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Archiv "Berlin-Neukölln: Hausarzt im sozialen Brennpunkt" (13.05.2005)

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twas trostlos ist der Weg durch die Straßen Neuköllns. Darüber können auch das Grün der zahlreichen Bäu- me und das schöne Maiwetter nicht hin- wegtäuschen. In der Wildenbruchstraße liegt die Praxis von Michael Janßen – gar nicht weit entfernt vom Estrel Hotel, das den 108. Deutschen Ärztetag beher- bergt. Die Praxisnachbarn: eine Kneipe, ein Bordell und ein leeres Ladenlokal.

Die Scheiben sind von innen mit Papier und Pappe beklebt. Da erscheint der Allgemeinmediziner wie ein Lichtblick:

gut gelaunt und ganz in Weiß. Ohne Kittel allerdings – in weißer Jeans und T-Shirt.

Ein Westfale in Preußen: Seit 25 Jah- ren lebt der gebürtige Hagener in Berlin.

Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Physiotherapeuten, nahm dann das Studium der Humanmedizin auf. Seit zehn Jahren ist Janßen als Arzt tätig. Zur Allgemeinmedizin führte ihn der Wunsch, intensiv mit Menschen zusam- menzuarbeiten. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er kein operatives Fach

wählen. Dass er sich vor drei Jahren in Neukölln niedergelassen hat, war eher ein Zufall. Die Praxis wurde ihm über eine Vermittlungsagentur angeboten.

„Aber ich habe diese Herausforderung gerne angenommen“, so Janßen. Bereut hat er es nicht. Hausarzt sein in einem besser situierten, bürgerli-

chen Stadtteil – „Das wäre nicht so meine Sache“, sagt der 46-Jährige. Janßen selbst lebt nicht in Neukölln, son- dern in einem anderen Ar-

beiterbezirk, in Wedding. Die Tätigkeit in der Neuköllner Hausarztpraxis ist sei- ne Berufung. Das merkt man ihm an.

Janßen bestätigt den Eindruck: „Vom Grundsatz her ist es genau das, was ich machen möchte.“ Aus heutiger Sicht würde er nochmal die Allgemeinmedizin wählen und auch Neukölln. Vielleicht aber in einer anderen Konstellation, meint er, nicht als Einzelpraxis.

Die sozialen Probleme des Stadtteiles bekommt natürlich auch Janßen in sei- ner täglichen Arbeit zu spüren. Die Ar-

beitslosigkeit liegt im Norden Neuköllns bei über 40 Prozent. Seit der Einführung der Praxisgebühr sind die Fallzahlen um acht Prozent zurückgegangen, stärker als im Bundesdurchschnitt. „Das sind die Leute, die die Praxisgebühr nicht zahlen wollen oder können“, bemerkt der All- gemeinmediziner. Die Patienten, die kommen, haben jedoch eine gute Zah- lungsmoral. In Janßens Praxis liegt sie bei 98 Prozent. Rund 750 Patienten be- handelt er pro Quartal. Privatpatienten sind die Ausnahme, etwa 25 pro Quartal.

Migranten sind in der Praxis, gemessen am Bevölkerungsanteil in Neukölln, eher unterdurchschnittlich vertreten.

Seitdem er die Praxis übernommen hat, ist die Zahl steigend, so die Einschätzung Janßens.

Arbeitslosigkeit und Armut spielen eine große Rolle in Janßens Tätigkeit.

Für zahlreiche Patienten ist die Zuzah- lung zu Medikamenten ein Problem.

Des Weiteren hat der Allgemeinmedizi- ner die Erfahrung gemacht, dass gerade Langzeitarbeitslose häufig krank sind.

„Ich habe da keine Studie gemacht, aber aus meiner Beobachtung gibt es eine höhere Prävalenz von Depressionen, Suchterkrankungen oder exazerbieren- den Suchterkrankungen, die unter Ar- beitsbedingungen noch als Risikokon- sum einzustufen waren“, sagt er.Arbeits- losigkeit und Armut führen nach An- sicht des Hausarztes außerdem zu einem vermehrten Auftreten von Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen. Der Lebensstil wird offenbar unter schwierigen sozialen Be- dingungen eher gesundheitsschädigend.

Alkohol, Nikotin und Fehl- ernährung sind an der Ta- gesordnung. Für Janßen ist klar: Armut macht krank, und Krankheit macht arm.

Diese Einschätzung teilt auch der Deutsche Ärztetag. Das The- ma „Krankheit und Armut“ war in die- sem Jahr ein Schwerpunkt. Dass sich der Ärztetag relativ abgekapselt vom brisanten Umfeld mit diesem Thema beschäftigte, stört Janßen nicht. „Man muss sich nicht in Sack und Asche hül- len, bevor man über Armut redet“, so Janßen. Aber – eine Stadtteilbesichti- gung als Rahmenprogramm: „Warum eigentlich nicht?“ Die wichtigste ge- sundheitspolitische Herausforderung ist für ihn, die Ressourcen im Gesund- 1 0 8 . D E U T S C H E R Ä R Z T E T A G

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A1366 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 1913. Mai 2005

Berlin-Neukölln

Hausarzt im sozialen Brennpunkt

Der Allgemeinmediziner Michael Janßen betreibt seit drei Jahren eine Praxis in Berlin-Neukölln. Für ihn steht fest:

Armut macht krank.

Mit Arbeitslosig- keit und Armut wird Michael Janßen in seiner Neuköllner Praxis täglich konfron- tiert.

„Vom Grundsatz her ist es genau das,

was ich machen

möchte.“

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heitssystem an alle Bevölkerungs- schichten gerecht zu verteilen.

40 Methadonpatienten werden in Janßens Praxis betreut. Der Bedarf an Suchtmedizin in Neukölln ist groß. Die Konsumgewohnheiten unterscheiden sich von denen in bürgerlich geprägten Bezirken. So beobachtet Janßen einen risikoreicheren Konsum von Suchtmit- teln. Unterschiede sieht der Hausarzt in der Auswahl der Substanzen. Das Kon- sumverhalten sei aggressiver und exzes- siver. Das Spritzen von Heroin beispiels-

weise sei oftmals mit einem niedrigen Bildungs- und Sozialstatus verbunden.

In besser gestellten Schichten sei dies seltener. „Die rauchen das dann eher“, meint der Hausarzt.

Janßen hat im Bezirk eine Arbeits- gruppe zum Thema Sucht initiiert. Im

„Arbeitskreis Sucht Neukölln“ haben sich Hausärzte, Krankenhäuser, Selbst- hilfegruppen und andere Therapieein- richtungen vernetzt. Ende Mai findet die Fachtagung „Neuköllner Sucht Perspek- tiven“ statt. „Wir wollen den Kopf nicht in den Sand stecken, trotz verschärfter Bedingungen“, sagt Janßen.

Manchmal ärgert er sich über den ho- hen Anteil administrativer Tätigkeiten, die er zu erledigen hat. „Das ist etwas, das ich so nicht eingeschätzt hatte“, be- merkt er. Nur etwa 40 Prozent seiner Ar-

beitszeit verbringt der Allgemeinarzt mit Patienten. Die Umstellung auf den EBM 2000plus hat der Praxis allerdings kaum Probleme bereitet. Das Team hat- te sich gut vorbereitet. Die Auswirkun- gen, die die neue Gebührenordnung für seine Einzelpraxis mit sich bringt, will er zunächst abwarten. Janßen beschäftigt eine Weiterbildungsassistentin. Diese Lösung ist kostengünstig, da die Weiter- bildung in der Allgemeinmedizin finan- ziell gefördert wird. Seine Aufgabe als Hausarzt nimmt er ernst: „Hausbesuche muss man machen“, meint Janßen.Aller- dings versucht er diese auf ein Minimum zu beschränken.

Trotz aller Freude am Arztberuf empfindet sich Janßen, gemessen an der Verantwortung, die er trägt, und dem Aufwand, den er betreibt, als unterbe- zahlt. „Das soll keine Jammerei sein“, betont er. Aber das hätte auch niemand so empfunden, der Janßen kennen ge- lernt hat. Dr. med. Birgit Hibbeler 1 0 8 . D E U T S C H E R Ä R Z T E T A G

Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 1913. Mai 2005 AA1367

Ärztetagsdelegierte, die sich vor die Türen ihres Ta- gungsortes verirrten, fan- den sich in einem Stadtbe- zirk mit vielen sozialen Problemen wieder. Das Estrel Hotel ist mit 1 125 Zimmern das größte Hotel Deutschlands und Europas größter „Convention-, Entertainment- und Hotel-Komplex“. In Neukölln wirkt es eher wie ein Fremdkörper, etwa ein Raumschiff, das versehentlich dort ge- landet ist. „Wenn man dann mal hier ist, ist es auch ganz schön“, bemerkte der Berliner Ärztekammerpräsident Dr.

med. Günther Jonitz im Rahmen der Eröffnungsfeier des Ärztetages.

Neukölln befindet sich im ehemali- gen Westteil Berlins. Etwa 300 000 Ein- wohner aus mehr als 160 Nationen le- ben hier. Der Arbeiterbezirk ist in den letzten Jahren offenbar zu einem „Ar- beitslosenviertel“ geworden. Seit 1994

stieg die Zahl der Erwerbslosen um 50 Prozent. Im Schnitt liegt die Arbeitslo- senquote bei 28, im Norden des Bezir- kes sogar bei über 40 Prozent.

Neukölln ist ein armer Bezirk. 15 Prozent der Menschen, die hier leben, sind Sozialhilfeempfänger. Fast die Hälfte der Einwohner hat monatlich netto weniger als 700 Euro zur Verfü- gung. Wer in Neukölln aufwächst, er- wirbt in der Regel keinen hohen Bil- dungsstandard. Ein Viertel der Schüler beendet die Schulzeit mit dem Haupt-

schulabschluss. Fast 20 Prozent der Ju- gendlichen erwerben keinen Abschluss.

Rund 100 000 Migranten leben in Neukölln.

Migration spielte auch in der Neu- köllner Vergangenheit eine Rolle. Wer behauptet, Neukölln sei für ihn ein böhmisches Dorf, hat nicht Unrecht. Im Jahre 1737 gestattete Friedrich Wil- helm I. böhmischen Prostestanten die Ansiedlung in Neukölln, das zu diesem Zeitpunkt Rieksdorf hieß. Das Bezirks- wappen bildet deshalb noch heute den so genannten Hussitenkelch ab.

Erstmals erwähnt wurde Neukölln im Jahr 1360, noch unter dem Namen Richardsdorf. Im Wappen erinnert das Johanniter-Kreuz an die Gründer. 1912 erfolgte die Umbenennung in Neukölln.

Dieser Name geht auf Cölln zurück, ei- nen der Orte, aus denen Berlin gegrün- det wurde. Neukölln wurde 1920 nach Berlin eingemeindet. Durch Zusam- menlegung mit Britz, Rudow und Buckow entstand der Verwaltungsbe- zirk Neukölln.

Neukölln ist einer Broschüre der Be- zirksverwaltung zufolge die Geburts- stätte des modernen Sports. Der erste Turnplatz von Friedrich Ludwig Jahn

befindet sich hier. BH

108. Deutscher Ärztetag in Berlin-Neukölln

„Wenn man dann mal hier ist, ist es auch ganz schön“

Neukölln hat viele soziale Probleme. Die Ar- beitslosenquote liegt bei 28 Prozent.

Spaß an der Tätigkeit als Hausarzt:

Enger Patientenkontakt ist für Michael Janßen wichtig.

Fotos (2):Johannes Aevermann Foto:Martina Merten

Referenzen

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