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Archiv "Der Verlust des Menschenbildes" (24.10.1974)

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Abbildung 4: Lambert Maria Wintersberger: „Spaltung 9", 1969, Acryl auf Lein- wand, 140 mal 115 cm, Galerie Müller, Köln

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Eine Serie von Bildern (Abbildung 4) zeigt ein Daumenendglied, das in übersteigerter und dadurch un- natürlicher Plastizität durch ein nicht mehr sichtbares Skalpell in mehrere Scheiben gespalten ist.

Auffällig ist, daß keine natürlichen - Verletzungsfolgen, keine Blutstrop- fen, keine Hautfetzen von der

„Operation" zurückgeblieben sind.

Dadurch wird jedes anekdotische Element, das durch einen zu gro- ßen Realitätsgrad von dem allge- meingültigen Symbolcharakter der Verletzungen ablenken könnte, ausgeschaltet.

Die gleichen bildnerischen Ele- mente weisen die „Sprengungen"

auf. Auch hier (Abbildung 5) mo- numentale Fingerendglieder, die, durch eine Sprengung ausgehöhlt, nur noch eine Hüllform bilden. Der Fingernagel ist in der Mitte gespal- ten und die beiden Teile seitlich nach außen geschlagen. Dadurch, daß das Leben, das Blut aus dem Finger gewichen ist, ist er funk- tionslos geworden und zerstört.

Wintersbergers Bilder werden so zur Anklage gegen Mechanismen, die den Menschen in allen seinen Funktionen bedrohen und ihn nicht nur körperlich verletzen, sondern auch das Geistige in ihm zerstören.

Das eingangs erläuterte Gestal- tungsprinzip, künstlerische Aussa- gen über den Menschen in unserer Zeit nicht am menschlichen Porträt zu machen, sondern durch Über- tragung menschlicher Verhaltens- muster und Ausdrucksformen auf Dinge zu verdeutlichen, wird be-

weise seriell aneinanderreiht. Jede Pflanze ist auf diesen Bildern eben- so groß wie die andere, bean- sprucht den gleichen Lebensraum wie die benachbarte. Für individu- elles Wachstum bleibt kein Platz.

Ausgerichtet in strengen Ordnun- gen weisen die Pflanzen keine Formunterschiede auf — wie sollten sie auch, wo gleiche Wachstums- bedingungen durch künstliche Be- wässerungsrinnen, Nährbodenkä- sten, rationierte Kunstdüngerde- pots gewährleistet sind (Abbildung 6 auf Seite 3127).

Wenn Waldenburg die dressierte Natur derart bedrückend darstellt, so beschreibt er damit gleichzeitig die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft. Die Isolation des einzelnen trotz oft drangvoller Enge in den Hochhaus-

Der Verlust des Menschenbildes

Transformismus: Subjektive Bedeutungen werden auf Gegenstände übertragen

Helmut Jaeschke

Fortsetzung und Schluß

sonders klar an den Bildern des Berliner Malers Hermann Walden- burg (geboren 1940). Seine Trans- formationsmedien sind jedoch kei- ne toten Gegenstände, sondern Pflanzenkeimlinge, die er vorzugs-

3126

Heft 43 vom 24. Oktober 1974 DEUTSCHES ARZTEBLAIT

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Abbildung 5: Lambert Maria Wintersberger: „Sprengung 14", 1970, Acryl auf Lein-

Abbildung 6: Hermann Waldenburg: „Kunstdüngerdepots", 1972, Öl auf Leinwand, Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen

Transformismus

populationen drängt sich beim Be- trachten dieser Bilder auf. Die speerspitzengleich gegeneinander- gerichteten Keimblätter auf man- chen Bildern deuten dies an (Abbil- dung 7). Die Schablone, formales Gestaltungsmittel Waldenburgs, wird identisch mit der künstleri- schen Aussage.

Kleinhammes (geboren 1937), der prinzipiell in die Kategorie der

„transformierenden" Maler gehört, weist gleichwohl einen deutlichen Unterschied zu den bisher aufge- führten Künstlern auf, indem er kei- ne realen Gegenstände abbildet, wie einen Tisch, einen Stuhl, eine Maschine, sondern — wie er selbst

es nennt — „Scheinobjekte" dar- wand, 99 mal 144 cm, Privatbesitz stellt. Auf dem Bild „Metaphysi-

sche Landschaft/Moderne Zeiten"

(Abbildung 8) sehen wir zentral zwei Kuben, die, gegeneinander versetzt, sich an einer Kante be- rühren. Die Kuben sind materiell nicht ausdeutbar — etwa als Haus.

Durch eine Schlagschattenbildung des vorderen Kubus auf dem hinte- ren sowie auf dem Untergrund kommt eine räumliche Wirkung in das Bild. Die Raumsituation wird noch deutlicher durch die begren- zende Horizontlinie in der Bildmitte sowie durch die darüber liegende, bandförmige Fläche, die wir als et- was Bergähnliches identifizieren.

Auf assoziativem Wege erkennen wir also aus den Flächen und For- men, unterstützt durch die Farbe, einen Raum bzw. eine Landschaft mit zwei Kuben. Die „Scheinobjek- te" werden von Kleinhammes ebenfalls als Bedeutungsträger verstanden wie beispielsweise die Klapheckschen Maschinen: „Sie spezifizieren den erkannten Raum inhaltlich, geben ihm weitere gei-

stige Richtung. Umgekehrt erhalten 100 mal 120 cm, Privatbesitz die Scheinobjekte durch den sie

umgebenden Raum inhaltliche Di-

mensionierung." Kleinhammes will bis hin zu metaphysischen Erfah- des Transformismus zuzurechnen durch den Verzicht auf reale Ob- rungen gelangen können". Damit sind. Die gleiche Dingdarstellung jekte, wie sie z. B. von Klapheck erreicht Kleinhammes eine neue (Ding im weitesten Sinne) mit und Gnoli bevorzugt werden, einen Dimension der Transformierung. Übertragung von teils magisch-me- noch größeren Assoziationsspiel- taphysischen, teils allgemein- raum und eine stärkere Verinnerli- In dieser exemplarischen Darstel- menschlichen Bedeutungsinhalten chung seiner „Figurationen" errei- lung können nicht alle Künstler auf das Dargestellte, finden wir bei chen. Der Betrachter soll „zu im- ausführlich vorgestellt werden, die einer Reihe weiterer Künstler. Teil- mer unbegrifflicheren Aussagen dem eingangs definierten Begriff weise werden sie der „Neuen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 43 vom 24. Oktober 1974 3127

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Abbildung 7: Hermann Waldenburg: „Der grüne Graben", 1971, Öl auf Leinwand, 80 mal 93 cm, Privatbesitz

Abbildung 8: Hans-Jürgen Kleinhammes: „Metaphysische Landschaft/Moderne Zeiten", 1972, Dispersion auf Leinen, 85 mal 135 cm, Privatbesitz

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Transformismus

Landschaft" zugerechnet, wie Jens Lausen (geboren 1937), Werner Nö- fer (geboren 1937), Peter Tuma (geboren 1938), Hans Peter Reuter (geboren 1942), teilweise unter dem Begriff synthetische Figura-

tion zusammengefaßt, z. B. Jobst Meyer (geboren 1940), Dieter Krieg (geboren 1937), Nino Malfatti (ge- boren 1940) oder aber als „Neue Realisten" bezeichnet wie Dieter Asmus (geboren 1939), Peter Nagel

(geboren 1941) und Dietmar Ullrich (geboren 1940).

Nicht zu dieser Gruppierung gehö- ren jedoch die Photorealisten und Trompe-l'oeil-Maler wie Alfred Ho- kunst (geboren 1942), Jorge Stever (geboren 1940) und andere, die sich zwar auch einer Dingdarstel- lung verschrieben haben, jedoch über die Abbildung einer vorgege- benen Realität keine weiteren all- gemeingültigen Informationen lie- fern. Dies ist bei einer rein deskrip- tiven, realistischen Darstellungs- weise auch nicht zu erwarten, denn erst die formale Reduktion, weitge- hende Abstraktion und Verwand- lung der vorgegebenen Dingrealität

— wie sie von allen hier vorgestell- ten Malern geübt wird — schafft die neuen Bedeutungsinhalte.

Wenn wir also vom Begriff des Transformismus sprechen, so bein- haltet er nicht nur die Übertragung von Bedeutungsinhalten verschie- denster Art auf Dinge, denen diese Bedeutungsinhalte primär nicht in- newohnen, sondern zugleich auch eine formale Neuschöpfung der dargestellten Dingrealität. Am wei- testen in der Reduktion geht hier Kleinhammes, der den Kubus als letzte Abstraktionsformel eines realen Dinges gewählt hat. Formal ist allen genannten Künstlern eine konstruktive Strenge und Exaktheit eigen. Sie verzichten auf eine ex- pressive, individuelle Handschrift, um den Eindruck des Individualisti- schen, Anekdotischen in ihrer Ma- lerei zu meiden, zugunsten einer stärkeren Allgemeingültigkeit und Vergeistigung des Dargestellten.

So unbefriedigend wie die Einord- nung der genannten Künstler in an- dere Richtungen bisher war, so sinnvoll scheint mir ihre Zusam- menfassung unter dem Begriff Transformismus aus den genann- ten zahlreichen Übereinstimmun- gen und Gemeinsamkeiten.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Helmut Jaeschke 463 Bochum-Querenburg Westerholtstraße 15

3128 Heft 43 vom 24. Oktober 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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