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Archiv "Hüftsonographie: Luxus oder Notwendigkeit?: Ergebnisse vergleichender klinischer und sonographischer Hüftgelenksuntersuchungen" (08.07.1994)

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(1)

MEDIZIN DIE UBERSICHT

Hüftsonographie:

Luxus oder Notwendigkeit?

Ergebnisse vergleichender klinischer und sonographischer Hüftgelenksuntersuchungen

Robert Becker,

Martin Bayer, Dieter Wessinghage, Gerhart Waertel

U

ns allen ist das augenfällige klinische Bild einer Dyspla- sie mit Luxation eines oder beider Hüftgelenke beim Er- wachsenen und beim Kind durchaus geläufig. Der typische Watschelgang, oft auch mit extremer Behinderung, hat diese vor allem weiblichen Pa- tienten in der Vergangenheit zu Krüppeln gestempelt, sie vielfach auch diffamiert und besonders über die Ehelosigkeit ins soziale Abseits gestellt. Zum körperlichen gesellte sich das seelische Problem. Operati- ve Eingriffe in der Umgebung des Hüftgelenks mit Becken- und Femur- umlagerungsosteotomien und Endo- prothesen sind heute zwar in der La- ge, bei diesen Veränderungen und ihren langjährigen Folgen häufig erst im Erwachsenenalter eine erhebliche Verbesserung des Zustandes zu be- wirken. Sinnvoller aber ist es, durch eine wenig kostenträchtige Diagno- stik, Prophylaxe und Therapie bereits im frühen Kindesalter die Entste- hung von Hüftdysplasien und -luxa- tionen zu vermeiden. Je früher sich anbahnende Entwicklungsstörungen des Hüftgelenkes erkannt werden, um so schneller kann eine konservati- ve und zudem kostengünstige Be- handlung eingeleitet werden. Als Folge kommt es in der Regel ohne jegliche körperliche oder psychische Belastung des Kindes zu normalen oder zumindest günstigen Ausrei- fungsergebnissen, trotz relativ kurzer Behandlungsdauer. Hierdurch wird für die Zukunft, was das Becken und die Hüftgelenke betrifft, ein norma- les Leben ohne Behinderung für die potentiell Betroffenen weitgehend garantiert.

Seit zehn Jahren steht ein sicheres, standardisiertes, leicht durchführba- res und wenig beeinträchtigendes Verfahren zur frühestmöglichen Er- kennung von Hüftreifungsstörungen und Hüftdysplasien zur Verfügung, das durch den Orthopäden Graf ent- wickelt wurde. Trotzdem hat diese Untersuchungsmethode bis heute nicht Eingang in das sehr ausführli- che Vorsorgeprogramm bei Neugebo- renen und Kleinkindern gefunden, statt dessen verläßt man sich auf eine unzureichende klinische Untersu- chung, so daß auch heute noch viele vermeidbare Hüftdysplasien und Hüftluxationen auftreten.

Allein durch die klinische Unter- suchung können, allerdings nur bei entsprechender Erfahrung in der Un- tersuchungstechnik, ausgeprägte Hüftreifungsstörungen schon bald nach der Geburt erkannt und umge- hend behandelt werden (6, 7). In der Literatur wurde aber von Graf, Dorn und Katthagen mehrfach auf die Un- zulänglichkeit der ausschließlich kli- nischen Untersuchungen hingewie- sen (3, 8, 9, 12). Es gilt, mit Hilfe der Sonographie frühzeitig bei allen Kin- dern die Diagnose exakter zu stellen und unverzüglich jeweils adäquate

1. Orthopädische Klinik (Chefarzt: Prof. Dr.

med. Dieter Wessinghage) des BRK-Rheu- mazentrums Bad Abbach/Regensburg

Überwachung und Behandlung ein- zuleiten. Dies bleibt häufig dem auf dem Gebiet der konservativen wie operativen Therapie Erfahrenen vor- behalten. Schon bei geringstem Ver- dacht auf eine Hüftdysplasie sind in der Folgezeit gefahrlos und unschäd- lich für das Kleinkind klinische und sonographische Untersuchungen und, wenn nötig, zusätzlich in ausge- wählten Fällen Röntgenuntersu- chungen durchzuführen, wobei dann unverzüglich vom diagnosestellenden Orthopäden die gezielte Therapie eingeschlagen werden muß (12, 24).

Dem österreichischen Ortho- päden Reinhard Graf ist die Einfüh- rung und vor allem die Standardisie- rung der sonographischen Untersu- chungstechnik der Säuglingshüften und die daraus folgende Indikation zu prophylaktischen Maßnahmen, konservativer und operativer Thera- pien zu verdanken (7). Diese Tech- nik erlaubt die routinemäßige sono- graphische Untersuchung der Hüften von Neugeborenen und Säuglingen.

Die Sonographie ist ein nichtinvasi- ves, nicht strahlenbelastendes und dadurch jederzeit wiederholbares Verfahren, das ohne jegliche Beein- trächtigung des Kindes anwendbar ist. Die Diagnose von Wachstumsstö- rung, Dezentrierung oder Luxation des Hüftgelenks ist also frühzeitig ohne Gefahren und Schäden möglich (1, 5, 6, 10, 15, 17, 19, 20).

Methodik

Grundlage der sonographischen Untersuchung der Neugeborenen- hüfte sind die von Graf entwickelten A-1892 (44) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 27, 8. Juli 1994

(2)

DIE ÜBERSICHT

Sonographische Typeneinteilung nach Graf

Tabelle 1: Darstellung onographischer Befunde, bezogen auf vorliegende Risikofaktoren Sono-

graphie

unauffällige Hüften

auffällige Hüften

behand- lungs- bedürftige

Hüften

Risikofaktoren Summen H a— -IV

n % keine 5 060 88,7 3 235 56,7 1 391 24,4 434 7,6

—positive Familien- anamnese

446 7,9 196 3,4 180 3,2 70 1,3

—Beckenendlage 198 3,4 61 1,1 71 1,2 66 1,1 Summe 644 11,3 257 4,5 251 4,4 136 2,4 Gesamtsumme 5 704 100 3 492 61,2 1 642 28,8 570 10,0

MEDIZIN

Abbildung 1: Anatomischer und schematisierter sonographischer Schnitt durch die Neugeborenenhüfte mit der Typeneinteilung nach Graf Beurteilungskriterien (Abbildung 1):

Morphologie: Form und Beschaf- fenheit der knöchern und knorpelig angelegten Pfanne und des Erkers sowie die Position des Hüftkopfes 2. Morphometrie: durch Knorpel- beziehungsweise Knochenstruktur zu bestimmende Pfannendachwinkel 3. Säuglingsalter.

Um die Aussagekraft klinischer und sonographischer Verfahren zu

überprüfen, haben wir die aktuellen Ergebnisse der Screeninguntersu- chung an den zwei von uns betreuten geburtshilflichen Abteilungen des Kreiskrankenhauses Kelheim und des Evangelischen Krankenhauses Regensburg ausgewertet.

Vom 1. Januar 1990 bis zum 31.

Dezember 1992 wurden 2 852 Säug- linge (Jungen: Mädchen 1:1,12) wäh- rend der ersten Lebenstage routine-

mäßig klinisch und sonographisch untersucht. Nicht erfaßt wurden am- bulant geborene Kinder sowie päd- iatrische Problemfälle, die unmittel- bar post partum in eine Kinderklinik verlegt wurden. Die Dokumentation der Untersuchungen nahmen wir an Hand eines eigens entwickelten EDV-Bogens vor, der Personenda- ten, Anamnese, klinischen Befund, Sonographiebefund und Vorschläge zu Prophylaxe (Wiederholungsunter- suchung) und weiterer Therapie ent- hielt. Dieser Bogen diente auch den weiterbehandelnden Ärzten zur In- formation. Die Auswertung erfolgte in der Meßtechnik nach Graf, wobei der Typ I, die ausgereifte Hüfte mit guter knöcherner Formgebung, der Typ II mit physiologischer Verknö- cherungsverzögerung, Typ III sowie Typ IV als verschiedene Varianten eines dezentrierten beziehungsweise luxierten Hüftgelenks unterschieden werden (Abbildung 1). Beim Typ II wird je nach Ausprägung in den Typ II a + mit ausreichender knöcherner Formgebung und Typ II a — mit mangelhafter knöcherner Formge- bung differenziert. Die gefährdete oder kritische Hüfte wird als Typ II c klassifiziert, während der Typ D, die Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 27, 8. Juli 1994 (45) A-1893

(3)

- Hüften n = 5704 Hüften

Kinder: 2.852 - Typen nach Graf

Anzahl n 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0

I a/b III a+ II a-

Hüften 3.492 1.642 496 56 15 3 0 0

Prozent 61,22 28,80 8,69 0,98 0,26 0,05 0 0 llc II D III a III b IV

n n

212 63 22 4 34

3,7 1,1 0,4 0,07 0,6 140

44 17 2 25

4,9 1,5 0,6 0,07 0,9

Tabelle 2: Sensitivität: Klinische Untersuchung/Sonographie

klinisch

auffällig 169 3,3 75 13,2 244 4,3

Sonographie a +

Sonographie

II a- -IV Summe

n

klinisch

unauffällig 4 965 96,7 495 86,8 5 460 95,7

Summe 5 134 100 570 100 5 704 100

86,8 Prozent (n = 495) der behandlungsbedürftigen Hüften wären bei rein klinischer Un- tersuchung der Frühbehandlung entgangen. Die Sensitivität der klinischen Untersuchung beträgt somit nur 13,2 Prozent.

n

68 72

25 19

12 5

2

22 6

Sichelfuß Hackenfuß Klumpfußhaltung Klumpfuß sonst. Fußdefekte

Tabelle 3: Orthopädische Untersuchungsbefunde beim Neugeborenen-Screening - Fußdeformitäten, Gesamtzahl Kinder: 2 852; Füße: 5 704

Kinder ein- doppel- seitig seitig

Füße

Summe 228 7,97 127 104 335 5,87

Fußdeformitäten

MEDIZIN DIE ÜBERSICHT

dezentrierende Hüfte, den Übergang zum Typ III kennzeichnet. In Abhän- gigkeit vom ermittelten Hüfttyp wur- den die Prophylaxe (Überwachungs-) und Therapievorschläge auf dem So- nographiebogen dokumentiert, wo- von ein Durchschlag in das Untersu- chungsheft für den weiterbehandeln- den Arzt eingelegt wurde. Es hat sich folgendes Vorgehen bewährt:

Hüften des Typs I wurden nach drei Monaten, Hüften des Typs II mit ausreichender knöcherner Formge- bung ( = II a +) wurden kurzfristig nach vier bis sechs Wochen kontrol- liert. Hüften des Typs II a mit man- gelhafter knöcherner Formgebung (II a -) ließen wir „breit wickeln"

und empfahlen kurzfristige sonogra- phische Kontrollen. Durch dieses ge- zielte Vorgehen in Verbindung mit aufklärenden Gesprächen konnte die Mitarbeit der Eltern und auch die Einhaltung der Kontrolltermine we-

sentlich verbessert werden. Patholo- Abbildung 2: Gesamtauswertung

A-1894 (46) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 27, 8. Juli 1994

gische Hüfttypen vom Typ II c, D, III und IV behandelten wir sofort.

Ergebnisse

Bei den insgesamt 5 704 Hüften der 2 852 Neugeborenen ergaben sich folgende Sonographiebefunde (Abbildung 2): Unauffällige Befunde der Typen I a (12 Prozent) und I b (88 Prozent) überwogen mit 61,22 Prozent aller Hüften. Bei 28,8 Pro- zent aller Hüften stellten wir einen Hüfttyp II a mit ausreichender knö- cherner Formgebung fest. Unter den behandlungsbedürftigen Hüften (zehn Prozent) überwogen die Hüf- ten mit mangelhafter knöcherner Formgebung des Typs II a - mit ei- ner Rate von 8,69 Prozent. Ausge- prägte Reifungsstörungen fanden wir in 1,3 Prozent der untersuchten Hüftgelenke.

Auffällig war, daß in unserem Neugeborenen-Screening nie eine primäre Hüftluxation gefunden wur- de. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, daß die Hüftluxati- on, sofern es sich nicht um eine tera- tologische Luxation handelt, sich erst nach der Geburt entwickelt. Demzu- folge kann angenommen werden, daß die Entstehung der Hüftluxation aus

(4)

Gesamtauswertung n = 5704 Hüften

■ la/b 61 % (3492) Ila+ 29 % (1642) Ila-/c/D/III 10 % (570)

Risiko: positive Familien- anamnese

n = 446 Hüften

■ la/b 44 % (196)

■ Ila+ 40 % (180) Ila-/c/D/III 16% (70)

MEDIZIN

Abbildung 3: Gesamtauswertung, unterteilt in Gruppen

einer ausgeprägten Hüftdysplasie durch eine unmittelbar eingeleitete Behandlung in nahezu allen Fällen bereits in der Entwicklung verhindert werden könnte.

Wiederholt wurde auf den Zu- sammenhang zwischen der manife- sten Hüftdysplasie und gefährdenden Faktoren wie Beckenendlage und Fa- milienanamnese hingewiesen. Aus diesem Grund haben auch wir etwa- ige Zusammenhänge überprüft. Bei- de Faktoren wie auch die Frühge- burtlichkeit wurden im Untersu- chungsbogen festgehalten und die bei diesen Kindern festgestellten Hüfttypen mit denjenigen der übri- gen Kinder verglichen (Abbildungen 3, 4, 5), was zu den in Tabelle 1 darge- stellten Ergebnissen führte:

Bei den in Beckenendlage gebo- renen Kindern mit insgesamt 198 Hüften fanden sich in 36 Prozent (71 Hüften) Reifungsstörungen und in 33 Prozent (66 Hüften) eine Hüftdys- plasie. Bei 223 Kindern mit positiver Familienanamnese waren 180 der 446 Hüften (40,2 Prozent) mit Rei- fungsstörungen vergesellschaftet und 70 Hüften (15,8 Prozent) dysplastisch verändert. Es läßt sich also auch hier eine auffällige Erhöhung von Hüft- reifungsstörungen beziehungsweise

DIE UBERSICHT

Risiko: Beckenendlage n = 198 Hüften

Abbildung 4: Sonographische Typenverteilung de Risikogruppe mit Beckenendlage

-dysplasien bei positiver Familien- anamnese und bei Beckenendlage im Vergleich zum Gesamtkollektiv fest- stellen. Bei den 76 frühgeborenen Kindern fanden wir keine signifikan- te Abweichung der Verteilung der verschiedenen Hüfttypen im Ver- gleich zu den termingerecht Gebore- nen.

Wichtig vor allem ist der Ver- gleich zwischen klinischen Untersu- chungen und dem jeweiligen Sono- graphiebefund. Die klinische Unter- suchung zeigte an 5 460 (95,7 Pro- zent) von insgesamt 5 704 Hüften, auch bei Untersuchung durch den auf diesem Gebiet besonders erfahrenen Orthopäden, keine Auffälligkeiten.

Trotzdem fanden sich in dieser Gruppe sonographisch 495 (9 Pro- zent) dysplastische Hüftgelenke vom Typ II a — und schlechter. Diese Kin- der wären also bei ausschließlich kli- nischer Untersuchung einer Frühbe- handlung und auch jeder weiteren Kontrolluntersuchung entgangen.

Bei einer großen Zahl von diesen wä- re somit eine potentielle Hüftdyspla- sie mit allen ungünstigen Folgen vor- programmiert gewesen. Auch ein großer Teil von 1 559 (29 Prozent) noch unreifer und kurzfristig kon- trollbedürftiger Hüften vom Typ

Abbildung 5: Sonographische Typenverteilung der Risikogruppe mit positiver Familienanamnese

II a+ wiesen klinisch keinen patho- logischen Befund auf (Abbildungen 6 und 7).

Die klinische Untersuchung zeigte an 244 Hüften (4,3 Prozent) ei- nen auffälligen Befund. Bei drei Kin- dern fanden wir klinisch je ein insta- biles Hüftgelenk, wobei es sich so- nographisch jeweils um Hüften des Typs III handelte.

Auch bei den Hüftgelenken mit klinisch verdächtigem Untersu- chungsbefund zeigte sich die Unzu- verlässigkeit der klinischen Untersu- chung. 86 (35 Prozent) dieser 244 kli- nisch auffälligen Hüftgelenke waren sonographisch bereits als Typ I a und I b gut ausgebildet und somit nicht behandlungs- oder überwachungsbe- dürftig.

Nur 13,2 Prozent der insgesamt 570 sonographisch als pathologisch einzuordnenden Hüften vom Typ II a — und schlechter korrelierten mit klinisch auffälligen Untersuchungs- parametern. Die übrigen 495 thera- piebedürftigen Hüften (86,8 Prozent) wurden also durch die rein klinische Untersuchung nicht erfaßt. Damit kann die Beobachtung anderer Auto- ren bestätigt werden, daß in bezug auf die klinische Untersuchung eine äußerst geringe Sensitivität mit nur A-1896 (48) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 27, 8. Juli 1994

(5)

MEDIZIN DIE UBERSICHT

Klinisch auffällig n = 244 Hüften Klinisch unauffällig

n = 5460 Hüften

111

la/b 62 % (3406)

■ Ila+ 29 % (1559) Ila-/c/D/III 9 % (495)

Tabelle 4: Orthopädische Untersuchungsbefunde beim Neugeborenen-Screen ing an den Bewegungsorganen, Gesamtzahl Kinder: 2 852 (100%)

Befund Kinder Prozent

Klavikulafraktur WS-Deformitäten ERBsche Lähmung Sternumdeformitäten

sonst. (Finger- und Zehenveränderungen)

31 10 3 3 9

1,1 0,4 0,1 0,1 0,3

Summe 56 2,0

13,2 Prozent für primär therapiebe- dürftige Hüftdysplasien vorliegt (Ta- belle 2).

Zusätzlich zur klinischen und so- nographischen Hüftgelenksuntersu- chung erhoben wir ein allgemei- nes orthopädisches Neugeborenen- Screening (Tabellen 3 und 4). Dabei fanden wir eine Reihe angeborener und lagebedingter Deformitäten im Bereich von Extremitäten und Stamm, die wir umgehend, größten- teils konservativ mit guten Ergebnis- sen behandelten. Ausgeprägte ange- borene Deformitäten wurden nicht beobachtet, da Kinder mit schweren Fehlbildungen zur Akutversorgung sofort verlegt wurden.

Diskussion

Die Bedeutung der sonographi- schen Untersuchung nach Graf liegt darin, Reifungsverzögerungen und Dysplasien der Neugeborenenhüften bereits so früh zu erkennen, daß un- mittelbar prophylaktische und thera- peutische Maßnahmen eingeleitet werden können (2, 4, 21, 22, 25, 26).

Nur so lassen sich Skelettverände- rungen im gesamten Beckenbereich für das spätere Leben verhindern, die sonst schwere Beeinträchtigun- gen und eine kostenträchtige Be- handlung nach sich ziehen (13). Die Früherkennung allein durch die So- nographie gelingt weitgehend sicher, während die ausschließlich klinische Untersuchung unzureichend ist (3, 12, 13, 14, 23).

Als besondere Risikogruppen stellten sich auch in unserer Scree- ningstudie die Kinder mit familiärer Belastung und aus Beckenendlage geborene Säuglinge dar. Die wenigen

Abbildung 6: Sonographische Typenverteilung kli nisch unauffälliger Kinder

Fälle, in denen beide Risikofaktoren zusammentreffen, scheinen nach un- seren Beobachtungen besonders ge- fährdet zu sein, wenn auch aufgrund der geringen Zahl statistische Aussa- gen nicht möglich sind. Aus den Er- gebnissen ist abzuleiten, daß Kinder mit den genannten Risikofaktoren ei- ner besonders sorgfältigen klinischen und sonographischen Kontrolle be- dürfen.

Die in unserer Klinik vorgenom- menen stationären Behandlungen wegen ausgeprägter Hüftdysplasie und Hüftluxation, bestehend in Ex- tension und Reposition sowie in ope- rativer Reposition, sind ausschließ- lich auf Kinder beschränkt, die erst im höheren Alter überwiesen oder,

Abbildung 7: Sonographische Typenverteilung kli nisch auffälliger Kinder

wenn ärztlich nicht erkannt, durch die aufmerksamen Eltern vorgestellt wurden. Es ist anzunehmen, daß für diese Fälle eine Screeninguntersu- chung schon früher zu einer Prophy- laxe oder adäquaten Therapie und damit zur Vermeidung stationärer Maßnahmen geführt hätte (11).

Die Ultraschalluntersuchung ist beim Neugeborenen das einzige praktikable bildgebende Verfahren, das den strahlenbelastenden radio- logischen Untersuchungstechniken als Screeningmethode deutlich über- legen ist und wesentlich früher Er- kenntnisse ermöglicht. Wir stimmen mit der von Graf, Dorn, Katthagen und anderen erhobenen Forderung nach einer klinischen und sonogra- phischen Vorsorgeuntersuchung ei- nes jeden Neugeborenen in den er- sten Lebenswochen durch den in diesem Bereich besonders erfahre- nen Orthopäden überein (3, 8, 12, 13, 16, 18). Es erscheint uns von größtem volkswirtschaftlichem In- teresse, durch ein flächendeckendes Neugeborenen-Screening alle patho- logischen Veränderungen früh zu erkennen und, wo nötig, in relativ kurzer Zeit und wenig kostenauf- wendig zu behandeln. Nur so läßt sich die Quote späterer Fehl- und Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 27, 8. Juli 1994 (49) A-1897

(6)

MEDIZIN

Mißbildungen mit ihren körperlichen und psychischen Folgen optimal be- einflussen. Jede Verzögerung der Therapie kann zu kostenträchtigen Behandlungen während des gesam- ten Lebens bis zur Implantation ei- ner Hüfttotalprothese oder Durch- führung anderer operativer Maßnah- men führen. Sie verursacht auch eine verminderte Leistungsfähigkeit der Patienten mit längeren Arbeitsaus- fallzeiten.

Erste Erfolge eines flächendek- kenden Neugeborenen-Screenings konnte die Grafsche Klinik nachwei- sen. Durch das konsequente Scree- ning gelang es, die Zahl der operati- ven Eingriffe und die stationäre Be- handlungsdauer wegen angeborener Hüftdysplasie drastisch zu reduzie- ren. Die damit verbundenen Kosten konnten ebenfalls deutlich gesenkt werden, so daß die Gesamtkosten für das Screeningprogramm und die trotzdem erforderlichen stationären Behandlungen in den Jahren 1986 bis 1988 um 40 Prozent niedriger lagen, als die stationären Behandlungsko- sten vor der Sonographie-Ära (13).

Zu ähnlichen Ergebnissen kam ein Pilotversuch des flächendeckenden Neugeborenen-Screenings in Wies- baden 1992 (27).

Auf noch vorhandene Lücken und Mängel in der Neugeborenenun- tersuchung und der erforderlichen Kontrollen, unter anderem durch ei- ne unzureichende Weiterbildung oder durch mangelnde Erfahrung in Untersuchungs- und Behandlungs- methoden, der Indikation zur Thera- pie mit lückenloser orthopädischer Überwachung und durch ein nicht flächendeckendes Neugeborenen- Screening muß hingewiesen werden.

Falsch motivierte und kurzsichtige Untersuchungsbeschränkungen durch Politiker und Krankenkassen gaukeln eine Kosteneinsparung vor, die später vielfältig die Kostenträger zusätzlich belastet.

Aufgrund unserer Erfahrungen mit orthopädischen Screeningunter- suchungen auf der einen und den nicht erfaßten, später behandlungs- bedürftigen Hüftgelenksveränderun- gen auf der anderen Seite, kann der Eindruck entstehen, daß nicht immer alle heute verfügbaren diagnosti- schen Früherkennungsmethoden op-

DIE UBERSICHT / FUR SIE REFERIERT

timal genutzt werden. Hier sind wir gefordert, durch Aus- und Weiterbil- dung und die flächendeckende Orga- nisation des Neugeborenen-Scree- nings die Situation zu verbessern.

Der Wegbereiter der Hüftsonogra- phie, der Orthopäde Graf, hat eine Übereinkunft mit den Kostenträgern seines Landes erreicht, so daß klini- sche und sonographische Untersu- chungen Bestandteil des Mutter- Kind-Passes wurden. Auch in Deutschland sind entsprechende Be- mühungen im Gange. Es wird derzeit von Seiten der Kassenärztlichen Ver- einigungen geprüft, inwieweit die Säuglingssonographie durch den dia- gnose- und therapieerfahrenen Or- thopäden in bereits bestehende Vor- sorgeuntersuchungen miteinbezogen, beziehungsweise zusätzlich einge- führt werden kann.

MEC •■116.

Verwahrlosung und Übergewicht bei Jugendlichen

Kinder„ die von ihren Eltern ver- nachlässigt und nicht gut gepflegt werden, haben als Jugendliche häufig Übergewicht, unabhängig von Ge- schlecht, sozialem Status, Gewicht in der Kindheit oder der Tatsache, ob die Kinder in einer kompletten Fami- lie aufwuchsen. Dieser Zusammen- hang zeigte sich in einer prospektiven bevölkerungsbezogenen Studie in Kopenhagen. Bei überbehüteten Einzelkindern oder körperlich be- sonders gut gepflegten Kindern konnten die Wissenschaftler kein er- höhtes oder vermindertes Risiko feststellen.

1974 wurden 1258 Drittklässler aus Kopenhagen als Stichprobe aus- gewählt. 75 Prozent der Erziehungs- berechtigten, Schulärzte und Klas- senlehrer gaben in Fragebögen voll-

Den leitenden Ärzten der Gynäkologischen und Geburtshilflichen Abteilungen - den Herren Dres. Warnick, Biehler, Schneider, Plessner - und ihren Mitarbeitern sind wir für die ständige Kooperation zu Dank ver- pflichtet.

Deutsches Arzteblatt

91 (1994) A-1892-1898 [Heft 27]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift für die Verfassen

Prof. Dr. med. Dieter Wessinghage Chefarzt der

I. Orthopädischen Klinik Rheuma-Zentrum Bad Abbach Postfach

93074 Bad Abbach

ständig über Familienstrukturen, das Verhältnis zwischen Eltern und Kind und den körperlichen Pflegezustand Auskunft. 86 Prozent der damals un- tersuchten Kinder füllten zehn Jahre später einen weiteren Fragebogen aus und ließen ihr Gewicht ermitteln.

Mit Hilfe des Body-Mass-Index wur- den Grenzwerte für Übergewicht (oberhalb der 90sten Perzentile) und Fettleibigkeit (oberhalb der 95sten Perzentile) festgelegt. Im Vergleich zu gut versorgten Kindern, die von ihren Eltern gefördert wurden, war das Risiko für Übergewicht bei ver- wahrlosten Kindern um das 9,8fache erhöht.

Nach Ansicht der Wissenschaft- ler wären Programme zur Gewichts- verminderung bei Kindern geeignet, kardiovaskuläre Erkrankungen im Erwachsenenleben zu verhindern.

Auch aus diesem Grund könnte es wichtig sein, verwahrloste Kinder zu identifizieren, um sie in vorbeugende Programme einzubeziehen. silk

Lissau, I.; T. I. A. Sorensen: Parental neglect during childhood and increased risk of obesity in young adulthood, Lan- cet 343 (1994) 324-327

Dr. Inge Lissau, Institute of Preventive Medicine, Copenhagen Health Services, Kommunehospitalet, DK-1399 Copenha- gen

A-1898 (50) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 27, 8. Juli 1994

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