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Archiv "Die Überschätzung der Psychoanalyse: Das „gemeine Unglück“" (22.02.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Psychoanalyse

Der Autor bemüht mehrfach, um sei- ne Meinung zu stützen, Karl Jaspers, dessen erste Auflage seines Haupt- werkes aus dem Jahre 1913 stammt.

Seitdem hat die Psychoanalyse grundlegende Weiterentwicklungen durchgemacht. Hierauf hat zum Bei- spiel Hans Kilian in seinem Brief an C. F. v. Weizsäcker nachdrücklich hingewiesen (C. F. v. Weizsäcker

„Der Garten des Menschlichen", München 1977, S. 289 f.).

Eine so diffuse Polemik, wie der Au- tor sie betreibt, nutzt niemandem, am wenigsten unseren Patienten.

Man möchte dem Autor eine Mah- nung Karl Jaspers' entgegenhalten, die im Vorwort zur III. Auflage (1922) seines Hauptwerkes steht: „Man muß in der Flut psychopathologi- schen Geredes lernen, zu wissen, was man weiß und was man nicht weiß, wie und in welchem Sinne und in welchen Grenzen man etwas weiß, mit welchen Mitteln dieses Wissen erworben und begründet wird."

Dr. med. Heinrich Eichert Hautarzt,

Psychotherapie Schloßstraße 38 5400 Koblenz

Das „gemeine Unglück"

. Gegen die Kritik an einer etwai- gen Überschätzung der Psychoana- lyse können wir als Psychoanalytiker eigentlich nichts einzuwenden ha- ben. Die Erkenntnis, daß Idealisie- rung eine Form der Abwehr von Ag- gression ist, ist schließlich eine ge- nuin psychoanalytische. Wir halten aber die Psychoanalyse in der Medi- zin hierzulande nach wie vor eher für unterschätzt und Herrn Puders Aufsatz für den Versuch, ihre Diskre- ditierung mit fragwürdigen, gele- gentlich demagogischen Mitteln zu betreiben. Wir möchten ihn daher nicht unwidersprochen lassen. Herr Puder nennt sich einen „unvorein- genommenen Beobachter". Die Vor- eingenommenheit und Inkonsistenz seiner Argumentationsweise glau- ben wir jedoch an einigen Punkten aufweisen zu können.

Beginnen wir mit dem in Puders Auf- satz so schillernden Neurosenbe- griff, der einiger Klarstellungen be- darf. Neurosen gibt es nicht erst seit Freud; sie werden entgegen Herrn Puders Auffassung auch nicht erst seit Freud so genannt. Der Begriff

„Neurose" wurde von dem schotti- schen Arzt W. Cullen 1776 geprägt und erhielt seine heutige Bedeutung im Sinne einer psychogenen, von unbewußten Strebungen bestimm- ten Erkrankung ansatzweise bereits vor dem Aufkommen der Psycho- analyse im Verlaufe des 19. Jahrhun- derts durch ärztliche Forscher wie Charcot, Bernheim, Janet und ande- re. Neurosen und psychosomatische Störungen gibt es auch keineswegs nur in der psychoanalytischen Pra- xis; Kranke mit psychogenen Sym- ptomen machen vielmehr seit jeher einen erheblichen Anteil der Patien- ten aus, die zum Allgemeinpraktiker, zum Internisten, zum Pädiater, zum Nervenarzt kommen (Bräutigam und Christian, „Psychosomatische Medi- zin", sowie Delius und Fahrenberg,

„Psychovegetative Syndrome" ge- ben aufgrund zahlreicher statisti- scher Erhebungen einen Anteil von rund 25 Prozent an). Der subjektive Leidenscharakter dieser Beschwer- den, ihre Unbeherrschbarkeit und Ichfremdheit, die in vielen Fällen aufweisbare Organfunktionsstörung und schließlich ihre Tendenz zur Chronifizierung kennzeichnen sie als Krankheiten. In ihnen nur den Ausdruck „persönliche(r) Eigenart"

zu sehen, wie Herr Puder es will, erscheint uns als Verkennung des Wesens dieser Störungen. Wer als Arzt einen Patienten vor sich hat z.

B. mit einer schweren Agoraphobie, mit quälenden Zwangsimpulsen und Zwangsritualen, mit herzneuroti- schen Anfällen von Todesangst oder mit einer konversionshysterischen Lähmung, der wird nicht ernstlich bestreiten wollen, daß es sich hier um Kranke handelt, die einer fach- kundigen Behandlung bedürfen. Die Anerkennung neurotischer und psy- chosomatischer Störungen als Krankheiten im Sinne der RVO und psychoanalytischer Therapieverfah- ren als wissenschaftlich anerkannter Heilmethoden trägt dieser klini- schen Realität Rechnung und besei-

tigt eine soziale Ungerechtigkeit; sie erfüllt Freuds alte Forderung, Psy- choanalyse den breiten Volks- schichten zugänglich zu machen.

Daß die Beschwerden dieser Kran- ken sich nicht mit Hilfe eines organ- medizinischen, rein naturwissen- schaftlich fundierten Krankheitsmo- dells erklären lassen, macht sie nicht zu Gesunden und enthebt den Arzt nicht seiner therapeutischen Verantwortung für sie, sondern ver- pflichtet vielmehr die Medizin zu ei- ner Erweiterung ihres Krankheitsbe- griffs: Das zentrale pathogene Ge- schehen ist bei diesen neurotischen und psychosomatischen Krankhei- ten eben nicht (oder nur teilweise)

„personalunabhängig", wie Herr Puder fordert, als morphologische Organveränderung oder als objekti- vierbare funktionelle physiologische Störung zu erfassen; es wird viel- mehr erst unter einer anderen Optik in seiner Besonderheit erkennbar und kausal behandelbar, nämlich unter einer Perspektive, die nicht vom versachlichten Krankheitspro- zeß, sondern vom Kranken als einem in personale Beziehungen einge- bundenen und in bewußte und un- bewußte Konflikte verstrickten Sub- jekt ausgeht. Konflikte sind als sol- che natürlich nicht etwas Krankhaf- tes, sondern gehören zum menschli- chen Leben; sie können aber patho- gen werden, wenn sie wegen ihrer Unerträglichkeit vom bewußten Er- leben abgespalten oder verdrängt werden und aus dem unbewußten Bereich der Persönlichkeit ihre Viru- lenz entfalten: neurotische und psy- chosomatische Symptome sind Aus- druck solcher unbewußten Konflikte und defiziente Versuche ihrer Lösung.

Die therapeutische Aufgabe des Analytikers besteht wesentlich dar- in, die (vorwiegend in der Übertra- gungsbeziehung zum Therapeuten auftauchenden) pathogenen unbe- wußten Konflikte dem Kranken be- wußt und damit als seine eigenen Probleme verfügbar zu machen, für die er nun „gesündere", d. h. reifere und adäquatere Lösungsformen zu entwickeln lernt. Die von Herrn Pu- der beschworene „Gefahr der Para-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Psychoanalyse

lysierung der Selbstheilungskräfte dadurch, daß der Neurotiker gewis- sermaßen aus der eigenen Verant- wortung für sein Fehlverhalten ent- lassen wird" (S. 2530) trifft gerade für die so häufige unsachgemäße Behandlung dieser Kranken zu („medizinische Odysseen", sinnlose

„Kuren", gedankenlose Psycho- pharmakaverordnung usw.), nicht aber für die psychoanalytische The- rapie: ist doch eine wesentliche Di- mension des psychotherapeuti- schen Prozesses gerade darin zu se- hen, daß die im neurotischen Sym- ptomverhalten zunächst gebunde- nen und unlösbar gewordenen un- bewußten Konflikte als eigene er- kannt und damit in die persönliche Verantwortung übernommen wer- den können. Was persönlichkeits- fremd erlittene Krankheit war, wird somit in der Tat „auf eine andere Ebene verschoben" — aber in einem anderen Sinne, als Herr Puder (S.

2525) meint, nämlich von der Ebene pathogener und defizienter Konflikt- lösungen unter Symptombildung auf die Ebene selbstverantwortli- chen Handelns aus Einsicht in lebensgeschichtliche Zusammen- hänge.

Die Psychoanalyse hat übrigens nie- mals den Anspruch erhoben, „jedem Menschen... zur eigenen seeli- schen Vollendung und damit zum wirklichen Glück verhelfen zu kön- nen" (S. 2530), ebensowenig wie sie umgekehrt die Macht besitzt, „den einzelnen und die Gesamtheit ... in ein neues Elend (zu) stoßen" (S.

2525). Herr Puder geht so weit, aus- gerechnet Freud hierfür als Kron- zeugen anzuführen, wobei er ihn an zentraler Stelle seiner Argumenta- tion falsch zitiert und dadurch den Sinn des von Freud Gemeinten ins Gegenteil verkehrt. Bei Puder heißt es: Freud „merkte selbst, daß die Psychoanalyse durch Aufdeckung dieser Prozesse" — gemeint ist die Verdrängung sexueller Triebkräfte als Ursache hysterischen Verhaltens

— „bestenfalls ,hysterisches Elend in allgemeines Unglück zu verwandeln' in der Lage war" (S. 2525, Kursivie- rung von uns). Vergleichen wir da- mit Freuds Sätze am Ende seiner

„Studien über Hysterie" (1895), wo

er einen Einwand beantwortet, der auch jetzt wieder von Herrn Puder gegen die Psychoanalyse erhoben wird:

„Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen Hilfe oder Erleichterung durch eine katharti- sche Kur versprach, den Einwand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksa- len zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen?

Darauf habe ich antworten können:

— Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichterfallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben; aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in ge- meines Unglück zu verwandeln. Ge- gen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenle- ben besser zur Wehr setzen kön- nen" (S. Freud, Gesammelte Werke Bd. I, S. 311 f.; Kursivierung von uns).

Hier wird doch klar ausgesprochen, daß die Psychoanalyse sehr wohl zu unterscheiden weiß zwischen

„schlechthin menschlichen und nicht neurotischen, damit kranken und behandlungsbedürftigen seeli- schen Schwierigkeiten und existen- tiellen Nöten" (zit. nach Puder, S.

2529) — also „gemeinem Unglück"

einerseits — und „hysterischem Elend" oder allgemeiner: neuroti- schem Leiden von Krankheitswert auf der anderen Seite. Herr Puder sollte wissen, daß die Krankenkas- sen für analytische Psychotherapie nur insoweit aufzukommen brau- chen, als es sich dabei um die Be- handlung von Krankheitszuständen handelt..

Das Bemühen der Psychoanalyse, abgewehrte seelische Inhalte be- wußt zu machen, der „Kampf um die Erinnerung" (Mitscherlich), kann und will diese ja keineswegs auslö- schen, sondern richtet sich im Ge- genteil gerade darauf, sie wieder le- bendig werden zu lassen, um sie dem Ich des Patienten zur Verfü- gung zu stellen und ihm die Ausein-

andersetzung mit ihnen zu ermögli- chen. Der schiefe Vergleich mit der Psychochirurgie, in der Vorstellung des „Weitervegetierens" der sol- chermaßen ihrer Engramme beraub- ten Patienten gipfelnd, hat keine sachliche Grundlage, sondern be- ruht einzig auf der Phantasie des Autors. Nein, über die Macht, Erin- nerungsspuren auszulöschen, ver- fügt die Psychoanalyse nun einmal nicht; ihr derartige Bestrebungen nachzusagen hieße ihre Intention auf den Kopf stellen... Was die Re- lativierung „höherer Instanzen" be- trifft, so sieht es die Psychoanalyse allerdings als einen Behandlungser- folg an, wenn das wiedererstarken- de Ich eines bisher von unbewußten Strafängsten gepeinigten neuroti- schen Patienten die Absolutheitsan- sprüche innerer und ggf. auch äuße- rer Instanzen in Frage zu stellen be- ginnt. Der Weg dahin führt freilich regelmäßig über eine „Relativie- rung", d. h. Entidealisierung des Therapeuten. Zu den zu relativieren- den, d. h. auf ihre subjektiven Bedin- gungen hin zu prüfenden Instanzen gehören, versteht sich, die höheren Werte, um die Herr Puder anschei- nend bangt, wie etwa die „religiösen Wertvorstellungen", aber auch die

„antiautoritären Normen", zu deren Verbreitung in Elternhaus und Schule die Psychoanalyse, wie er meint, beiträgt.. .

Beliebigkeit, ja Willkür läßt Pu- der ... in der Art und Weise erken- nen, wie er mit wissenschaftstheore- tischen Überlegungen umgeht. Weil sich der Gegenstandsbereich der Psychoanalyse seinem auf das Ideal

„exakte(r) naturwissenschaftliche(r) Meß- und Reproduzierbarkeit" ein- geengten Wissenschaftsbegriff nicht fügt, zeigt er sich geneigt, ihm kurzerhand die reale Existenz abzu- sprechen und ihn als bloße Erfin- dung zu deklarieren. Soweit das bei seiner schwankenden und unsiche- ren Argumentation überhaupt aus- zumachen ist, scheint ihm Seeli- sches wissenschaftlicher Erfor- schung nicht zugänglich zu sein...

Was wären eigentlich die prakti- schen Konsequenzen der Auffas- sungen des Autors? Man versuche, sich eine medizinische Wissen-

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Heft 8 vom 22. Februar 1979 519

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Psychoanalyse

schaft, eine praktische Medizin vor- zustellen, die dergleichen dogmati- schem Denken folgen wollte. Die von Weizsäcker so genannte „Ein- führung des Subjekts in die Medi- zin" wäre dann rückgängig zu ma- chen, die Psychotherapie als Be- handlungsmethode abzuschaffen, die vielfach allzu schwach entwik- kelten Ansätze zu einer Aufnahme der Psychologie ins ärztliche Den- ken wären wieder auszutilgen. Ge- stützt auf welche Theorie, ausgerü- stet mit welchen therapeutischen Mitteln würde eine solche Medizin dann ihren neurotischen und psy- chosomatisch kranken Patienten gegenüberzutreten haben? Mit Psy- chopharmaka sind die seelischen Konflikte, an denen sie erkrankten, nicht zu lösen. Auch mit dem Hin- weis auf die „unveräußerlichen Wertkategorien des Menschlichen"

ist wenig auszurichten. Und Herrn Puders Auskunft, es handle sich bei ihnen nicht um Krankheit, sondern um „persönliche Eigenart", um

„Charakterfehler" (S. 2526) oder gar um „charakterlich minderwertige Menschen" (S. 2529), würden sich diese Patienten vermutlich verbitten.

Dr. med. Renate Kelleter Fachärztin für Innere Medizin Richard-Wagner-Weg 53 6100 Darmstadt

Dr. med. Klaus Kennel

Nervenarzt und Psychoanalytiker Berliner Straße 33-35

6236 Eschborn

Dr. med. Hermann Schultz Nervenarzt und Psychoanalytiker Anzengruberstraße 4

6000 Frankfurt

Freuds Verdienst

Ungewollt hat Herr Puder für seinen Artikel eine für ihn selbst zutreffen- de Überschrift gewählt. Er fragt, ob in einer Intensivierung der psycho- analytischen Ausbildung „das Heil der Menschheit liegt". Natürlich nicht: ebensowenig, wie in irgendei- ner anderen Fortbildung (beim Gy- näkologen etwa die differenzierte Beherrschung der Hormontherapie).

Alle Ärzte haben wohl in ihrer jewei- ligen Disziplin die gleiche Erfahrung

gemacht: Daß nämlich wir alle keine Zauberer sind, weder durch die Per- son noch durch die Methode. Es ge- lingt uns ab und zu, einen krankhaf- ten Prozeß zu einem schnelleren Ab- schluß zu bringen, ihn zu verhüten oder erträglicher zu machen. Einzi- ge Ausnahme manchmal die beseiti- genden Methoden: Entfernung ei- nes kranken Organs oder Abtöten von Erregern.

Und so sah es ja wohl auch Freud mit seinem (von Herrn Puder zitier- ten) Ausspruch: „Aus hysterischem Elend wird allgemeines Unglück!"

Ich würde annehmen, daß damit ge- meint ist: Ein hysterischer Patient wird durch die Analyse fähig, sich seinem persönlichen Unglück zu stellen; er wird weniger verdrängen, da er befähigt wird zum Leiden; da- durch kommt es nicht mehr zu un- beabsichtigten Reaktionen, die ihn überwältigen und ihn selbst und an- dere erschrecken. Ein moderner Po- litiker würde sagen: „Er ist mündi- ger geworden", ein Psychothera- peut: „Er ist selbstbewußter gewor- den". Das gelingt aber nur, wenn er ohne Verteufelung mit seinem Arzt an sich arbeiten kann, wenn er sich und seine Dynamik wertfrei als Ganzheit betrachten und erfassen kann; es tut mir weh, wenn Herr Pu- der davon spricht, daß durch Versa- gen in Lebensnot keine Neurosen, sondern „charakterlich minderwer- tige Menschen entstehen" (er zitiert Weitbrecht). Damit läge die von ihm vorwurfsvoll gebrandmarkte Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit bei den Neurosen am Zufall, den Le- bensumständen. Zugegeben, daß Lebensumstände zu krankhaften Reaktionen sowohl im Körperlichen als auch Seelischem führen können.

Aber haben wir ein Recht von einem minderwertigen Charakter zu spre- chen, solange wir nicht wissen, was in uns selber schlummert? Um dies zu erkennen, ist die Lehranalyse ein- geführt, die dem Analytiker die schützende Barriere entzieht, daß bei ihm alles ganz anders sei als bei seinen Patienten (er grenzt sich nicht ab durch den weißen Kittel).

Die Grenze der Wertigkeit (bei man- chen Ärzten sogar umfassender als nur das Bewußtsein, zu den Gesun-

den zu gehören) wird ersetzt durch eine andere Rollen-Bestimmung, durch den Leidensdruck. Nur wer sehr an sich leidet, unterzieht sich der Strapaze einer Psychotherapie.

Er wird ja eben nicht von Verantwor- tung befreit, wie Herr Puder meint, sondern belastet und verunsichert, da seine Abwehr- und Fluchtmecha- nismen in Frage gestellt werden.

Herr Puder gibt zu, daß es eine Wechselwirkung zwischen Körper und Seele gibt. Daraus zieht er die Folgerung, daß der seelische Anteil (sei er Ursache, sei er Folge) natur- wissenschaftlich gemessen werden müsse. Für eine in diesem Sinn be- friedigende Anregung wäre wohl je- der dankbar. Vorläufig ist meines Wissens nur das Ergebnis der seeli- schen Dynamik, also das sichtbare Verhalten zu messen — so wie man vor 10a Jahren die Entzündung der Leber nur aus der gelben Hautfarbe diagnostizieren konnte. Die Leber beispielsweise als Krankheitssub- strat konnte an der Leiche unter- sucht werden, ihre Funktionen wer- den labortechnisch erfaßt. Über die Anatomie der Seele wurde bisher nur phantasiert; sie ist ein Rätsel.

Und das einzige Organ, das Seele erfahren kann, ist die Seele selbst und die eines andern, also zwei na- turwissenschaftlich nicht meßbare

Instanzen und selbstverständlich auch zwei subjektive Instanzen. Das Wissenschaftliche, das Freud in die- ses Reich des Unbekannten, Rätsel- haften gebracht hat, ist einerseits, daß er das Erfühlte kritisch mit dem Verstand beleuchtete, andererseits, daß er Vorgänge beschrieb, die in variierter Form in vielen Menschen vorkommen. Und damit entdeckte er durch wiederholte Beobachtung psychische Gesetzmäßigkeiten, so wie man durch die Beobachtung des immer wiederkehrenden Falls die Schwerkraft entdeckt hat.. . Damit sind wir wieder an der von Herrn P. kritisierten verschwomme- nen Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit. Ist sie denn in der naturwissenschaftlichen Medizin so scharf gezogen? Schnupfen, Hals- weh, arthrotische oder hypotone Be- schwerden, ist das Krankheit oder

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