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Archiv "Die Überschätzung der Psychoanalyse: Psychotherapie im Organfach" (22.02.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Psychoanalyse

sein Verhalten angegeben. Von die- ser Sekunde an waren Angst und die intensiven psychogenen Herzbe- schwerden verschwunden, auch der psychogene Schwindel, der ihn bis dahin geplagt hatte. Vom Moment an, wo er intensiv um die Wiederer- teilung der Fahrerlaubnis kämpfte, war er auch wieder arbeitsfähig. Der Verlust, den ihm die Krankheit ein- brachte, war größer geworden als der vorherige neurotische Krank- heitsgewinn.

Nun soll mit diesen Zeilen nicht die Behauptung aufgestellt werden, daß Psychotherapie schlechthin sinnlos sei. Aber der Gesichtspunkt, der sich aus den eingangs erwähnten Fällen ergibt, wird bisher nicht genügend gewürdigt:

Behandeln wir die Neurotiker rich- tig, das heißt ist die Tendenz, wel- che in unserem bisherigen psycho- analytischen, gesprächstherapeuti- schen, gruppentherapeutischen usw. Verfahren liegt, geeignet, die Neurose im Einzelfall zu bessern und zu heilen, sie zu verstehen und die Zahl der an Neurose erkrankten Menschen im Laufe der Jahre weni- ger werden zu lassen? Oder ist es etwa eher umgekehrt, daß alle bis- herigen psychotherapeutischen Konzepte die Verhaltensgestörten in ihrer Fehlhaltung ermutigen und be- stärken? Sprechen nicht viele Beob- achtungen dafür, daß sich seit Be- ginn der orthodoxen Psychothera- pie die Neigung der Bevölkerung zu neurotischen Versagungshaltungen eher verstärkt? Fordern alle bishe- rigen Psychotherapieschulen den einzelnen nicht vielleicht zu wenig?

Und erkennen sie ihm für sein eige- nes Verhalten nicht möglicherweise ungenügend Verantwortung zu, bie- ten statt dessen ihm Erklärungen an, welche ihn vor seinem eigenen Ge- wissen exkulpieren? Wenn Erlebnis- se in der frühen Kindheit oder auch

— sozialpsychologisch gesehen — die Gesellschaft schuldige Ursache für bestimmte Verhaltensstörungen sind, wird der Betroffene wenig Nei- gung haben, seine eigenen Energien zur Besiegung der Störung mit allen Kräften anzuspannen!

Eine Ausnahme unter den genann- ten psychotherapeutischen Metho- den bildet sicher die Verhaltenspsy- chologie, die von Anfang an darauf abgestellt ist, an die Stelle des mo- nate- oder jahrelangen selbstbemit- leidend um die eigene Person krei- senden therapeutischen Gesprä- ches die aktive Handlung zu setzten, nämlich das Verlernen der Fehlhal- tung und das Erlernen einer neuen, der Umgebung und nicht der eige- nen Persönlichkeit zugewandten Haltung.

Die orthodoxe Psychoanalyse, die — sei es im Kurzverfahren, sei es in jahrelangen Behandlungen — den Kranken im isolierten Kämmerchen behandelt, vernachlässigt von vorn- herein Erkenntnisse, die Freud noch nicht gehabt oder nicht so gesehen hat, nämlich die Einbezogenheit des Gestörten in seine Umgebung, die multifaktorielle Verursachung, die Interaktion der Bezugsperson inner- halb von Familie, Freundeskreis und Arbeitsteam. Es ist sicher nicht die Ausnahme, sondern mehr die' Regel, daß der Psychoanalytiker in seiner langen Behandlungszeit vielleicht nicht einmal die Ehepartner, meist aber nicht mal andere Familienmit- glieder, etwa die Schwiegermutter, oder sonstige Bezugspersonen ex- ploriert. Tatsache ist, daß in dieser sozialpsychologischen bzw. sozial- psychiatrischen Betrachtungsweise ein neuer notwendiger und vielver- sprechender therapeutischer Weg beschritten worden ist, den im gro- ßen Umfang zu begehen aber das riesige finanzielle und therapeuti- sche Engagement verhindert, wel- ches dafür erforderlich ist. Sozial- psychologie in großem Umfang be- treiben, dazu fehlt einfach dem ein- zelnen und der versicherten Ge- meinschaft das Geld. Aber den Kran- kenkassen wird auch sehr schnell das Geld ausgehen, wenn mit den bisherigen Methoden weiterbehan- delt wird, jetzt aber von einer Viel- zahl von psychologischen und ärztli- che Therapeuten gemeinsam auf Krankenschein.

Bevor man den Gesetzesentwurf über den Beruf des Psychothera- peuten Wirklichkeit sein läßt, sollte

man unter anderem noch die sehr wichtige Frage abklären, wo in der Psychotherapie die Seelsorge auf- hört und wo die Behandlung einer einigermaßen exakt als Krankheit definierbaren Störung anfängt. Die Krankheitsdefinition der Weltge- sundheitsorganisation, welche prak- tisch jedes Unbehagen in den Krankheitsbegriff einbezieht, ist si- cher vollkommen ungeeignet. Wür- de man ihr folgen, wären die Mittel der gesetzlichen Krankenkasse schnell für die Behandlung seeli- scher Fehlhaltungen erschöpft, für alle anderen Erkrankungsfälle blie- be kaum noch etwas übrig.

Die Erwartungen der Allgemeinheit gegenüber allen psychotherapeuti- schen und auch sozialpsychologi- schen Behandlungsangeboten sind überdimensional groß geworden und stehen sicher in gar keinem Ver- hältnis zu der Erfolgsbilanz dieser so jungen Wissenschaften. Ihre Ver- treter haben aber auch wenig dazu beigetragen, die Öffentlichkeit dar- über aufzuklären, daß sich vieles bei den verschiedenen psychotherapeu- tischen Schulen noch im Experi- mentierstadium befindet, daß man schon vieles weiß, aber noch wenig kann.

Dr. med. Werner Nieschke Arzt für Nerven- und Gemütsleiden Neusser Straße 647 5000 Köln-Weidenpesch

Psychotherapie im Organfach

Der Diskreditierung der Psychoana- lyse durch Herrn Dr. Puder möchte ich doch begegnen, gerade weil die Psychoanalyse nach meiner Erfah- rung als Hautarzt ein so wertvolles therapeutisches Hilfsmittel bei psy- chosomatisch bedingten Hauter- krankungen darstellt. Es wäre scha- de, wenn durch den Artikel bei inter- essierten jüngeren Kollegen ein Vor- urteil gegen die Psychoanalyse ge- weckt würde, das sie dann davon abhalten würde, sich mit den thera- peutischen Möglichkeiten der Psy- choanalyse auseinanderzusetzen.>

516 Heft 8 vom 22. Februar 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Psychoanalyse

Der Autor bemüht mehrfach, um sei- ne Meinung zu stützen, Karl Jaspers, dessen erste Auflage seines Haupt- werkes aus dem Jahre 1913 stammt.

Seitdem hat die Psychoanalyse grundlegende Weiterentwicklungen durchgemacht. Hierauf hat zum Bei- spiel Hans Kilian in seinem Brief an C. F. v. Weizsäcker nachdrücklich hingewiesen (C. F. v. Weizsäcker

„Der Garten des Menschlichen", München 1977, S. 289 f.).

Eine so diffuse Polemik, wie der Au- tor sie betreibt, nutzt niemandem, am wenigsten unseren Patienten.

Man möchte dem Autor eine Mah- nung Karl Jaspers' entgegenhalten, die im Vorwort zur III. Auflage (1922) seines Hauptwerkes steht: „Man muß in der Flut psychopathologi- schen Geredes lernen, zu wissen, was man weiß und was man nicht weiß, wie und in welchem Sinne und in welchen Grenzen man etwas weiß, mit welchen Mitteln dieses Wissen erworben und begründet wird."

Dr. med. Heinrich Eichert Hautarzt,

Psychotherapie Schloßstraße 38 5400 Koblenz

Das „gemeine Unglück"

. Gegen die Kritik an einer etwai- gen Überschätzung der Psychoana- lyse können wir als Psychoanalytiker eigentlich nichts einzuwenden ha- ben. Die Erkenntnis, daß Idealisie- rung eine Form der Abwehr von Ag- gression ist, ist schließlich eine ge- nuin psychoanalytische. Wir halten aber die Psychoanalyse in der Medi- zin hierzulande nach wie vor eher für unterschätzt und Herrn Puders Aufsatz für den Versuch, ihre Diskre- ditierung mit fragwürdigen, gele- gentlich demagogischen Mitteln zu betreiben. Wir möchten ihn daher nicht unwidersprochen lassen. Herr Puder nennt sich einen „unvorein- genommenen Beobachter". Die Vor- eingenommenheit und Inkonsistenz seiner Argumentationsweise glau- ben wir jedoch an einigen Punkten aufweisen zu können.

Beginnen wir mit dem in Puders Auf- satz so schillernden Neurosenbe- griff, der einiger Klarstellungen be- darf. Neurosen gibt es nicht erst seit Freud; sie werden entgegen Herrn Puders Auffassung auch nicht erst seit Freud so genannt. Der Begriff

„Neurose" wurde von dem schotti- schen Arzt W. Cullen 1776 geprägt und erhielt seine heutige Bedeutung im Sinne einer psychogenen, von unbewußten Strebungen bestimm- ten Erkrankung ansatzweise bereits vor dem Aufkommen der Psycho- analyse im Verlaufe des 19. Jahrhun- derts durch ärztliche Forscher wie Charcot, Bernheim, Janet und ande- re. Neurosen und psychosomatische Störungen gibt es auch keineswegs nur in der psychoanalytischen Pra- xis; Kranke mit psychogenen Sym- ptomen machen vielmehr seit jeher einen erheblichen Anteil der Patien- ten aus, die zum Allgemeinpraktiker, zum Internisten, zum Pädiater, zum Nervenarzt kommen (Bräutigam und Christian, „Psychosomatische Medi- zin", sowie Delius und Fahrenberg,

„Psychovegetative Syndrome" ge- ben aufgrund zahlreicher statisti- scher Erhebungen einen Anteil von rund 25 Prozent an). Der subjektive Leidenscharakter dieser Beschwer- den, ihre Unbeherrschbarkeit und Ichfremdheit, die in vielen Fällen aufweisbare Organfunktionsstörung und schließlich ihre Tendenz zur Chronifizierung kennzeichnen sie als Krankheiten. In ihnen nur den Ausdruck „persönliche(r) Eigenart"

zu sehen, wie Herr Puder es will, erscheint uns als Verkennung des Wesens dieser Störungen. Wer als Arzt einen Patienten vor sich hat z.

B. mit einer schweren Agoraphobie, mit quälenden Zwangsimpulsen und Zwangsritualen, mit herzneuroti- schen Anfällen von Todesangst oder mit einer konversionshysterischen Lähmung, der wird nicht ernstlich bestreiten wollen, daß es sich hier um Kranke handelt, die einer fach- kundigen Behandlung bedürfen. Die Anerkennung neurotischer und psy- chosomatischer Störungen als Krankheiten im Sinne der RVO und psychoanalytischer Therapieverfah- ren als wissenschaftlich anerkannter Heilmethoden trägt dieser klini- schen Realität Rechnung und besei-

tigt eine soziale Ungerechtigkeit; sie erfüllt Freuds alte Forderung, Psy- choanalyse den breiten Volks- schichten zugänglich zu machen.

Daß die Beschwerden dieser Kran- ken sich nicht mit Hilfe eines organ- medizinischen, rein naturwissen- schaftlich fundierten Krankheitsmo- dells erklären lassen, macht sie nicht zu Gesunden und enthebt den Arzt nicht seiner therapeutischen Verantwortung für sie, sondern ver- pflichtet vielmehr die Medizin zu ei- ner Erweiterung ihres Krankheitsbe- griffs: Das zentrale pathogene Ge- schehen ist bei diesen neurotischen und psychosomatischen Krankhei- ten eben nicht (oder nur teilweise)

„personalunabhängig", wie Herr Puder fordert, als morphologische Organveränderung oder als objekti- vierbare funktionelle physiologische Störung zu erfassen; es wird viel- mehr erst unter einer anderen Optik in seiner Besonderheit erkennbar und kausal behandelbar, nämlich unter einer Perspektive, die nicht vom versachlichten Krankheitspro- zeß, sondern vom Kranken als einem in personale Beziehungen einge- bundenen und in bewußte und un- bewußte Konflikte verstrickten Sub- jekt ausgeht. Konflikte sind als sol- che natürlich nicht etwas Krankhaf- tes, sondern gehören zum menschli- chen Leben; sie können aber patho- gen werden, wenn sie wegen ihrer Unerträglichkeit vom bewußten Er- leben abgespalten oder verdrängt werden und aus dem unbewußten Bereich der Persönlichkeit ihre Viru- lenz entfalten: neurotische und psy- chosomatische Symptome sind Aus- druck solcher unbewußten Konflikte und defiziente Versuche ihrer Lösung.

Die therapeutische Aufgabe des Analytikers besteht wesentlich dar- in, die (vorwiegend in der Übertra- gungsbeziehung zum Therapeuten auftauchenden) pathogenen unbe- wußten Konflikte dem Kranken be- wußt und damit als seine eigenen Probleme verfügbar zu machen, für die er nun „gesündere", d. h. reifere und adäquatere Lösungsformen zu entwickeln lernt. Die von Herrn Pu- der beschworene „Gefahr der Para-

518 Heft 8 vom 22. Februar 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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