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Archiv "Schizophrenie: Rückfallverhütung durch Neuroleptika" (17.12.1993)

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MEDIZIN ZUR FORTBILDUNG

Schizophrenie: Rückfallverhütung durch Neuroleptika

Werner Kissling

ie Behandlungsmöglichkei- ten schizophrener Psychosen haben sich seit der Entdek- kung der Neuroleptika Ende der fünfziger Jahre drastisch verbes- sert. Während in der vorneurolepti- schen Ära die Schizophreniebehand- lung trotz der zum Teil recht heroi- schen Behandlungsmethoden nicht sehr erfolgreich war und die Patien- ten deshalb häufig lebenslang in psychiatrischen Anstalten unterge- bracht werden mußten, können schi- zophrene Patienten heute wesentlich wirksamer behandelt werden. Mit Hilfe der Neuroleptika werden die meisten akuten schizophrenen Schü- be rasch zur Remission gebracht, und die durchschnittlichen stationären Behandlungszeiten haben sich seit- her drastisch verkürzt. Auch die be- rufliche Reintegration und die psy- chosoziale Rehabilitation schizo- phrener Patienten — heute ein selbst- verständlicher Bestandteil moderner Schizophreniebehandlung — wären ohne die Neuroleptika nicht durch- führbar.

Durch eine Langzeitbehandlung mit Neuroleptika war es darüber hin- aus erstmals möglich geworden, die Rückfallrate dieser chronisch rezidi- vierenden psychiatrischen Erkran- kung deutlich zu senken. Diese rezi- divprophylaktische Effizienz konnte inzwischen in mehr als 40 plazebo- kontrollierten Studien mit einer Ein- deutigkeit nachgewiesen werden, wie sie von kaum einer anderen psychia- trischen Therapie erreicht wird:

Wenn man die aussagekräftigsten Studien zusammenfaßt, zeigt sich, daß durch eine Langzeitbehandlung mit Neuroleptika die Einjahresrezi- divrate schizophrener Psychosen von etwa 75 Prozent auf 15 Prozent ge- senkt werden kann (5).

Leider wird aber dieses rezidiv- prophylaktische Potential sowohl von den betroffenen Patienten wie auch

Obwohl mit den Neuroleptika seit fast 40 Jahren eine wirksame Rezi- divprophylaxe bei schizophrenen Psy- chosen zur Verfügung steht, ist der tatsächliche Verlauf dieser Krankheit nach wie vor sehr unbefriedigend. 50 Prozent der Patienten erleiden be- reits im ersten Jahr ein Rezidiv, und nur wenige bleiben über längere Zeit rückfallfrei. Dies liegt in der Haupt- sache daran, daß bei vielen Patienten keine Prophylaxe durchgeführt wird.

Gestützt auf die Behandlungsempfeh- lungen einer internationalen Konsen- suskonferenz werden Möglichkeiten einer weitaus konsequenteren Rezi- divprophylaxe vorgestellt.

von vielen Ärzten noch nicht optimal genutzt. Naturalistische Studien zei- gen übereinstimmend, daß nur bei 40 Prozent der schizophrenen Patien- ten, bei denen eine neuroleptische Rezidivprophylaxe indiziert wäre, diese auch tatsächlich durchgeführt wird (4). Und selbst dort, wo eine Prophylaxe begonnen wird, wird sie häufig viel zu früh wieder abgebro- chen.

Infolge dieser insuffizienten Pro- phylaxe liegt unter den heutigen Rou- tinebehandlungsbedingungen die tat- sächliche Rückfallrate immer noch bei fast 50 Prozent im ersten Jahr (2), das heißt um mehr als das Dreifache (!) über der eigentlich erreichbaren Rate von 15 Prozent.

Verstärkte Bemühungen um ei- ne Senkung dieser hohen Rezidivra- ten sind nicht nur im Interesse der

Psychiatrische Klinik und Poliklinik der TU München, Klinikum rechts der Isar (Direk- tor: Prof. Dr. med. Hans Lauter)

betroffenen Patienten und ihrer Fa- milien wünschenswert, sondern auch deshalb, weil die psychiatrischen Kliniken durch die hohen Wieder- aufnahmeraten zunehmend an den Rand ihrer Belastbarkeit kommen.

Als ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Senkung der Rezidivraten wur- de 1989 eine Internationale Konsen- suskonferenz einberufen, mit dem Ziel, präzise Behandlungsstandards für die neuroleptische Rezidivpro- phylaxe zu formulieren. Auf der Ba- sis dieser Behandlungsstandards soll- ten dann Patienten und Ärzte zur Durchführung einer konsequenteren Schizophrenieprophylaxe motiviert werden. Aus diesen im letzten Jahr publizierten Therapierichtlinien (5)

sollen im folgenden die für die prak- tische Behandlung wichtigsten Aus- sagen zusammengefaßt werden.

Indikation

Ob bei einem Patienten eine neuroleptische Rezidivprophylaxe in- diziert ist, hängt — wie bei jeder Pro- phylaxe — vom Rückfallrisiko, vom Nebenwirkungsrisiko und selbstver- ständlich von der Wirksamkeit der Prophylaxe ab. Nachdem die rezidiv- prophylaktische Wirksamkeit der Neuroleptika unbestritten ist, redu- ziert sich die Indikationsfrage auf ei- ne Risiko/Nutzen-Abwägung, in die einerseits das Risiko der Neurolepti- kanebenwirkungen, andererseits der Nutzen einer verminderten Rückfall- gefahr eingehen. Daß diese Rückfall- prophylaxe in Deutschland derzeit nur bei etwa 40 Prozent der schi- zophrenen Patienten durchgeführt wird, hängt zum einen mit der Non- Compliance schizophrener Patienten, zum anderen aber auch mit einer zu zurückhaltenden Indikationsstellung von ärztlicher Seite zusammen Da die Hauptursache für diese Zurückhal- A1-3370 (34) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 50, 17. Dezember 1993

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rezidivfreie Zeit (unter Neuro-

leptika) vor dem Ab- setzen (Jahre)

Katamnese- dauer nach Absetzen

(Monate)

Autor Rezidiv-

rate

41 23 32 30 60 14 70

65 53 94 62 80 100 56 Hogarty et al.

(1976)

Johnson (1976) Dencker et al.

(1980)

Cheung (1981) Johnson (1979) Wistedt (1981) Odejide und Aderounmu (1982)

2-3 1-2 2 3-5 1-4 1/2 1

12 6 24 18 18 12 12

Tabelle 2: Rezidivrate nach Absetzen der Neuroleptika bei langfristig remittierten Schizophrenen

n -= 270 = 73%

relativ häufige: relativ seltene:

Tabelle 1: Nebenwirkungen der Neurolept ka

Parkinsonoid Sitzunruhe

Früh- und Spätdyskinesie Sedierung

Hypotonie Gewichtszunahme

reversible Leberwerterhöhungen benigne Leukopenien

anticholinerge Wirkungen

Agranulozytosen

ophthalmologische Störungen zerebrale Krampfanfälle sexuelle Störungen allergische Reaktionen

MED Z

tung in der Bewertung des Rückfallri- sikos und des Nebenwirkungsrisikos liegen dürfte, soll auf diese beiden für die Indikationsstellung entscheiden- den Faktoren hier etwas ausführlicher eingegangen werden:

a) (Individuelles) Rückfallrisiko

Alle Verlaufsstudien zeigen übereinstimmend, daß die Schizo- phrenie nach wie vor eine chronische Erkrankung mit einem sehr hohen Rezidivrisiko ist. Wenn keine neuro- leptische Rezidivprophylaxe durchge- führt wird, erleiden in einer gemisch- ten Patientenpopulation (Erst- und Mehrfacherkrankte) im ersten Ka- tamnesejahr circa 75 Prozent, im zwei- ten Jahr bis zu 90 Prozent der schi- zophrenen Patienten einen, meistens sogar mehrere, Rückfälle (9). Und es ist leider nach dem derzeitigen Wis- sensstand nicht möglich, die wenigen Patienten (wahrscheinlich weniger als zehn Prozent) im voraus zu identifizie- ren, die auch ohne neuroleptische Pro- phylaxe rezidivfrei bleiben würden, also eigentlich keine Neuroleptika bräuchten. Vor dem Hintergrund die- ser Daten ist also in der Praxis bei je- dem Patienten von einem hohen Rückfallrisiko auszugehen.

ZUR FORTBILDUNG

b) Nebenwirkungsrisiko Die Mehrzahl der Neuroleptika- nebenwirkungen (Tabelle 1) manife- stiert sich bereits während der Akut- behandlung und kann deshalb in der Regel vom Patienten selbst in seine Risiko/Nutzen-Abwägung einbezo- gen werden. Aufgabe des behandeln- den Arztes ist es, die Nebenwir- kungsrate frühzeitig durch eventuel- len Präparatewechsel, durch Dosis- anpassung oder Zusatzmedikation (s.

unten) so gering wie möglich zu hal- ten und den Patienten darüber zu in- formieren, daß ein Teil der Neben- wirkungen im Verlauf der niederdo- sierten Langzeitbehandlung voraus-

sichtlich wieder zurückgehen wird.

Wesentlich schwieriger ist die Bewer- tung von möglichen Spätnebenwir- kungen, in erster Linie des Risikos von Spätdyskinesien. Hierbei handelt es sich um unwillkürliche Hyperkine- sien, die überwiegend im orofazialen Bereich auftreten, aber auch prak- tisch alle anderen Muskelgruppen betreffen können. Obwohl viele Aspekte dieser Nebenwirkung wis- senschaftlich noch nicht ausreichend geklärt sind, kann man heute davon ausgehen, daß diese Dyskinesien nach einer einjährigen Neuroleptika- behandlung bei etwa vier Prozent der behandelten Patienten auftreten. In den ersten fünf bis sechs Jahren scheinen diese Dyskinesien dann pro Behandlungsjahr bei weiteren vier Prozent der Patienten aufzutreten, so daß nach einer fünfjährigen Be- handlungszeit bei fast 20 Prozent der Patienten Zeichen einer Spätdyski- nesie festzustellen sind (3). Aller- dings gibt es auch bei nie mit Neuro- leptika behandelten vor allen Dingen älteren Menschen derartige Dyskine- sien. Wenn man die Inzidenz dieser spontanen Dyskinesien (fünf Pro- zent) mitberücksichtigt, kann man davon ausgehen, daß 15 bis 20 Pro- zent der langjährig mit Neuroleptika behandelten Patienten neuroleptika- induzierte Spätdyskinesien zeigen.

Glücklicherweise sind die meisten dieser Dyskinesien im Schweregrad nur gering ausgeprägt, nach Absetzen der Neuroleptika reversibel und auch nicht progredient, wenn Neurolepti- ka weiter gegeben werden müssen.

Die Inzidenz von schweren und irre- versiblen Spätdyskinesien wird auf weniger als ein Prozent geschätzt (7).

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 50, 17. Dezember 1993 (35) A1-3371

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..,. Da es also nicht möglich ist, die wenigen Patienten im voraus zu iden- tifizieren, die auch ohne neurolepti- schen Schutz rückfallfrei bleiben würden, und angesichts der schweren sozialen Folgen jedes schizophrenen Rückfalls erscheint eine neurolepti- sche Rezidivprophylaxe bei allen schizophrenen Patienten indiziert.

Ausgenommen hiervon sind lediglich die Patienten, bei denen die Neuro- leptikanebenwirkungen schwerwie- gender sind als die möglichen Folgen eines schizophrenen Rückfalls, sowie Patienten mit nur wenige Tage an- dauernden, sehr milde verlaufenden schizophrenen Episoden.

Dauer

Zusammen mit der Indikations- stellung ist wahrscheinlich die Wahl der Prophylaxedauer entscheidend für den weiteren Verlauf einer schi- zophrenen Psychose. Die ärztliche Prophylaxeempfehlung, fast immer konfrontiert mit dem verständlichen Patientenwunsch nach möglichst kur- zen Behandlungszeiten, muß sich auch hier an einer Risiko/Nutzen- Abwägung orientieren und versu- chen, unnötige Rückfälle infolge zu kurzer Prophylaxezeiten ebenso zu vermeiden wie zusätzliche Nebenwir- kungsrisiken infolge zu langer Be- handlung.

Prophylaxedauer nach einer schizophrenen Ersterkrankung

Nach Abklingen des ersten schi- zophrenen Schubs wird derzeit nur bei wenigen Patienten eine konse- quente neuroleptische Rezidivpro- phylaxe durchgeführt. Bereits von ärztlicher Seite wird 30 Prozent die- ser Patienten überhaupt keine Pro- phylaxe empfohlen, weiteren 35 Pro- zent wird lediglich eine sehr kurze Behandlung über drei bis sechs Mo- nate nahegelegt (6). Aber selbst wenn schizophrenen Patienten nach einer Ersterkrankung ärztlicherseits eine Prophylaxe empfohlen wird, ak- zeptiert dies nur jeder vierte Patient, das heißt die Non-Compliance-Rate ist in dieser Gruppe mit 75 Prozent besonders hoch. Die Hauptursache

ZUR FORTBILDUNG

dafür, daß sowohl von ärztlicher Sei- te wie auch von Seiten der Patienten eine Rezidivprophylaxe nicht für er- forderlich gehalten wird, dürfte darin liegen, daß das Rezidivrisiko nach ei- ner schizophrenen Ersterkrankung als sehr gering eingeschätzt wird (6).

Neuere plazebokontrollierte Rück- fallstudien zeigen allerdings, daß die- se Einschätzung leider viel zu optimi- stisch ist: Wenn keine neurolepti- sche Rezidivprophylaxe durchgeführt wird, liegt die Rückfallrate bei Erst- erkrankten im ersten Jahr bei 60 Pro- zent, im zweiten Jahr bei 80 Prozent

Prophylaxedauer ab dem 2. schizophrenen Schub

Prospektive plazebokontrollierte Rezidivprophylaxestudien mit dieser Patientengruppe zeigen, daß ohne neuroleptische Behandlung die Rück- fallrate im ersten Jahr bei 75 Prozent (5), im zweiten Jahr sogar zwischen 80 und 90 Prozent (9) liegt. Prospektive, plazebokontrollierte Absetzstudien zeigen, daß dieses hohe Rückfallrisiko mindestens über fünf Jahre nahezu unverändert fortbesteht (Tabelle 2).

Angesichts des hohen und sehr lange anhaltenden Rückfallrisikos

..,. sollten schizophrene Patienten ab der zweiten Episode eine neurolepti-

(5). Das heißt, beim derzeitigen Wis- sensstand, denn weiterführende pla- zebokontrollierte Studien sind ver- ständlicherweise aus ethischen Grün- den kaum mehr durchführbar, ist da- von auszugehen, daß auch schizo- phrene Ersterkrankte ein hohes Re- zidivrisiko haben, das nicht wesent- lich unter dem von Mehrfacher- krankten liegt.

..,. Nach Remission einer schizo- phrenen Ersterkrankung sollte des- halb mindestens ein bis zwei Jahre lang eine neuroleptische Rezidivpro- phylaxe durchgeführt werden.

sehe Rezidivprophylaxe für minde- stens fünf Jahre durchführen. Bei Pa- tienten mit selbst-oder fremdgefähr- lichem Verhalten während früherer psychotischer Episoden kann eine neuroleptische Rezidivprophylaxe für längere, eventuell unbegrenzte Zeiträume indiziert sein.

Die obengenannten Behand- lungsempfehlungen sind allerdings nur als Mindestbehandlungszeiten aufzufassen, da sie bewußt knapp auf den Zeitraum beschränkt sind, der durch prospektive plazebokontrol- lierte Studien belegt ist. Dies bedeu- tet aber nicht, daß nach Ablauf die- ser Zeiten das Rezidivrisiko abnimmt und eine weitere prophylaktische Be- handlung nicht mehr notwendig ist.

Zahlreiche offene Studien zeigen im

Tabelle 3: Mindestdosen der neuroleptischen Rezidivprophylaxe (bei Unterschreiten die- ser Dosen steigen die Rezidivroten deutlich an)

Fluphenazindecanoat 6,5-12,5 mg alle 2 Wochen (Dapotum D, Lyogen-Depot)

Flupentixoldecanoat 20 mg alle 2 Wochen (Fluanxol Depot)

Haloperidoldecanoat 50-60 mg alle 4 Wochen (Haldol-Janssen Decanoat)

Haloperidol (oral) 2,5 mg täglich (Haldol-J anssen, Sigaperidol)

Fluphenazin (oral) 2,5 mg täglich (Dapotum, Lyogen)

Internationale Konsensuskonferenz über "Richtlinien zur neuroleptischen Rezidivpro- phylaxe" in Brügge 19./20. 4. 1989. Consensus Commitee: W. Kissling, J. M. Kane, T. R. E.

Barnes, S. J. Dencker, W. W. Fleischhacker, M. J. Goldstein, D. A. W. Johnson, S. R.

Marder, F. Müller-Spahn, J. Tegeler, B. Wistedt, B. Woggon.

A1-3372 (36) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 50, 17. Dezember 1993

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MEDIZIN

Gegenteil klar, daß ein hohes Rück- fallrisiko auch über die genannten Zeiten hinaus fortbesteht. Die Pa- tienten müssen nach Ablauf der Min- destbehandlungszeiten deshalb auf dieses fortbestehende Rezidivrisiko hingewiesen werden und über eine eventuelle Verlängerung der Prophy- laxe dann individuell entscheiden.

Dosierung

Die optimale Dosierung der neuroleptischen Rezidivprophylaxe ist aus mehreren Gründen sehr wich- tig, gleichzeitig aber auch sehr schwierig. Wichtig unter anderem deshalb, weil der ambulant behandel- te, häufig noch am Arbeitsprozeß teilnehmende Patient möglichst nicht durch Nebenwirkungen in seiner Ar- beitsfähigkeit oder Lebensqualität beeinträchtigt werden sollte. Ande- rerseits sollte auch nicht durch Un- terdosierung ein unnötiges Rezidiv verursacht werden, weil selbstver- ständlich auch hierunter die Lebens- qualität des Patienten leidet. Schwie- rig ist das Austarieren der optimalen Dosierung vor allen Dingen deshalb, weil sich bei der Prophylaxe, im Ge- gensatz zur Akutbehandlung, eine Unterdosierung nicht sofort, sondern erst mit einer Latenz von fünf bis neun Monaten durch ein erneutes Rezidiv bemerkbar macht. Das heißt, die noch ausreichend prophylaktisch wirksame Mindestdosis kann nicht im Einzelfall austitriert werden. Aus dieser Schwierigkeit ergeben sich für die praktische Behandlung folgende Konsequenzen:

Wenn man bei einem Patienten, beispielsweise wegen Nebenwirkun- gen, die Neuroleptikadosis reduzie- ren muß und wissen möchte, wie weit man dabei gehen kann, ohne das Re- zidivrisiko zu erhöhen, kann man sich an zwei Werten orientieren:

1. An Erfahrungen dieses Patienten bei früher durchgeführten Dosisre- duktionen, die einem unter Umstän- den zeigen, ab wann dieser Patient un- terdosiert und damit vermehrt rück- fallgefährdet ist. Wenn man allerdings die Vorerfahrungen des Patienten auf diese Weise nützen will, muß man die oben angesprochene fünf- bis neun- monatige Latenz zwischen Unterdo-

ZUR FORTBILDUNG

sierung und Rückfall berücksichtigen.

2. Wenn derartige Informationen aus der Vorgeschichte, zum Beispiel bei Ersterkrankungen, nicht zur Ver- fügung stehen, sollten vor Ablauf der Mindestbehandlungszeiten möglichst die in Tabelle 3 genannten Mindest- dosen nicht unterschritten werden (Ausnahme: intolerable, anders nicht beherrschbare, Nebenwirkungen).

Die genannten Dosierungen basieren auf kontrollierten Dosisvergleichs- studien (5). Beim Unterschreiten die- ser Mindestdosen muß mit einem er- heblich gesteigerten Rückfallrisiko gerechnet werden. In den ersten Mo- naten der prophylaktischen Behand- lung sollte allerdings möglichst noch eine mittlere Neuroleptikadosis (ent- sprechend 5 bis 15 mg oral applizier- tem Haloperidol täglich) beibehalten werden, weil die Psychose in dieser Zeit oft noch nicht völlig abgeklun- gen ist und der Entlassungsstreß eine zusätzliche Gefahr für die psychische Stabilität des Patienten darstellt.

Applikationsform

Die Neuroleptika können entwe- der täglich oral eingenommen oder in mehrwöchentlichen Abständen intra- muskulär injiziert werden (Depot- neuroleptika). Prinzipiell sind beide Applikationsformen gleich wirksam, und auch in kontrollierten Ver- gleichsstudien waren die Rezidivra- ten unter oralen Neuroleptika nicht signifikant höher als unter einem De- potneuroleptikum. Unter Routinebe- handlungsbedingungen allerdings ha- ben Depotneuroleptika den Vorteil, daß mit ihrer Hilfe die Compliance leichter aufrechterhalten werden kann beziehungsweise, daß zumin- dest Non-Compliance sofort bemerkt wird. Wenn der Patient damit einver-

standen ist und wenn von dem ge- wählten Neuroleptikum eine Depot- form zur Verfügung steht, sollte aus Compliance-Gründen deshalb in der Regel die neuroleptische Rezidiv- prophylaxe mit Depotneuroleptika durchgeführt werden. Eine orale Langzeitmedikation kommt zum Bei- spiel für compliante Patienten in Fra- ge, denen die regelmäßigen Injektio- nen unangenehm sind. Wenn dies möglich ist, sollte die prophylaktische

Langzeitmedikation mit dem glei- chen Neuroleptikum durchgeführt werden, das sich bei der Akutbe- handlung bewährt hat.

Nebenwirkungen, Zusatzmedikation

Die Nebenwirkungen der Neu- roleptika lassen sich im wesentlichen auf deren verschiedene Neurotrans- mitterwirkungen zurückführen (siehe Tabelle 1). Sie spielen bei der neuro- leptischen Rezidivprophylaxe eine besonders wichtige Rolle, da be- fürchtete und tatsächliche Nebenwir- kungen die Hauptursachen für die hohe Non-Compliance sind. Versu- che, die hohen Rezidivraten über ei- ne Complianceverbesserung zu sen- ken, haben desto größere Erfolgs- chancen, je eher es gelingt, die Neu- roleptikabehandlung möglichst ne- benwirkungsarm zu gestalten. Dies gilt auch für die Akutbehandlung, da sich die meisten Neuroleptikaneben- wirkungen bereits in dieser Phase manifestieren und die Bereitschaft des Patienten für eine längerfristige Prophylaxe entscheidend beeinflus- sen. Eine rechtzeitige, offene und umfassende Aufklärung über die zu erwartenden Nebenwirkungen ist nicht nur wegen der Aufklärungs- pflicht geboten, sondern sie ist auch eine wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer längerfristi- gen, stabilen Compliance

Beim Auftreten eines neurolep- tischen Parkinsonoids sollte eine Do- sisreduktion, ein Präparatewechsel und/oder die zusätzliche Gabe von Anticholinergika (zum Beispiel Bipe- riden) erwogen werden.

Die häufig im Verlauf einer schi- zophrenen Psychose auftauchenden depressiven Syndrome werden — vor allen Dingen von Patienten — oft als Neuroleptikanebenwirkungen inter- pretiert. Die Mehrzahl der wissen- schaftlichen Studien zeigt allerdings, daß Depressionen überwiegend Teil der schizophrenen Grunderkrankung sind und gleich häufig auch bei unbe- handelten schizophrenen Patienten beobachtet werden (8). Neurolepti- sehe Akinese, gelegentlich differenti- aldiagnostisch schwer von einer De- pression abzugrenzen, bessert sich in der Regel unter Dosisreduktion oder Gabe von Anticholinergika.

A1-3374 (38) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 50, 17. Dezember 1993

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MEDIZIN

Beenden der Prophylaxe Wenn nicht durch Nebenwirkun- gen oder Noncompliance ein vorzei- tiger Behandlungsabbruch erzwun- gen wird, sollte die neuroleptische Rezidivprophylaxe in der Regel bei Ersterkrankten mindestens ein bis zwei Jahre, bei mehrfach Erkrankten mindestens fünf Jahre durchgeführt werden. Danach muß der Patient auf der Basis einer erneuten Risiko/Nut- zen-Analyse unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen, des bisherigen Krankheitsverlaufs und seiner jeweili- gen Lebenssituation über eine Fort- führung oder Beendigung der prophy- laktischen Behandlung entscheiden.

Wenn man sich dazu entschließt, die Prophylaxe zu beenden, sollte dies nicht abrupt, sondern stets langsam und ausschleichend geschehen. Da im ersten Jahr nach dem Absetzen der Neuroleptika das Rezidivrisiko beson- ders hoch ist, muß der Patient in die- sem Zeitraum engmaschig betreut und auf Frühwarnzeichen eines Rezidivs hingewiesen werden.

Ausblick

Die Behandlungsrichtlinien der Konsensuskonferenz, von denen hier die wichtigsten auszugsweise wieder- gegeben wurden, sollen zu einer Ver- besserung der Qualität und zu einer einheitlicheren Handhabung der neuroleptischen Rezidivprophylaxe beitragen. Vor allen Dingen durch die darin vorgeschlagene breitere In- dikationsstellung und die, verglichen mit den jetzigen Behandlungsge- wohnheiten, (6) längeren Prophyla- xezeiten könnte die dringend erfor- derliche Senkung der nach wie vor viel zu hohen Rezidivraten schizo- phrener Psychosen erreicht werden.

Wenn es auf der anderen Seite ge- lingt, die durchschnittlichen Neuro- leptikadosen bei dafür geeigneten Patienten bis zu den relativ niedrigen Mindestdosen zu reduzieren, könnte dies zu einer deutlichen Senkung der Nebenwirkungsrate und damit mögli- cherweise zu einer gesteigerten Ak- zeptanz der Prophylaxe führen. Die durch diese Richtlinien angestrebte Vereinheitlichung der ärztlichen Prophylaxeempfehlungen wäre ihrer-

ZUR FORTBILDUNG / FUR SIE REFERIERT

seits sicher auch compliance-för- dernd. Darüber hinaus sind aber spe- zifische Bemühungen erforderlich, um schizophrene Patienten und ihre Angehörigen wesentlich intensiver und professioneller als bisher über die Chancen einer Rezidivprophyla- xe aufzuklären. Mehrere wissen- schaftliche Studien haben inzwischen gezeigt, daß — ähnlich wie bei der Herz-Kreislauf-Prophylaxe oder der Diabetesbehandlung — durch psycho- edukative Programme für Patienten und Angehörige die Prophylaxe- Compliance deutlich gesteigert und die Rezidivraten gesenkt werden können (1). Wie in anderen medizi- nischen Disziplinen könnten so auch in der Psychiatrie durch eine bessere Prophylaxe viele Akutbehandlungen überflüssig gemacht werden. Modell- rechnungen haben gezeigt, daß durch eine Steigerung der Compliance von derzeit 40 Prozent auf 80 Prozent die erschreckend hohen Rezidivraten schizophrener Psychosen fast hal- biert werden könnten (5). Wenn man bedenkt, wieviel menschliches Leid und welch immense Behandlungsko- sten durch diese unnötig hohen Rezi- divraten verursacht werden, er- scheint eine konsequentere Rückfall- prophylaxe sehr wünschenswert.

Deutsdies Ärzteblatt

90 (1993) A 1-3370-3375 [Heft 50]

Literatur:

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2. Gaebel W., A. Pietzcker: One-year-out- come of schizophrenic patients — the inter- action of chronicity and neuroleptic treat- ment. Pharmacopsychiat. 18 (1985) 235-239

3. Kane, J. M., Woerner M., Borenstein M., Wegner J., Lieberman J.: Integrating inci- dence and prevalence of tardive dyskinesia.

Psychopharmacol. Bull 22: (1986) 254-258 4. Kissling W.: Depot neuroleptics — a step forward? Consensus regarding indication for prophylactic neuroleptic treatment — necessary, but unattainable? In: Depot Neuroleptics: A Consensus. Ed. TRE Bar- nes, Mediscript, London: (1988) 41-46 5. Kissling W. (Hrsg.): Guidelines for Neuro-

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7. Marsden C. D.: Is tardive dyskinesia a uni- que disorder? In: Casey D. E., Chase T. N., Christensen A. V., Gerlach J. (eds): Dyski- nesia — research and treatment. Springer, Berlin-Heidelberg-New York (1985) 8. Müller H. J., von Zerssen D.: Depressive

Symptomatik im stationären Behandlungs- verlauf von 280 schizophrenen Patienten.

Pharmacophsychiatrie 14 (1981) 172-179 9. Müller P. (Hrsg.): Zur Rezidivprophylaxe

schizophrener Psychosen. Enke, Stuttgart (1982)

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Werner Kissling Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München

Kolorektales Karzinom gehäuft bei

Agammaglobulinämie

Bei Patienten mit primärer Agammaglobulinämie finden sich ge- häuft intestinale Infektionen mit Giardia lamblia, Campylobacter jeju- ni und Salmonella species. Durchweg sieht man auch eine Lymphfollikel- hyperplasie, die sich zu einem mali- gnen Lymphom weiterentwickeln kann. Auch das Risiko für ein Ma- genkarzinom ist deutlich erhöht.

Die Autoren weisen darauf hin, daß auch für das kolorektale Karzi- nom ein erhöhtes Risiko besteht, das bereits in jungen Jahren auftreten kann. Das Risiko, ein Sigmoidkarzi- nom zu entwickeln, wurde mit dem Faktor 30 errechnet. Die Autoren empfehlen, bei Patienten mit primä- rer Agammaglobulinämie gezielt nach einem kolorektalen Karzinom zu suchen.

Van der Meer, J. W. M., R. S. Weening, P. T. A. Schellekens et al.: Colorectal cancer in patients with X-linked agam- maglobuliaemia. Lancet 341: 1439-1440, 1993

Department of General Internal Medi- cine and Gastroenterology and Hepato- logy, University Hospital Nijmegen, Nie- derlande.

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 50, 17. Dezember 1993 (39) A1-3375

Referenzen

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