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Archiv "Kinderärztliche Versorgung: Durchhalten im sozialen Brennpunkt" (18.11.2011)

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A 2464 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 108

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Heft 46

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18. November 2011

KINDERÄRZTLICHE VERSORGUNG

Durchhalten im sozialen Brennpunkt

Dr. med. Detlev Geiß ist der letzte Kinderarzt in Köln-Chorweiler. Bislang

hat der 63-Jährige noch keinen Nachfolger gefunden. Für niedergelassene Ärzte wird es immer schwieriger, sich in ärmeren Stadtteilen zu halten.

W

illst du nachher ein Bon- bon?“, fragt Dr. Geiß das vierjährige Mädchen im Sprech- zimmer, das zur U8 gekommen ist.

Die Kleine schüttelt den Kopf. „Ei- nen Lutscher?“ Wieder Kopfschüt- teln. „Na, dann kletter mal hier hoch.“ Lautes Gebrüll. Das Kind klammert sich an seinem Vater fest, und die dunklen Augen füllen sich mit Tränen. „Das haben wir doch geübt . . .“, ermuntert der Papa.

Aber das Mädchen legt nur noch an Lautstärke zu. Dr. med. Detlev Geiß (63), Kinderarzt in Köln- Chorweiler, hält inne und nutzt die Zeit für ein Gespräch mit dem Va- ter. Irgendwann hat sich die kleine Patientin beruhigt, und die Untersu- chung kann beginnen. „Ruck, zuck geht hier gar nichts“, sagt der Dok- tor mit Blick auf die Reporterin.

Geiß ist der letzte in Köln-Chor- weiler verbliebene Kinderarzt, ei- ner Hochhaussiedlung im Norden

Kölns. Ein Kollege, der bis vor kur- zem noch um die Ecke praktizierte, ist in eine bessere Gegend gezogen.

Seither klingelt es bei Geiß noch häufiger an der Tür. Auch heute ist das Wartezimmer voll. Das Mäd- chen im Behandlungszimmer weint zwar nicht mehr, aber reden will sie immer noch nicht richtig. Geiß wird mit dem Kindergarten der Kleinen Kontakt aufnehmen und fragen, wie sie sich dort macht.

Angespannte Finanzlage Patienten hat Geiß genug. Am Tag kommen 60 bis 80 Kinder und Ju- gendliche, viele mit Migrationshin- tergrund. Die Praxis führt der Arzt zusammen mit einer Ärztin. Man- che Familien werden bereits in der dritten Generation von ihnen be- treut. Sorgen bereitet allerdings das Einkommen. „Bis 2004 hatten wir ein auskömmliches Arbeiten, dann wurde es schwieriger“, berichtet

der Mediziner. „Damals brach der Umsatz um 20 Prozent ein. Bei gleichbleibenden Kosten heißt das, dass die Praxisinhaber 40 Prozent ihres Einkommens verlieren. Das war bis vor kurzem die Situation.“

Erst mit den jüngsten Abrechnun- gen gehe es wieder leicht bergauf, sagt Geiß. Inzwischen gebe es von der Kassenärztlichen Vereinigung wieder etwas mehr Geld. Die finan- zielle Lage der Praxis sei allerdings weiterhin angespannt. Zusätzliche Einkünfte erzielt er durch einen Vertrag mit der AOK Rheinland/

Hamburg. Geiß hat hierfür zuge- sagt, AOK-Versicherte extra zu den Vorsorgeuntersuchungen einzula- den, und dies wird ihm honoriert.

Eine Lösung auf Dauer ist das al- lerdings nicht. Vor allem handelt es sich nicht um ein tragfähiges Kon- zept für einen möglichen Nachfolger.

So fürchtet Geiß denn auch, die Pra- xis nicht verkaufen zu können, wenn er in den Ruhestand geht. „Und falls doch, wird mein Nachfolger wahr- scheinlich in einen anderen Stadtteil ziehen wollen, denn er hat andere Voraussetzungen. Ein junger Arzt muss noch seine Kinder großziehen und für die Einrichtung einiges an Kapital auf den Tisch legen.“ Im Stadtteil Chorweiler gebe es dann keinen einzigen Kinderarzt mehr.

Geiß ist nicht der einzige nieder- gelassene Arzt, der um das wirt- schaftliche Überleben seiner Praxis kämpft. So hat die Vertreterver- sammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein bereits am 26. März 2011 in einem Beschluss festgehalten: „Die Vertreterver- sammlung der KV Nordrhein stellt fest, dass eine durchschnittliche Vertragsarztpraxis (Kassenpraxis) in Nordrhein allein aus KV-Einnah- men („Kasseneinnahmen“) nicht existenzfähig ist.“

„Ruck, zuck geht hier gar nichts.“

Detlev Geiß nimmt sich viel Zeit für sei- ne kleinen Patienten.

Fotos: JOSCHWARTZ.COM

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18. November 2011 Die klassischen Rettungsanker

kann Geiß indessen nicht auswerfen.

„Für IGeL hat hier keiner Geld“, sagt er. „Und Privatpatienten haben wir auch nicht.“ Was die Patienten stattdessen zuhauf brauchen, ist die Zeit des Doktors. Sei es, dass sie nicht gut deutsch sprechen und des- halb alles etwas länger dauert. Oder die Eltern einfach nicht ganz so fix erklären, was ihr Kind denn nun hat.

„Mit einer Mittelschicht-Bevölke- rung kommt man schneller auf den Punkt“, weiß Geiß, „auch wenn es nachher um die Therapie geht.“ Das Problem sei, dass das ärztliche Ge- spräch nicht ausreichend bezahlt werde.

Geiß arbeitet nicht allein unter diesen Bedingungen. In ganz Deutschland haben Ärzte in ärmeren Stadtteilen besonders zu kämpfen, und viele geben auf – sei es im Ham- burger Schanzenviertel, in Frank- furt-Fechenheim oder Essen-Alten- essen. Genaue Zahlen liegen hierzu nicht vor. Und damit fehlen auch sta- tistische Auswertungen, die ein prä- zises Bild der Lage zeichnen könn- ten. Wie sehr die Großstädte wirk-

lich betroffen sind, und wie schnell die Entwicklung voranschreitet, weiß niemand. Die regulären Zahlen helfen dabei kaum weiter. Bisweilen sind sie sogar dazu geeignet, vom ei- gentlichen Problem abzulenken.

Nach der Statistik der freien Arztsit- ze der Bundesärztekammer fehlt in ganz Nordrhein kein einziger Kin- derarzt. Und bundesweit mangelt es der Aufstellung zufolge lediglich an 27 Kinderärzten.

Wie solche Zahlen zustande kommen, ist bekannt: In der Regel wird das gesamte Stadtgebiet als

ein Planungsbereich gesehen. Es müssen also nur ausreichend Ärzte in den schönen Altbauvierteln und schicken Villengegenden praktizie- ren, dann gelten die multiethni- schen Stadtränder als mitversorgt.

Und nicht nur das: Ist der Versor- gungsgrad von 110 Prozent er- reicht, gilt die ganze Stadt als ge- sperrt – inklusive der Problembezir- ke. Das geplante Versorgungsstruk- turgesetz soll dies nun ändern. Es erlaubt, die Planungsbereiche stär- ker auf die tatsächlichen Bedürfnis- se der Bevölkerung zuzuschneiden.

Die nötige Datenbasis muss hierfür allerdings erst geschaffen werden.

Ärzte sind ungleich verteilt Für einzelne Städte wurde bereits vorgearbeitet. So hat die KV Nord- rhein im März 2010 eine Statistik er- stellt, die zeigt, wie sich die Ärzte in Köln auf die einzelnen Stadtbezirke verteilen. Bezogen auf die Bevölke- rungszahlen ergibt sich folgendes Bild: Während sich im Bezirk Chor- weiler knapp 2 000 Kinder und Ju- gendliche einen Kinderarzt teilen, sind es im besser gestellten Linden-

thal zum Beispiel nur etwa 1 500.

Und wer in der Nähe der Innenstadt lebt, hat es besonders gut, denn dort kommen auf einen Kinderarzt nicht einmal 900 Patienten. Die Ungleich- verteilung ist dabei nicht auf Kinder- ärzte beschränkt. Auch andere Fach- ärzte sind betroffen. Zum Beispiel die Urologen: In Chorweiler ist ein Arzt für circa 40 000 Menschen da, im solventen Rodenkirchen für 20 000. Und bei den Augenärzten sind die Unterschiede sogar noch größer. Mit möglichen Lösungen für diese Problemlage beschäftigt sich

inzwischen die kommunale Gesund- heitskonferenz.

Auch Essen-Altenessen ist bei der KV Nordrhein Thema. In dem Stadtteil treffen Menschen mit we- nig Geld und zerplatzten Träumen aufeinander. Zwei Kinderärzte ha- ben der Gegend den Rücken ge- kehrt. Der Versorgungsgrad liegt seither bei kläglichen 62 Prozent – wobei die Stadt insgesamt auf satte 139 Prozent kommt. Bereits seit Monaten sucht die KV nach Wegen, die kinderärztliche Versorgung in Altenessen wieder auf die Beine zu bringen. Im Mai dieses Jahres er- klärte Vorstand Bernhard Brautmei- er gegenüber dem WDR: „Entwe- der schaffen wir das durch die Ein- richtung von Zweigpraxen. Oder, wenn das nicht funktioniert, werden wir auch über ,Eigeneinrichtungen‘

nachdenken. Das heißt, wir selbst werden dort eine Praxis eröffnen und dann Kinderärzte anstellen, die dort tätig werden.“ Inzwischen kün- digt sich für Altenessen eine Lö- sung an, wie Brautmeier mitteilt.

Details seien voraussichtlich Ende des Jahres zu erfahren.

Viele Ärzte sehen Eigeneinrich- tungen der KV kritisch. Sie sind be- reit, als Praxiseigentümer selbst Verantwortung zu tragen – sofern die Bedingungen vertretbar sind.

Ein zu hehrer Wunsch? In ihrer Sitzung am 26. März 2011 hat die Vertreterversammlung der KV Nordrhein noch einen weiteren Be- schluss gefasst. Sie verlangt, „die ärztliche Tätigkeit künftig nicht primär diagnosebezogen, sondern nach tatsächlichem Arzt- und The- rapeutenaufwand zu vergüten“.

Andrea Steinert

„Für IGeL hat hier keiner Geld.“

Am Tag kommen 60 bis 80 Kinder und Jugendliche, viele mit Migrations-

hintergrund in die Praxis.

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