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Archiv "Der Verlust des Menschenbildes" (17.10.1974)

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notiz&l.

FEUILLETON

Über das Ding, so scheint es, voll- zieht sich heute die bildnerische Definition unserer Wirklichkeit.

Werner Haftmann Das menschliche Porträt mit der ganzen Ausdrucksskala seiner Ge- fühle vom tiefsten Leid bis zur höchsten Verzückung, wie es Jahr- hunderte hindurch die Maler inter- essiert hat, scheint in der Malerei unserer Zeit verlorengegangen zu sein. Vergeblich wird man heute nach derart intimen, ausdrucks- starken Menschenbildern Aus- schau halten, wie sie erst kürzlich von Paula Modersohn-Becker im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT (Hefte 18 und 19/1974) zu sehen waren. Die Scheu, Gefühle offen zu zeigen und darzustellen, mag wohl ein Grund dafür sein, daß das Porträt sich heute in fotografischer Abbildung des menschlichen Gesichts er- schöpft (z. B. Chuck Close) oder aber in zerstörerischer Deformie- rung einer Differenzierung beraubt wird (z. B. Wolfgang Petrick). Kann man daraus folgern, daß jegliche Psychologisierung, jeglicher diffe- renzierte Ausdruck von menschli- chen Erlebnisschichten in der neueren Malerei fehlt?

Als Konrad Klapheck 1955 an der Düsseldorfer Kunstakademie mit größter Genauigkeit eine alte Con- tinentalschrei bmaschi ne abbildet, entdeckt er, daß er in Wirklichkeit dabei ist „ein wenig schmeichel- haftes Porträt seiner selbst" zu ma- len. Damit — so scheint mir — be- ginnt exemplarisch eine inzwi- schen zu einer breiten Strömung in der Malerei angewachsene neue

psychologisierende Gestaltmalerei.

Als Gemeinsamkeit findet sich bei all diesen Malern der Verzicht auf menschlich-figurative Elemente zu- gunsten einer monomanen Ausein- andersetzung mit Dingen (im weite- sten Sinn) vorzugsweise aber Ge- genständen des täglichen Lebens.

Hierbei werden diese Objekte je- doch — und das ist das besondere

— mit vielschichtigen Bedeutungs- inhalten beladen, die ihnen primär nicht zukommen. Wie in der langen Geschichte der Malerei zuvor wer- den auch heute menschliche Trie- be und Ängste, Leidenschaften und Wünsche dargestellt. Sie werden jedoch nicht am menschlichen Ab- bild sichtbar, sondern transformiert in eine andere Gestalt. (Man könn- te hierfür den Begriff des „Trans- formismus" aufstellen, wobei man unter Transformierung die Übertra- gung von einer Gestalt in die ande- re unter Bewahrung ihrer Eigen- schaften versteht. Im speziellen Fall heißt das: die Übertragung von menschlichen Eigenschaften und subjektiven Bedeutungsinhalten auf Gegenstände, wodurch diese ihren Objektcharakter verlieren und Subjektcharakter annehmen.) Im Nachfolgenden möchte ich ver- suchen einen kleinen Eindruck von dem Reichtum der Ausdrucksmög- lichkeiten zu vermitteln, der gerade aus der formalen Beschränkung der verschiedenen Maler resultiert.

Ich beschränke mich dabei weitge- hend auf Künstler aus Deutsch- land, da gerade hier unter der neu- en Maler-Generation hervorragen- de Vertreter dieser Richtung zu fin- den sind.

Eine große Klapheck-Retro- spektive, die zur Zeit bis zum 3. November in Rotterdam im Museum Boymans-van-Beu- n ingen zu sehen ist, danach vom 21. November bis 12. Ja- nuar 1975 in Brüssel im Palais des Beaux Arts und dann vom 24. Januar bis 2. März 1975 in Düsseldorf in der Kunsthalle gezeigt wird, ist der zeitliche „Aufhänger" für diesen Aufsatz. Der Autor, Förderer der zeitgenössi- schen Kunst und der Erhal- tung alter westfälischer Kul- turdenkmäler, der zusammen mit Frau Dr. med. Gerda Jaeschke Kunstausstellungen in einem alten Bauernhof or- ganisiert (siehe „Die Misere des Einzelnen" in DEUT- SCHES ÄRZTEBLATT Heft 46/1972, Seite 3046 bis 3053), prägt den neuen Begriff des

„Transformismus". Mit Hilfe dieses Begriffes umfaßt und interpretiert er die Werke ei- ner Gruppe von zeitgenössi- schen Künstlern, die eine eindringliche psychologisie- rende Gegenstandsmalerei

betreiben. DÄ

Konrad Klapheck (geb. 1935) — um mit ihm fortzufahren — entwickelt nach seiner Entdeckung der Ma- schine als Bedeutungsträger sei- nen eigenen Formenkanon, mit dem er die verschiedensten menschlichen Erfahrungen und zwischenmenschlichen Beziehun- gen darstellt: die Schreibmaschine assoziiert fast ausschließlich männliche Eigenschaften. Sie ist

„der Herrscher", „der Gesetzge- ber", „der Supermann". Die Näh- maschine dagegen ist das weibli- che Pendant und steht für „die ge- fährliche Partnerin", „die Intellek- tuelle", „Witwenschaft". Dabei be- läßt Klapheck es nicht bei einer fo- tografischen Abbildung der Ma- schinen, sondern die Maschinen erfahren eine Verwandlung, wie in dem Bild „Der Supermann" (Abbil-

Der Verlust des Menschenbildes

Transformismus: Subjektive Bedeutungen werden auf Gegenstände übertragen

Helmut Jaeschke

3046 Heft 42 vom 17. Oktober 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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Abbildung 1: Konrad Klapheck: „Der Supermann", 1962, Öl auf Leinwand, 140 mal 170 cm, Sammlung Ludwig, Wallraf-Richartz-Museum, Köln

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Abbildung 2: Konrad Klapheck: „Die stolzen Frauen", 1961, Öl auf Leinwand, 80

Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Transformismus

dung 1). Die Schreibmaschine füllt den gesamten Bildraum aus, ja scheint fast die Bildgrenzen zu sprengen. Die Farbbandrollen bil- den zwei riesige Augen unter der bedeutungsschweren Stirn, die durch die Walze geformt wird. Ist es Zufall, daß kein Blatt die Walze bedeckt, folglich keine Schrift, kei- ne Gedanken hinter der Stirn des

„Supermannes" zu finden sind?

Beherrscht wird das „Gesicht"

durch den Zapfen zwischen den Farbbandrollen, der gleichzeitig für Nase und männliche Sexualkraft stehen kann. Eine gefühlvollere zärtlichere Sprache sprechen die Bilder mit den Wasserhähnen und Duschen, die nach Klapheck „seit jeher die Vertrauten des Physi- schen im Menschen sind und zu Geschöpfen werden, die ganz dem Eros leben".

Das Bild „Die stolzen Frauen" (Ab- bildung 2) zeigt hochaufgereckt, aus der Untersicht gesehen, zwei aus Röhren geformte Figuren, die unschwer als dem weiblichen Ge- schlecht zugehörig identifiziert werden. Eine eng geschnürte Taille über dem fülligen Unterleib setzt sich fort in die querverlaufende, chromglänzende, alles beherr- schende Röhrenform, die die Brustpartie bildet. Der vergleichs- weise kleine Kopf verschwindet fast unter dem prunkvollen breit- randigen Hut, den die Schraube bildet.

Trotz der Härte und Präzision, mit der die Maschinen und Apparatu- ren dargestellt sind, führt Klapheck den Grad der Determination seiner Gestalten nicht so weit, daß nicht genügend Raum für unterschiedli- che Assoziationsmöglichkeiten beim Betrachter erhalten bleibt. Er erreicht damit möglicherweise eine größere Ausdrucksbreite und krea- tivitätsfördernde Aussagekraft, als ein herkömmliches Individualpor- trät es leisten kann.

Ein Zitat des Italieners Domenico Gnoli (geb. 1933 in Rom, gest.

1970) läßt dessen künstlerische

Nachbarschaft zu Klaphecks magi- mal 64 cm, Privatbesitz Fotos: Walter Klein, Düsseldorf

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 42 vo T117. Oktober 1974 3047

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Transformismus

schen Maschinen erkennen. Gnoli schrieb: „Für mich ist der alltägli- che Gegenstand selbst, vergrößert durch die ihm geschenkte Auf- merksamkeit, wichtiger, schöner und schrecklicher als jede Erfin- dung und Phantasie ihn hätten ma- chen können. Er sagt mir mehr über mich selbst als irgend etwas anderes, erfüllt mich mit Furcht, Ekel und Entzücken."

Nicht so sehr durch Verwandlung und Abstraktion — wie bei Klap- heck — gewinnen die Bildobjekte Gnolis ihr magisches Eigenleben, sondern durch gezielte Bildaus- schnitte und Vergrößerung des Dargestellten.

Gnolis Porträt einer Dame wird re- duziert auf die ins Monumentale vergrößerte Rückansicht ihrer Füße in hochhackigen Schuhen (Abbil- dung 3). Für Gnoli sagen die For- men der Schuhe mit ihrem Wech- sel zwischen Konkav und Konvex, zwischen prallen geblähten und`

zwischen eingeschnürten Formen mehr über das Wesen einer Frau, als ein Porträt es leisten könnte.

Gnoli konfrontiert uns auf seinen Bildern mit Dingen, die wir bisher nicht des Anschauens für wert er- achtet haben. Durch die Monumen- talität eines fast zwei Meter groß dargestellten offenen Knopfloches, einer Anzugtasche, eines Haar-

schopfes, eines Scheitels erlangen die Dinge eine neue Selbstver- ständlichkeit und lösen sich von ih- rem realen Sinngehalt und vorder- gründigen Bezugssystem. Die der dargestellten Stofflichkeit unad- äquate Malweise verstärkt das Ei- genleben der Dinge und gibt ihnen neue Bedeutungsinhalte: Mit Vor- liebe trägt Gnoli die Farben ver- mischt mit Sand auf die Leinwand auf, wodurch eine Oberflächen- struktur entsteht, die haptische Reize aufweist. Das Dargestellte verliert so seine Individualität und Banalität zugunsten eines Idolcha- rakters.

Der Verlust des Menschenbildes zeichnet auch die Bilder Lambert Maria Wintersbergers aus (geboren 1941). Obwohl er beklemmende Zu- stände menschlicher Bedrängnis und Angst beschreibt, benötigt auch er nicht die menschliche Ge- stalt oder das Porträt zur Darstel- lung. Er nimmt keine „Dinge" im strengen Sinne als „Transforma- tionsfigur", sondern treibt den Par- tikularismus Gnolis auf die Spitze, indem er nur einen winzigen Teil des menschlichen Körpers, einen Finger beziehungsweise ein Finger endglied zu seinem Darstellungt objekt erwählt.

Die ganze Skala menschlicher Peir und Qual widerfährt diesem „Ge•

genstand" stellvertretend für diE gesamte Menschheit. In durchweg großformatigen Acryl-Bildern voll- ziehen sich alle erdenklichen Arten der Folterung am Fingerendglied.

Daumenschrauben quetschen es zusammen, Klammern bohren sich in das Fleisch, Nylonschnüre pres- sen sich in den Finger hinein.

Wird fortgesetzt

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Helmut Jaeschke 463 Bochum-Querenburg Westerholtstraße 15 Abbildung 3: Domenico Gnoli: „Lady's Feet", 1969, öl mit Sand vermischt auf

Leinwand, 191 mal 161 cm, Von-der-Heydt-Museum, Wuppertal

Foto: van Santvoort, Wuppertal

3048 Heft 42 vom 17. Oktober 1974

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

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