMISSBRAUCH

Vertrauen in die Heilberufe

Fünf Jahre ist es her, dass der sogenannte Missbrauchsskandal das Land erschüttert hat. Es hat sich einiges getan und doch noch nicht genug. Ärzte und Psycho -

therapeuten sollten dafür sorgen, dass sie Schutzorte für die Betroffenen anbieten.

Jörg M. Fegert, Rainer Richter

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6. März 2015 A 407 Qualität der Unterstützung und der

Behandlung als gut (31 Prozent) oder eher gut (32 Prozent). Bei der Einschätzung des Erfolgs der Be- handlung waren die Angaben zu- rückhaltender: gut (22 Prozent), eher gut (32 Prozent). Immer wie- der wurde die unterstützende Be- deutung professioneller Hilfe ge- nannt: „Das erste Mal nach so vie- len Jahren sprechen zu können, hat mir gut getan.“ Insofern war es nicht verwunderlich, dass Verbes- serungen in Therapie und Beratung auf die Frage an die Betroffenen, was sie der Politik als Maßnahmen raten würden, noch vor Entschä - digungsfragen, Änderungen im Strafrecht (wie Verjährungsfris- ten), Fragen der Prävention, Auf- klärung und Fortbildung genannt wurden.

Gerade für die Heilberufe for- derten viele Betroffene eine besse- re Ausbildung: „Selbst in Psychia- trien wissen Ärzte oft nicht mit dem Thema umzugehen. Die fra- gen dann direkt nach den Erlebnis- sen und wissen nicht, dass das nicht geht.“ Als Reaktion darauf hat die Unabhängige Beauftragte mit Unterstützung der Bundespsy- chotherapeutenkammer und der Landespsychotherapeutenkammern online eine Umfrage durchgeführt, an der sich rund 2 600 und damit circa sieben Prozent der Psycholo- gischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsycho- therapeuten in Deutschland betei- ligten. Deutlich wurde, dass bei vielen niedergelassenen Psycho-

therapeuten das Thema „Sexueller Missbrauch“ zwar Teil ihrer Aus- bildung war. 85 Prozent wünschten sich aber eine stärkere Berücksich- tigung spezifischer Behandlungs- methoden in ihrer Ausbildung. Es überrascht deshalb nicht, dass die Betroffenen gegenüber der Anlauf- stelle der Unabhängigen Beauf- tragten äußerten, dass im ländli- chen Bereich und insbesondere auch für Männer mehr Angebote in Therapie und Beratung entstehen sollten, und dass keine langen War- tezeiten und aufwendigen Antrags- verfahren den Zugang zur Hilfe blockieren sollten. Immer wieder wurden spezifische Kenntnisse in Traumatherapie eingefordert: „Es ist an der Zeit, dass Traumathera- pie von den Krankenkassen als Leistung anerkannt wird. Es kann nicht angehen, dass sexueller Missbrauch politisch zum Thema wird, und die Krankenkassen das Thema wieder herunterspielen, wenn es um Leistungen geht.“

Allerdings gab es auch Berich- te über Missbrauchserfahrungen im medizinischen oder therapeuti- schen Setting. Insofern wurde auch betont, dass in den Heilberufen si- chergestellt werden müsse, dass Praxen und medizinische Einrich- tungen tatsächlich sichere Schutz-

orte sind. Berichtet wurde sowohl von Übergriffen durch Ärzte als auch durch Psychotherapeuten.

Mehr als ein Drittel der im heilbe- ruflichen Bereich Betroffenen be- richtete von wiederholtem Miss- brauch: „Ich wurde durch einen Psychotherapeuten innerhalb der Therapie über acht Monate hinweg sexuell missbraucht.“ Häufig habe das Umfeld der Erwachsenen auf Versuche der Mitteilung ohne Ver- ständnis reagiert: „Meine Mutter sagte mir, sie glaube nicht, dass der Herr Doktor so was mache. Ich hätte das aus Bosheit erfunden.“

Übergriffe in der geschützten Beziehung Es ist offensichtlich, dass die be- sonders geschützte Beziehung, die privilegierte Arzt-Patienten-Bezie- hung beziehungsweise Psychothe- rapeut-Patienten-Beziehung, ähn- lich wie pastorale Beziehungen, zur sexuellen Ausbeutung von Be- troffenen genutzt wurde. Nicht sel- ten machten sich die Täter dabei das Unwissen oder Halbwissen von Kindern und Jugendlichen zu- nutze, indem sie, fälschlicherwei- se, auf die Schweigepflicht verwie- sen und zum Beispiel betonten:

„Du weißt ja, Schweigepflicht, über das, was wir hier machen,

GRAFIK

Befugnisnorm in Bezug auf die Schweigepflicht im Bundeskinderschutzgesetz (§ 4 KKG) Abgestuftes Vorgehen im Rahmen der Güterabwägung

Stufe 1

Prüfung der eigenen fach - lichen Mittel zur Gefähr- dungsabschätzung und Gefährdungsabwehr

Stufe 2

Hinwirken auf die aktive Inanspruchnahme von Hilfen durch die Personensorge - berechtigten

Stufe 3

Mitteilung an das Jugend- amt (Befugnis) wenn:

Tätigwerden dringend erfor- derlich ist, Personensorge - berechtigte nicht bereit oder nicht in der Lage sind, an Gefährdungseinschätzung oder Abwendung der Gefähr- dung mitzuwirken

Bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung:

Wenn aus Behandlersicht das Tätigwerden des Jugendamtes zur Gefahrenabwendung erforderlich ist

Insofern erfahrene Fachkraft Der Unabhängige Beauftragte der

Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Jo- hannes-Wilhelm Rörig, hat einen Flyer entwickelt, um Angehörige der Heilberufe zu ermutigen, sich recht- zeitig mit der Thematik des Kinder- schutzes, insbesondere des Schut- zes vor sexuellem Missbrauch, und der Hilfe und Intervention auseinan- derzusetzen. Der Flyer liegt diesem Heft bei.

DER FLYER

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6. März 2015 darfst du nicht reden.“ Ganz ähnli-

che Aussagen von Betroffenen hör- ten wir auch über Missbrauchssi- tuationen im Rahmen der Beichte, wo falsche Vorannahmen von Kin- dern zum Beichtgeheimnis genutzt wurden, um ihnen Angst zu ma- chen und ein Schweigegelübde zu verlangen.

Ein transparenter und sachlich kundiger Umgang mit der Schwei-

gepflicht ist deshalb für das Han- deln in den Heilberufen gegenüber Kindern, Jugendlichen und Er- wachsenen zentral. Patientinnen und Patienten müssen über ihre Rechte und den notwendigen Schutz ihrer Privatheit und Intim- sphäre aufgeklärt werden. Dabei muss klar sein, dass dieser Schutz ihnen dient und dass sie dadurch ihr Recht an der informationellen Selbstbestimmung ausüben kön- nen. Die Schweigepflicht bindet nicht die Patienten, sondern die Behandler. Im Bundeskinder- schutzgesetz (BKiSchG), einem Artikelgesetz, das zahlreiche Ver- besserungen zum Kinderschutz eingeführt hat, hat der Gesetzgeber auch das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) verabschiedet und dort mit dem § 4 KKG die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Berufsgeheimnisträger neu geregelt. Darin wurde unter ande- rem für Heilberufe eine Mittei- lungsbefugnis eingeführt (Kasten).

Die Angehörigen der Heilberufe sollen aktiv zur Gefährdungsab- wehr beitragen und aktiv auf die Inanspruchnahme von Hilfen hin- wirken (Grafik). Gelingt dies nicht, haben sie einen Rechtsan- spruch auf Beratung durch eine in- sofern erfahrene Fachkraft, mit der sie anonym vorab klären können, ob sie sich in diesem Fall an das Jugendamt wenden. Diese an sich begrüßenswerte Regelung greift aber derzeit in der Praxis vor al- lem in den Notfallsituationen, im

Nachtdienst oder am Wochenende kaum, da diese Beratungsangebote mit zu großer zeitlicher Latenz er- folgen oder zu wenig auf die spezi- fischen Fragestellungen der Ange- hörigen der Heilberufe vorbereitet sind. Der parlamentarische Unter- suchungsausschuss zum Fall Yag- mur in Hamburg beispielsweise, der vor kurzem einen mehrere hun- dert Seiten starken Bericht vorge-

legt hat, hat deutlich gemacht, dass zahlreiche Gefährdungsmo- mente damit zusammenhingen, dass Übersetzungsleistungen zwischen medizinischer Befunderhebung und Interpretation der Bedeutung der Befunde für eine drohende Kindeswohlgefährdung unterblie- ben sind.

Tatsächlich gibt es in Deutsch- land auch im Bereich der Medizin zahlreiche Fortbildungsangebote im Kinderschutz, doch reichen sie weder von der Art des Ange- bots (meist ein- bis dreistündige Einführungsveranstaltungen) noch von der Zugänglichkeit aus, um der Dimension der Problematik zu ent- sprechen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat deshalb – angeregt vom runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch – die Entwicklung eines E-Lear- ning-Programms zu Prävention und Intervention bei sexuellem Missbrauch (http://missbrauch.ele- arning-kinderschutz.de/) gefördert.

Dieses von der Ärztekammer Ba- den-Württemberg mit 80 Fortbil- dungspunkten anerkannte Pro- gramm wurde von den zahlreichen Teilnehmern sehr positiv evaluiert.

Die Grundlagentexte und Evaluati- onsergebnisse liegen auch als Fachbuch vor (2). Dank der Förde- rung durch das Sozialministerium

Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG):

§ 4 Beratung und Übermittlung von In- formationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung

(1) Werden Ärzten, Hebammen oder Ent- bindungspflegern, Berufspsychologen, Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Ju- gendberatern, Suchtberatern, Schwan- gerschaftskonfliktberatern, Sozialarbei- tern, Sozialpädagogen sowie Lehrern in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit ge- wichtige Anhaltspunkte für die Gefähr- dung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inan- spruchnahme von Hilfen hinwirken, so- weit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.

(2) Die Personen nach Absatz 1 ha- ben zur Einschätzung der Kindes-

wohlgefährdung gegenüber dem Trä- ger der öffentlichen Jugendhilfe An- spruch auf Beratung durch eine inso- weit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymi- sieren.

(3) Scheidet eine Abwendung der Ge- fährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Ju- gendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffe- nen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Fra- ge gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen.

DIE MITTEILUNG SBEFUG NIS

Die Heilberufe sollen aktiv zur Gefährdungsabwehr beitragen und aktiv auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken.

Gelingt dies nicht, soll eine insofern erfahrene Fachkraft beraten.

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6. März 2015 A 409 Baden-Württemberg und der An-

schlussförderung durch die UBS- Optimus Foundation gibt es ein in- terdisziplinäres E-Learning-Pro- gramm zu sogenannten Frühen Hilfen (https://fruehehilfen-bw.de/

login/index.php), das heißt präven- tiven Maßnahmen und frühe Inter- ventione gegen Vernachlässigung und andere Formen der Kindes- wohlgefährdung im frühen Ent- wicklungsalter. Die Teilnehmer dieser Programme betonen immer wieder, dass ein wesentlicher Er- folgsfaktor das Kennenlernen der Perspektiven anderer Berufe und das Entwickeln einer gemeinsamen Sprache im Kinderschutz darstellt.

S3-Leitlinie Kinderschutz soll erstellt werden

Bislang bestanden bei der Arbeits- gemeinschaft der wissenschaftli- chen medizinischen Fachgesell- schaften unterschiedliche Leitlini- en für den Kinderschutz, für den Bereich der Kinderheilkunde, für den Bereich der Sozialpädiatrie und für die Kinder- und Jugend- psychiatrie und Psychotherapie. Es ist sehr zu begrüßen, dass das Bun- desministerium für Gesundheit nun einen Projektantrag der AG Kin- derschutz in der Medizin fördert (www.ag-kim.de), um eine empi- risch auf höchstem Niveau abgesi- cherte S3-Leitlinie zu erstellen, die auch den Konsens der Akteure im Kinderschutz herstellt. Dieser Pro- zess wird einige Zeit benötigen.

Derzeit sind die neuen Regelungen durch das Bundeskinderschutzge- setz vielen Angehörigen der Heil- berufe noch nicht hinreichend be- kannt. Es lohnt sich, sich schon frühzeitig ohne konkreten Anlass in seinem Arbeitsbereich mit die- sen Fragestellungen auseinander- zusetzen, sich Adressen und Tele- fonnummern, wichtige Ansprech- partner zu notieren, um im Be- darfsfall dann rasch unterstützend reagieren zu können. Hilfreich können dabei auch die zunehmend an vielen Orten entstandenen Kin- derschutzambulanzen und Kompe- tenzzentren im Kinderschutz sein.

Bis 2013 war aufgrund einer Dokumentierverordnung und einer Kodierrichtlinie des DIMDI die

Verwendung der offiziellen Diag- nosen aus der ICD-10 GM für Ver- nachlässigung, Misshandlung und Missbrauch verboten. Es gab keine Abrechnungsziffer für die komple- xe, interdisziplinäre Abklärung entsprechender Verdachtsfälle im Krankenhaus und damit oft auch keine Finanzierungsgrundlage für Kinderschutzambulanzen im Me- dizinsystem. Dies hat sich glückli- cherweise geändert, so dass man hoffen kann, dass diese Ambulan- zen sich in Deutschland, ähnlich wie in der Schweiz, nun dauerhaft etablieren können. Die Kompe- tenzzentren sind meist als Modell- projekte gefördert und tragen maß- geblich zu Innovationen und Ver- besserungen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung in den Heilberufen bei. Auch ihre Verstetigung ist an- zustreben. Ebenfalls erst seit der Einführung des Bundeskinder- schutzgesetzes wird in der soge- nannten Dortmunder Jugendhilfe- statistik – zum ersten Mal bundes-

weit – die Zahl der Verdachtsfälle im Kinderschutz in den deutschen Jugendämtern erfasst.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2015; 112(10): A 406–9

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. Jörg M. Fegert Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm, Steinhövelstraße 5,

89075 Ulm

LITERATUR

1. Fegert JM, Rassenhofer M, Schneider T, Spröber N, Seitz A (eds): Sexueller Kindes- missbrauch – Zeugnisse, Botschaften, Kon- sequenzen – Ergebnisse der Begleitfor- schung für die Anlaufstelle der Unabhängi- gen Beauftragten der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmiss- brauchs, Frau Dr. Christine Bergmann, Ju- venta, Beltz 2013.

2. Fegert JM, Hoffman U, König E, Niehues J, Liebhardt H: Sexueller Missbrauch von Kin- dern und Jugendlichen. Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich, Springer 2015.

Fünf Jahre nach Bekannt- werden der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg haben Sie vor kurzem Bilanz Ihrer Arbeit gezogen. Sind Kinder heute besser ge- schützt?

Johannes-Wilhelm Rörig: Der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt ist leider noch kein ge- lebter Alltag in Deutschland. Die Sensibilität in Kitas, Schulen, Sportvereinen und Kirchenge- meinden ist aber gewachsen, die Öffentlichkeit ist aufmerksa- mer, das Strafrecht wurde bei- spielsweise verschärft. Das darf aber nicht darüber hinwegtäu- schen, dass wir Kindern oft nicht den möglichen Schutz bieten, auch dort nicht, wo längst Handlungsmöglichkeiten bestehen. Außerdem fehlt es leider weiterhin vielerorts an fi- nanziell abgesicherten speziali-

sierten Beratungsstellen für Missbrauchsopfer und ihre An- gehörigen.

Sie haben auch darauf auf- merksam gemacht, dass es an Therapieplätzen mangelt.

Wen sehen Sie hier in der Pflicht?

Rörig: Vor allem in ländlichen Regionen stehen nicht genü- gend passgenaue Therapieplät- ze zur Verfügung. An erster Stelle sehe ich hier die thera- peutische Aus-, Fort- und Wei- terbildung in der Pflicht. Darü- ber hinaus sollte es aber auch ein niedrigschwelliges Informa- tions- und Beratungssystem geben, damit Betroffene schnell die passende Hilfe erhalten.

Diese Herausforderung ist den Akteuren im Gesundheitsbe- reich bekannt und ich weiß, dass hieran gearbeitet wird.

Was wünschen Sie sich von Politik und Selbstverwal- tung?

Rörig: Die Erfahrungen von Be- troffenen bei der Suche nach ge- eigneten Therapien müssen ernst genommen werden. Es reicht nicht aus, zahlenmäßig genügend Therapieplätze nachweisen zu können. Für Betroffene muss der Zugang zu einer geeigneten The- rapie konkret erleichtert werden.

Für das Gesundheitswesen wünsche ich mir zudem, dass Betroffene sexueller Gewalt in Praxen und Kliniken kompetente Ansprechpersonen finden und es auch geschützte Orte sind, an denen kein Missbrauch statt- findet. Wir wissen, dass hier be- reits gute Schutzmaßnahmen angewendet werden. Ich möch- te mehr Kliniken und auch am- bulante Praxen dafür gewinnen, diesen wichtigen Weg zu gehen.

3 FRAGEN AN . . .

Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Missbrauchs

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