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Archiv "Vernachlässigung junger Kinder" (12.09.1974)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Über Vernachlässigung junger Kin- der ist, abgesehen von mehr bei- läufigen Erwähnungen bei der Be- sprechung der Kindesmißhandlung, weder in pädiatrischen Lehrbü- chern oder dem vielbändigen Hand- buch noch im Zentralblatt für Kin- derheilkunde eine ausführlichere Abhandlung zu finden. Auch im ge- richtsmedizinischen Schrifttum ist die Ausbeute nicht viel größer. Dies überrascht um so mehr, als bös- artige Vernachlässigung eines Kin- des sogar einen strafbaren Tatbe- stand darstellt (§§ 170 d und 223 b), wobei der Kinderarzt eigentlich der gegebene Gutachter sein müßte.

Bisher ist Vernachlässigung offen- bar kein „Stichwort", das öfter An- klänge und bestimmte Reaktionen auslöste.

Bei einigem Nachdenken kann es aber keinen Zweifel geben: Wenn der Arzt es sich allgemein zum Ziel gesetzt hat, in Zuständen körperlicher oder seelisch-geisti- ger Bedrängnis die Ursachen auf-

zudecken und auf Abhilfe zu sin- nen, dann sind gerade vernach- lässigte Kinder in jeder Hinsicht seine geborenen Patienten. Ent- sprechend der kürzlich geäußerten Auffassung, daß gerade heute im Ringen um ein neues Selbstver- ständnis des Arztes dieser für den einzelnen Patienten, der oft krank an der Gesellschaft sei, die Rolle eines Anwaltes gegenüber dem Krankheitsfaktor Gesellschaft zu übernehmen habe, trifft dies sogar besonders zu.

Fehlen verbindlicher Kriterien Der Vorwurf an die Eltern, sie ver- nachlässigten ihr Kind, wiegt schwer, und es ist oft sehr schwie- rig zu beweisen, daß echte Bös- willigkeit oder Verantwortungslo- sigkeit vorliegt. Es gibt auch keine allgemein verbindlichen Kriterien, wonach ein Zustand als Vernach-

lässigung anzusehen ist, zumal die- se sich auf den verschiedensten Gebieten auswirken kann. Noch Hundertjährige

oder eines Starleidens auf das Zimmer beschränkt. Viele von ih- nen werden später pflegebedürftig und, zumindestens zeitweise, bett- lägerig. In geistiger Hinsicht ist ein Kontakt mit der gewohnten Umge- bung vorhanden. Größere Bela- stungen führen aber zu körperli- chen und psychischen Ausfallser- scheinungen: Bereits latent vor- handene Altersgebrechen, wie etwa eine Zerebralsklerose, werden danach manifest. Geringfügige Un- fälle führen infolge der Altersosteo- porose häufig zu Schenkelhalsbrü- chen. Der merkliche Vitalitätsver- lust ist aber vor allem auf Infekte, wie Influenza, chronische Emphy- sembronchitis und Zystitis zurück- zuführen.

Gruppe der Pflegebedürftigen Die dritte Gruppe umfaßt die stän- dig bettlägerigen und pflegebedürf- tigen Hundertjährigen; sie sehen in zunehmender Entkräftung, in einer Art „Vita minima", ihrem erlösen- den Ableben entgegen.

Durch das genauere Studium von Biologie und Klinik an Personen in der höchsten menschlichen Alters- stufe wird die Vermutung bestätigt, daß die hundertjährigen und älte- ren Personen biologisch eine posi- tive Selektion der Gesamtbevölke- rung darstellen.

Literatur

Franke, H., Bracharz, H., Laas, H., Moll, E.:

Studien an 148 Hundertjährigen, Dtsch.

med. Wschr. 95 (1970) 1590 — Franke, H., Schmitt, S.: Hundertjährige; Altwerden und Altsein. Begegnung mit Hundertjährigen.

Würzburg, Fränkische Gesellschaftsdrucke- rei 1971 — Franke, H., Gall, L., Gross, W., Moll, E., Weißhaar, D.: Klinisch-chemische Befunde von 41 Hundertjährigen im Ver- gleich mit jüngeren Altersstufen, Klin.

Wschr. 51 (1973) 183 — Graul, E. H.: Um- welt und Lebensweise der Zentenare. Deut- sches Ärzteblatt 70 (1973) 1865 — Leaf, A., Launois, J.: Every Day is a Gift, when you are over 100. National Geographic 143 (1973) 93

Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Hans Franke Medizinaldirektor Dr. med.

Hermann Bracharz

Oberstabsarzt Dr. med. Lothar Gall 87 Würzburg

Klinikstraße 8

WISSENSCHAFT UND PRAXIS

Vernachlässigung junger Kinder

Ulrich Köttgen

Aus der Universitäts-Kinderklinik Mainz (Direktor: Professor Dr. med. Ulrich Köttgen)

Eine allgemeine oder partielle Vernachlässigung junger Kinder ist nicht selten. Von ihr wird ärztlicherseits noch zu wenig Kenntnis genommen. Die Vernachlässigung ursächlich zu beweisen, ist sehr schwierig. Ein entsprechender Verdacht wird unter anderem dann gestützt, wenn ein dystrophes Kind in der Klinik bei normaler Er- nährung und freundlicher Zuwendung plötzlich zu gedeihen beginnt, ohne eine Medikation erhalten zu haben; etwaige Zweifel werden im Fall einer Wiederholung beseitigt. Die Ursachen einer Vernach- lässigung sind ebenso vielfältig wie ihre Symptome. Um ihr begeg- nen zu können, ist neben dem aktiven Einsatz der Sozialbehörden die Mithilfe des Arztes dringend erforderlich.

2648 Heft 37 vom 12. September 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Kindesvernachlässigung

viel weniger ist eine objektive Aus- sage, wie häufig Vernachlässigun- gen vorkommen, möglich. Man ist aber sicher berechtigt anzuneh- men, daß ihre Zahl erheblich über derjenigen der Mißhandlungen liegt, deren Zahl erschreckend viel höher ist als allgemein angenom- men wird. Die Folgen sind insofern oft schwerwiegend, als eine ge- brochene Kindheit sich auf das ganze fernere Leben, ja auf die nächste Generation, auswirken kann.

Bei der Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien wird anhalten- des Nichtgedeihen, Dystrophie be- ziehungsweise Atrophie, oft ein wesentliches, in sich allein natür- lich nichts beweisendes Symptom sein. Besteht bei signifikantem Un- tergewicht außerhalb der mögli- chen Schwankungsbreite (Somato- gramm) zusätzlich eine deutliche Unterlänge, so weist sie auf die lange Dauer einer Ernährungsstö- rung hin. Als weiterer Faktor in den ersten Lebensjahren sei eine schwere Rachitis genannt. Es gibt heute keine Entschuldigung mehr gegen völlige Unterlassung der Vit- amin-D-Prophylaxe, nachdem die Notwendigkeit ärztlicher Kontrollen und Beratungen jeder Mutter nahe- gelegt wird.

Sogleich ins Auge springen grobe Pflegefehler und Verschmutzung, wobei aber das Milieu, in dem sol- che Kinder leben, nicht ohne Be- tracht bleiben sollte; in der Umwelt eines Slums wird Hygiene klein ge- schrieben. Als Zeichen der Böswil- ligkeit sollte aber gewertet werden, wenn aus dem gewöhnlichen Wundsein tiefere Ulzerationen ent- stehen, ohne daß sich die Mutter um Abhilfe bemühte.

Von besonderer Beweiskraft sind stärkere seelisch-geistige Entwick- lungshemmungen, die zu den un- ausbleiblichen Folgen jeder stärke- ren Vernachlässigung gehören. Da sie sich auch noch im späteren Le- ben auswirken, sind diese Kinder genau zu kontrollieren; gegebenen- falls sind einschneidende Maßnah- men, wie die Entziehung des Sor-

gerechtes, erforderlich. Diese Ver- zögerungen kann der Arzt bei jün- geren Kindern heute, zum Beispiel mit dem Denver-Entwicklungs- test", ohne Hinzuziehung eines Psychologen, ohne größeren Auf- wand genau objektivieren.

Schwierige Beweisführung

Wie erwähnt, kann der Beweis ei- ner ursächlich wesentlichen Ver- nachlässigung sehr schwierig be- ziehungsweise prima vista unmög- lich sein. Ein entscheidendes Kri- terium läßt sich aber leicht gewin- nen, wenn ein Kind nach Aufnahme in ein Krankenhaus bei normaler Ernährung und freundlicher Zuwen- dung, ohne jede Medikation, fast schlagartig in eine Phase des Ge- deihens kommt und in jeder Hin- sicht schnelle Fortschritte macht.

Sollten nach einer solchen Beob- achtung vielleicht noch gewisse Zweifel zurückbleiben — die Auf- nahme konnte ja zufällig am spon- tanen Ende einer vorausgegange- nen Erkrankung erfolgt sein — so werden sie ausgeräumt, wenn bei nicht seltenen Rezidiven wieder das gleiche beobachtet wird.

Erst an letzter Stelle — weil durch- aus nicht immer als objektives Kri- terium zu werten — können Hinwei- se aus der Nachbarschaft genannt werden. Wenn man sich bei Sozial- behörden erkundigt, ob solche An- zeigen wohl häufiger den Anstoß zu Recherchen bildeten, so wird das weitgehend verneint. Die Si- tuation ist offensichtlich ähnlich wie bei Kindesmißhandlungen, die bekanntermaßen häufig von Nach- barn registriert oder zumindest ver- mutet werden, ohne daß dies eine Reaktion derselben auslöste. Ne- ben einer beklagenswerten Gleich- gültigkeit gegenüber dem Leid an- derer, dürfte nicht selten Angst vor Racheakten der Grund für die un- terlassene Anzeige sein. Anderer- seits darf nicht übersehen werden, daß gelegentlich auch unbegründe- tes mißgünstiges Gerede über Nachbarsfamilien den unsicheren Boden für Hinweise an Sozialarbei- terinnen bildet. In jedem Falle soll-

te solchen Behauptungen mit der allerdings notwendigen Diskretion nachgegangen werden, da Gesund- heit und Leben eines Kindes be- droht sein können.

Es gehört zum Wesen der Vernach- lässigung, daß sie sich in vielfälti- ger Symptomatik ausdrückt. Gera- de eine solche pflegt für den Tat- bestand einer Vernachlässigung ein Indiz zu sein, während Einzel- symptome oft Ausdruck einer ech- ten Erkrankung sind. Auch bei ob- jektiver Feststellung einer Vernach- lässigung — eine Bezeichnung, in der ja immer ein stark abwertendes Moment für den Sorgeberechtigten steckt — kann aus dieser noch kei- ne echte Schuld abgeleitet werden, so emotional naheliegend dies in vielen Fällen sein mag. Man wird im Einzelfalle nach den Ursachen zu differenzieren haben.

Ursachen der Vernachlässigung Am naheliegendsten wäre hier an Auswirkungen der Armut zu den- ken. Bei der derzeitigen wirtschaft- lichen Lage in der Bundesrepublik spielt diese aber ohne eigenes Ver- schulden eine ganz untergeordnete Rolle. Wohl aber besitzen selbst- verschuldete Notzustände durch Verlust der Arbeit, oft verbunden mit einer unsinnigen Ausgabenver- teilung (abnormer Zigarettenkon- sum, Fernsehgerät, aber keine Milch für den Säugling), noch we- sentliche Bedeutung. Das eigene Verschulden wird einem etwa bei Besichtigungen von Elendsquartie- ren oder Aufnahmeheimen deutlich, wo Tür an Tür bei der einen Fami- lie saubere Ordnung, bei der an- deren aber ein Chaos herrscht.

Auch die Beobachtungen an Gast- arbeiterkindern, die trotz oft ab- scheulicher äußerer Lebensum- stände meist durchaus gepflegt wirken, sprechen in diesem Sinne.

Zuwendungen der Sozialbehörden fließen bei Asozialen in ein Faß ohne Boden. Eine entscheidende Rolle spielt oft die Trunksucht, die so viele Familien zerstört und den heranwachsenden Kindern irrepa-

rable Schäden zufügt.

*) Denver-Entwicklungstest:

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 37 vom 12. September 1974 2649

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Kindesvernachlässigung

Menschlich erschreckend wirken immer wieder jene Fälle, in denen der Mutter jedes echte Interesse an ihrem eigenen Kind abgeht. Offen- bar liegt hier ein Instinktverlust vor, der ja normalerweise nicht einem bewußten Willensakt, sondern ei- nem angeborenen Triebverhalten entspricht.

Nur die Bedürfnisse der eigenen Person werden noch berücksichtigt und das Kind viele Stunden, Ex- tremfällen selbst Tage, ohne Nah- rung, Wartung und Pflege gelassen.

Besonders gefährdet sind Kinder mit stärkeren körperlichen oder geistigen Behinderungen. Wir erle- ben in der Klinik immer häufiger, wie Eltern solcher Kinder sich zu weigern versuchen, sie in eigene Obhut zu nehmen; statt dessen möchten sie Verantwortung und fi- nanzielle Belastung dem Staat auf- bürden. Die Quelle solchen Fehl- verhaltens dürfte nicht selten in der eigenen Jugend solcher Mütter zu suchen sein, die infolge eigenen Mangels nie eine echte, warmher- zige Zuwendung zu entwickeln ver- mochten.

Zu den wesentlichen, aber nicht schuldhaften Ursachen einer Ver- nachlässigung müssen Dummheit beziehungsweise Schwachsinn der Mutter gerechnet werden. Die Aus- wirkungen sind im allgemeinen nicht so schwerwiegend, weil grundsätzlich alles Bösartige und Systematische fehlt. Aber auch die Häufung von Pflegefehlern oder ei- ne überwiegend ganz unsinnige Er- nährung können für ein kleines Kind ganz erhebliche Gefahren mit sich bringen. Es fehlt der Mutter die Einsicht in die Bedeutung ihrer Maßnahmen, deren Folgen sie of- fenbar in keiner Weise zu überblik- ken vermag. Da es ihr nicht an gu- tem Willen mangelt, ist sie Beleh- rungen zugänglich, wobei man nur nicht vergessen darf, daß solche nur kurzfristig haften. Immerhin sind hier positive Möglichkeiten, beispielsweise durch Einsatz einer Nachbarschaftshilfe, gegeben.

Als Beispiel einer Überforderung der Mutter als Ursache einer Ver-

nachlässigung mögen folgende Stichworte einer Krankengeschich- te dienen: Knabe von elf Monaten, 63 Zentimeter (— 11), 5050 Gramm (— 1130), Bild der Atrophie, anfangs ohne nähere Angaben aufgenom- men. Später berichtet die Mutter auf Vorhalten, der Mann habe sie unter Hinterlassung großer Schul- den allein gelassen. Um leben zu können, nahm sie nächtliche Arbeit bei der Post an, schlief am Tage, so daß das Kind kaum gefüttert oder betreut wurde. Nach Rück- kehr des Vaters habe dieser sich auch nicht um das Kind geküm- mert, das er während des mehrmo- natigen Klinikaufenthaltes auch nie- mals besuchte.

Wir hören auch sonst, daß Mütter der doppelten Belastung durch Be- ruf und Versorgung von Mann und Kindern nicht gewachsen sind und diese hierüber verkommen. Nicht nur die untersten Sozialschichten, sondern auch die untere Mittel- schicht ist hier vertreten. Die ner- vös überreizte Stimmung der Mut- ter führt zusätzlich neben intrafami- liären auch zu nachbarschaftlichen Spannungen, so daß von hier keine Hilfen zu erwarten sind. Schon bei fünf und mehr Kindern, speziell wenn sie in kurzer Zeitfolge gebo- ren wurden, wird eine Überlastung der Mutter unvermeidlich, auch wenn einige tüchtige Frauen diese Last bewältigen. Im Interesse der Kinder wären hier spontane Hil- fen der Sozialbehörden dringend zu wünschen.

Nicht ungewöhnlich ist die Ver- nachlässigung eines Kindes infolge schwerer innerfamiliärer Spannun- gen, durch die das Kind zerrieben wird. Ein häufiger Grund zu eheli- chen Zerwürfnissen ist wiederum die Trunksucht eines oder beider Partner. Auch sinnlose Geldausga- ben mit nachfolgender Verschul- dung oder mangelnde eheliche Treue können zu anhaltendem Streit führen. Ähnlich wie bei Miß- handlungsdelikten ist gelegentlich nur ein Kind aus einer Geschwi- sterschar das Aschenbrödel der Familie. Ablehnung und Haß der Mutter können sich an der Tatsa-

che der vor- oder außerehelichen Zeugung entzünden, besonders wenn sie sich durch das Kind im- mer von neuem an ein mißglücktes Abenteuer erinnert fühlt. Hat das Kind zudem noch die erste Zeit seines Lebens in einem Heim ver- bracht und ist mit Verhaltensano- malien oder Entwicklungshemmun- gen in die Familie zurückgekehrt, so ist das Zusammenleben noch stärker erschwert, die Ablehnung emotional vermehrt aufgeladen.

In Großstädten kann es auch unter dem Einfluß moderner Lebensfor- men, wie studentischer oder ande- rer Wohnkommunen, zur Vernach- lässigung von Kindern kommen.

Gewiß wird hier keine Böswiiligkeit vorliegen, doch ist die Umwelt mit- unter nicht auf die Bedürfnisse der Kinder abgestellt. Sie leben in stark verräucherten Räumen, der Tages- rhythmus ist gänzlich ungeregelt, sie haben ungenügende Ruhe zum Schlafen; auch hieraus kann die frühkindliche Entwicklung beein- trächtigt werden.

Es sei schließlich partieller Ver- nachlässigungen gedacht, die zwar kaum zu strafrechtlichen Konse- quenzen führen werden, für das Kind aber dennoch schwere Nach- teile nach sich ziehen. Zu denken ist vorzugsweise an behinderte Kin- der, denen aus den verschieden- sten Gründen medizinische oder pädagogische Hilfen, sei es bei mo- torischen Behinderungen oder Aus- fällen einzelner Sinnesorgane, vor- enthalten werden. Auch für sie hat die Gemeinschaft, repräsentiert durch die Sozialbehörden, eine schwerwiegende Verantwortung;

ganz abgesehen von der ethischen Seite können durch solche Ver- nachlässigungen der Öffentlichkeit wegen späterer ungenügender Ar- beitseinsatzfähigkeit hohe Kosten erwachsen.

Ohne vollständigkeitshalber weite- re mögliche Ursachen aufzählen zu wollen, sei auf die Schadensfolgen eingegangen. Der oberflächliche Betrachter meint, daß nach ausrei- chender Auffütterung alles wieder zu beheben sei. Nichts ist irriger

2650 Heft 37 vom 12. September 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

als dies! Vergessen wir nicht, daß eine Rachitis ohne Vitamin-D-Pro- phylaxe die gleichen Gefahren mit sich bringt wie in früheren Zeiten.

Czerny schätzte, daß bei rachiti- schen Säuglingen die Gefahr, an Pneumonie zu erkranken, zehnfach größer ist und sie auch zehnmal so häufig an ihr sterben. Auch eine Tetanie kann schon im ersten An- fall den Tod bringen. Jede chroni- sche Unterernährung führt zu ver- stärkter Infektgefährdung durch Immuninsuffizienz. Die Hirnent- wicklung des Säuglings bleibt so- wohl aus alimentären Gründen in- folge chronischen Eiweißmangels wie auch psychogen wegen man- gelnder Zuwendung irreparabel zu- rück. Gerade wegen dieser, bis in das Erwachsenenalter fortwirken- den Schäden, müßte die Gesell- schaft ein großes Interesse haben, sie zu vermeiden, da sie etwa we- gen allgemeiner Leistungsinsuffi- zienz oder gehäufter Straffälligkeit erhebliche wirtschaftliche Folgen haben.

Möglichkeiten der Hilfe

Hiermit stellt sich die Frage nach Möglichkeiten echter Hilfe. Die Er- fahrungen, speziell auch altgedien- ter Sozialarbeiterinnen, legen eine deprimierende Prognose nahe.

Man sollte dennoch nicht resignie- ren; auch an eine erfolgreiche Be- handlung maligner Tumoren oder angeborener Herzfehler konnte man früher nicht glauben. Aller- dings ist Hilfe nur unter großem Einsatz und gänzlich neu gerichte- ter Aktivitäten möglich. Entschei- dend ist, wie bei jeder Krankheit — eine Vernachlässigung bedeutet für das Kind eine Krankheit, auch wenn sie als solche nicht im Lehr- buch steht — die Früherfassung durch eine aufmerksame Sozialfür- sorge. Schon hier stoßen wir auf einen verbreiteten Mangel. Wenn ich Äußerungen erfahrener Sozial- pädiater glauben darf — und ich habe keinen Zweifel an ihnen — so ist vielerorts die Zusammenarbeit der Sozialarbeiterinnen mit dem Gesundheitsamt sehr unbefriedi- gend. Gerade das aktive Aufspüren

Kindesvernachlässigung

und spontane Aufsuchen von Miß- ständen liegt im argen. Bei der schon erwähnten Säuglingsatro- phie erfolgte selbst auf unsere Mel- dung bei der Familienfürsorge überhaupt nichts. Bei mißhandelten Kindern erleben wir häufig das glei- che. Hier ist eine praxisgerechtere Ausbildung erforderlich. Die Aufga- be liegt natürlich in gleicher Weise bei Hausarzt und Klinik.

In Verdachtsfällen sollte eine kli- nische Behandlung drei Ziele ver- folgen: Überwindung der Gefahren- zone, Ausschluß unerkannter ande- rer Krankheiten sowie ruhige Bera- tung künftiger Maßnahmen. In Fra- ge kommen: Verbesserte häusliche Pflege nach entsprechender Auf- klärung bei regelmäßiger fürsorge- rischer Überwachung (möglichst Aktivierung einer Nachbarschafts- hilfe), Verbringung in eine Pflege- familie (mit Zustimmung oder nach Entzug des Sorgerechts der Eltern) sowie schließlich die Heimpflege.

Daß letztere infolge psychischer Vernachlässigung große Gefahren mit sich bringen kann, ist heute all- seits bekannt.

Die Wahl eines Heimes ist somit auch eine entscheidungsschwere Aufgabe. Daß die Mitwirkung der Ärzteschaft auf jedem dieser Ge- biete entscheidend ist, liegt auf der Hand. Alle Partner sollten sich ih- rer Verantwortung stärker bewußt werden: Die Eltern der klaren und vielleicht einzuengenden Grenzen ihres Elternrechts, aber auch glei- chermaßen die Gesellschaft mit ih- ren zwar selbstverständlichen For- derungen an den Erwachsenen, aber oft unzureichenden Hilfen für das schwache, wehrlose Kind.

Literatur

Kahnt, R.: öffentliches Gesundheitswesen 34 (1972) 14.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med, Ulrich Köttgen 65 Mainz

Langenbechstraße 1

IN KÜRZE

Therapie

Ein frühkindlicher Hydrozephalus ist nur operativ erfolgversprechend zu behandeln. Mittel, welche die Produktion von Liquor einschrän- ken — und vor allem entwässernde Maßnahmen — entfalten lediglich einen kurzfristigen Effekt. Vor der chirurgischen Intervention ist es außerordentlich wichtig, die Form des Hydrozephalus zu differenzie- ren und die Ursache aufzuspüren.

Das Verfahren der Wahl ist die Ventiloperation, auch wenn danach relativ häufig Revisionen durchge- führt werden müssen. Bei diesem Vorgehen wird der Liquor aus dem Seitenventrikel über die Jugularis- vene in den rechten Herzvorhof ab- geleitet, und zwar mit einem Ein- wegventil. Die drei derzeit am mei- sten verwendeten Ventilsysteme sind gewebefreundlich und werden von den Patienten gut toleriert. We- niger als ein Prozent der operier- ten Säuglinge und Kleinkinder mit einem Hydrozepahlus kommt auf Grund des Eingriffs ad exitum. cb (Leheta, F.: Med. Klin. 69 [1974]

626-629)

Bei kardiogenem Schock nach ausgedehntem Myokardinfarkt ist mit einer Sterblichkeit von 80 bis 90 Prozent zu rechnen. In solchen Fällen ist auf Grund der schlechten Spontanprognose eine Infarktekto- mie angezeigt. Voraussetzung ist, daß eine Koronarangiographie durchgeführt werden kann und eine herzchirurgische Klinik zu ei- ner Notoperation mit einer Herz- Lungen-Maschine bereit ist. Außer dem kardiogenen Schock nach massivem Herzinfarkt bilden drei weitere Komplikationen eine abso- lute Indikation zur Infarktektomie, und zwar die Ruptur der linken Ventrikelwand mit 'Herzbeuteltam- ponade, die Ventrikel-Septum-Rup- tur mit Links-rechts-Shunt sowie die Papillarmuskal-Infarzierung der Mitralklappe (sogenanntes akutes Papillarmuskel-Syndrom). cb (Achatzy, H. et al.: Herz/Kreisl. 6 [1974] 245-248)

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 37 vom 12. September 1974 2651

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