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Archiv "Forschung zu Naturheilverfahren und Komplementärmedizin: Luxus oder Notwendigkeit?" (03.11.2006)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 44⏐⏐3. November 2006 A2929

T H E M E N D E R Z E I T

N

aturheilverfahren und kom- plementärmedizinische The- rapien1 erfreuen sich bei Patienten und Ärzten großer Beliebtheit. Bei einer im Jahr 2004 publizierten re- präsentativen Umfrage bei 1 100 er- wachsenen Deutschen gaben 62,3 Prozent an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens ein na- turheilkundliches oder komplemen- täres Verfahren angewendet zu ha- ben (1). Viele Maßnahmen wurden von gesunden und kranken Perso- nen selbst angewendet (zum Bei- spiel Ausdauertraining, Muskeltrai- ning oder eine vollwertige Ernäh- rung). Häufig haben die Befragten aber auch Verfahren wie Phytothe- rapie (26,6 Prozent), Homöopathie (14,8 Prozent), manuelle bezie- hungsweise Chirotherapie (14,3 Prozent) oder Akupunktur (8,7 Pro- zent) in Anspruch genommen.

Die große Nachfrage spiegelt sich auch in den Zahlen der ärztlichen

Weiterbildung. 2004 führten nach Angaben der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung 15 970 Ärzte die Zusatzbezeichnung „Chirotherapie“, 13 502 die Zusatzbezeichnung „Na- turheilverfahren“ und 5 538 Ärzte die Zusatzbezeichnung „Homöo- pathie“. Bei der Akupunktur – eine Zusatzbezeichnung führen die Lan- desärztekammern derzeit ein – gehen Schätzungen von 20 000 bis 50 000 ärztlichen Anwendern aus (2).

100 Millionen für Forschung

Auch in anderen Industrienationen sind derartige Verfahren populär.

1996 wandten in den USA beispiels- weise 42 Prozent der Bevölkerung

„alternative Medizin“ an (3). Auf- grund der starken Verbreitung gibt es dort seit 1992 eine systematische Forschungsförderung über das Na- tional Center of Complementary and Alternative Medicine (NCCAM).

Das Zentrum ist bei den National Institutes of Health angesiedelt und

finanziert sich über Bundesmittel.

In den letzten Jahren verfügte das NCCAM jeweils über ein Budget von mehr als 100 Millionen US- Dollar (www.nccam.nih.gov/). Das Geld wird zum Teil für Forschungs- projekte verwendet, zu einem er- heblichen Teil jedoch auch für den Aufbau einer professionellen For- schungsinfrastruktur.

Nachlassendes Interesse

An führenden Universitäten des Landes wurden Zentren aufgebaut, die sich auf die Untersuchung ein- zelner Verfahren oder verschiedener Verfahren bei bestimmten Erkran- kungen spezialisiert haben. Solche Rahmenbedingungen gewährleisten Kontinuität, die Ausbildung kompe- tenten akademischen Nachwuchses und letztlich eine erfolgreiche For- schung.

Bis vor wenigen Jahren nahm Deutschland in der komplementär- medizinischen Forschung die Spit- zenstellung ein. Insbesondere durch das Engagement der Hersteller pflanzlicher Arzneimittel, jedoch auch durch zwei Förderschwer- punkte des Bundes (Unkonventio- nelle Methoden der Krebsbekämp- fung, Unkonventionelle Medizini- sche Richtungen) konnte in beschei- denem Umfang hochwertige For- schung realisiert werden. Durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen (hier insbesondere die fehlende Pa- tentierbarkeit) und die Kostenexplo- sion in der klinischen Forschung hat das Forschungsinteresse der Her- steller von Phytopharmaka jedoch dramatisch abgenommen. Bundes- mittel für Forschungsprojekte zu Naturheilverfahren und Komple- mentärmedizin fehlen seit einigen Jahren völlig. Auch auf Länder- ebene ist die Förderung äußerst be-

FORSCHUNG ZU NATURHEILVERFAHREN UND KOMPLEMENTÄRMEDIZIN

Luxus oder Notwendigkeit?

Trotz der großen Nachfrage in der Bevölkerung und des

differenzierten Angebots der Ärzte stehen der Forschung zu alternativen Heilverfahren nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung.

Wolfgang Weidenhammer

1Unter Naturheilverfahren sollen hier primär die klassi- schen Methoden Phytotherapie, Ordnungstherapie, Hydro-/Thermotherapie sowie Ernährungs- und Bewe- gungstherapie verstanden werden. Unter dem Begriff Komplementärmedizin werden hier sonstige unkon- ventionelle medizinische Verfahren subsumiert.

Beliebt:14 Prozent der Deutschen unter- zogen sich 2004 einer Chirotherapie, 16 000 Ärzte führen die Zusatzbezeichnung.

Foto:laif

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scheiden. Eine Sondersituation er- gab sich aufgrund der Modellvorha- ben der gesetzlichen Krankenkassen für die Akupunktur. Dort flossen in den vergangenen Jahren Mittel in bisher nicht gekanntem Umfang in die Forschung. Mit dem Ende der Modellvorhaben wird jedoch auch diese Geldquelle wieder versiegen.

Kritischer Dialog

Trotz dieser ungünstigen Bedin- gungen haben sich an zahlreichen Universitäten Arbeitsgruppen ent- wickelt, die Forschung und Lehre im Bereich Naturheilverfahren und Komplementärmedizin betreiben.

Die Tatsache, dass aus diesen Ar- beitsgruppen in den letzten Jahren Originalarbeiten in führenden Zeit- schriften wie JAMA (4), Lancet (5), British Medical Journal (6) oder An- nals of Internal Medicine (7) publi- ziert wurden, zeigt das vorhande- ne Potenzial. Um den Austausch zu fördern, gemeinsame Projekte zu realisieren sowie Lehraktivitäten zu

koordinieren, besteht seit 1998 ein

„Forum universitärer Arbeitsgrup- pen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin“ (8). Das Forum ist ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftlern2, die an den Univer- sitäten auf dem Gebiet der Natur- heilverfahren und der Komple- mentärmedizin arbeiten. Ziel ist es, die Inhalte der Naturheilverfahren und der Komplementärmedizin in die moderne Hochschulmedizin zu integrieren und auf der Basis wis- senschaftlicher Ergebnisse einen kritischen Dialog mit der konven- tionellen Medizin anzuregen.

Seit dem Inkrafttreten der Neu- en Ärztlichen Approbationsordnung zum Wintersemester 2002/2003

sind Naturheilverfahren für alle Me- dizinstudierenden Teil des Quer- schnittsbereichs 12, in dem Lei- stungsnachweise erbracht werden müssen. Sowohl Naturheilverfah- ren als auch Chirotherapie und Homöopathie kommen darüber hin- aus als Wahlfächer für die Zulas- sung zum Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung in Betracht. Da es bisher nur vereinzelt Abteilungen oder (Stiftungs-)Lehrstühle für die- se Fachbereiche gibt, stehen die me- dizinischen Fakultäten vor der Auf- gabe, ihr Lehrangebot auszuweiten und andererseits Forschung in die- sem Bereich zuzulassen oder zu fördern, damit die Qualität der Aus- bildung erhalten bleibt. Das Forum hat deshalb im Jahr 2002 eine Ar- beitsgruppe mit dem Ziel gegründet, gemeinsame Lehr- und Lernziele für diesen Querschnittsbereich zu erarbeiten.

Den Stellenwert naturheilkundli- cher und komplementärer Verfahren in einer wissenschaftlich orientier-

ten medizinischen Versorgung muss man kritisch diskutieren. In Zeiten knapper Ressourcen ist auch zu prü- fen, ob solche Verfahren Bestandteil einer solidarisch finanzierten Basis- versorgung sein müssen.

Gesicherte spezifische Effekte

Fakt ist aber, dass Millionen Patien- ten und Zehntausende Ärzte diese Verfahren anwenden. Fakt ist auch, dass eine Reihe von Therapien, wie zum Beispiel Johanniskraut bei De- pression (9) oder E.-coli-Präparate bei Colitis ulcerosa (10) gesicher- te spezifische Effekte aufweisen.

Auch wenn viele Interventionen keine wissenschaftliche Grundlage zu haben scheinen, sollte die Bewer- tung nicht auf der Basis von Vorur- teilen, sondern von soliden empiri- schen Daten erfolgen. Forschung zu einem umstrittenen Verfahren zu be- treiben heißt nicht, es wissenschaft- lich anzuerkennen. Es könnte aber dadurch gelingen, zwischen spezifi- schen und unspezifischen Effekten

besser zu unterscheiden. Es mag sein, dass ein großer Teil der kom- plementären Verfahren überwie- gend auf unspezifischen Effekten beruht. Die Forschung in diesem Bereich zeigt aber mehr und mehr, dass diese ebenso wie Placeboeffek- te (denen sie nicht gleichzusetzen sind) alles andere als irrelevant sind, physiologische Korrelate besitzen können und qualitativ und quanti- tativ zwischen den verwendeten Methoden stark variieren (11, 12).

Selbstverständlich muss aber auch Forschung zu Naturheilverfahren und Komplementärmedizin auf ho- hem qualitativen Niveau betrieben werden. Dies setzt auch die entspre- chende Kompetenz bei Gutachtern von Fachzeitschriften oder Förder- anträgen voraus.

Eine an klaren Prioritäten aus- gerichtete Forschungsförderung in Deutschland ist unabdingbar. Es ist derzeit unrealistisch, eine ähnlich umfassende Forschungsförderung wie in den USA zu erwarten. Den- noch sollten Grundelemente des amerikanischen Ansatzes übernom- men werden: Identifikation von Pri- oritäten, Aufbau einer begrenzten Zahl spezialisierter Zentren, die re- gelmäßig evaluiert werden, sowie eine systematische Nachwuchsför- derung. Die Zentren sollten kleine- re Forschungsarbeitsgruppen unter- stützen, kompetente Anwender der jeweiligen Therapiemethoden inte- grieren und eine angemessene Leh- re betreiben. Mit den naturheilkund- lichen und komplementärmedizini- schen Fachgesellschaften ist ein kri- tischer, aber integrativer Dialog zu führen. Das Dialogforum „Pluralis- mus in der Medizin“ (13) verspricht hier wichtige Impulse.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(44): A 2929–30

Anschrift für die Verfasser Dr. phil. Dr. rer. biol. hum.

Wolfgang Weidenhammer

Forum universitärer Arbeitsgruppen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin Zentrum für naturheilkundliche Forschung II.

Medizinische Klinik und Poliklinik TU München Kaiserstraße 9, 80801 München

E-Mail: Wolfgang.Weidenhammer@lrz.tu- muenchen.de

2vertreten durch: Klaus von Ammon, Universität Bern;

Benno Brinkhaus, Charité Universitätsmedizin Berlin;

Corina Güthlin, Universität Freiburg; Cornelia von Ha- gens, Universität Heidelberg; Roman Huber, Universität Freiburg; Klaus Linde, TU München; Susanne Moebus, Universität Essen; Rainer Stange, Charité Universitäts- medizin Berlin Campus Benjamin Franklin; Wolfgang Weidenhammer, TU München

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit4406

@

Forschung zu einem umstrittenen Verfahren zu betreiben heißt nicht, es wissenschaftlich anzuerkennen.

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 44⏐⏐3. November 2006 A1

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LITERATUR

1. Härtel U, Volger E: Inanspruchnahme und Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren und alternativer Heilmethoden in Deutsch- land – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie. Forsch Komple- mentärmed Klass Naturheilkd 2004; 11:

327–34.

2. Marstedt G, Moebus S: Inanspruchnahme alternativer Methoden in der Medizin. Ge- sundheitsberichterstattung des Bundes.

2002; 9.

3. Eisenberg DM, Davis RB, Ettner SL, Appel S, Wilkey S, Van Rompey M: Trends in al- ternative medicine use in the United States 1990–1997. Results of a follow-up natio- nal survey. JAMA 1998; 280: 1569–75.

4. Linde K, Streng A, Jürgens S, Hoppe A, Brinkhaus B, Witt C et al: Acupuncture for patients with migraine. A randomized con- trolled trial. JAMA 2005; 293: 2118–25.

5. Witt C, Brinkhaus B, Jena S, Linde K, Streng A, Wagenpfeil S et al: Acupuncture in patients with osteoarthritis of the knee: a randomised trial. Lancet 2005; 366:

136–43.

6. Melchart D, Streng A, Hoppe A, Brinkhaus B, Witt C, Wagenpfeil S et al: Acupuncture in patients with tension-type headache – a randomised trial. BMJ 2005; 331: 376–9.

7. Michalsen A, Klotz S, Lüdtke R, Moebus S, Spahn G, Dobos GJ: Effectiveness of leech therapy in osteoarthritis of the knee. A ran- domized, controlled trial. Ann Intern Med 2003; 139: 724–30.

8. Ostermann T, Brinkhaus B, Melchart D: Das Forum universitärer Arbeitsgruppen für Na- turheilverfahren und Komplementärmedi- zin. Forsch Komplementärmed 1999; 6:

41–2.

9. Szegedi A, Kohnen R, Dienel A, Kieser M:

Acute treatment of moderate to severe de- pression with hypericum extract WS 5570 (St John’s wort): randomized controlled double blind non-inferiority trial versus pa- roxetine. BMJ 2005; 330: 503–6.

10. Kruis W, Fric P, Pokrotnieks J, Lukas M, Fixa B, Kascak M et al: Maintaining remis- sion of ulcerative colitis with the probiotic Escherichia coli Nissle 1917 is as effective as with standard mesalazine. Gut 2004;

53: 1617–23.

11. Paterson C, Dieppe P: Characteristics and incidental (placebo) effects in complex in- terventions such as acupuncture. BMJ 2005; 330: 1202–5.

12. Finniss DG, Benedetti F: Mechanisms of the placebo response and their impact on clinical trials and clinical practice. Pain 2005; 114: 3–6.

13. Willich SN, Girke M, Hoppe JD, Kiene H, Klitzsch W, Matthiessen PF et al: Schulme- dizin und Komplementärmedizin, Verständ- nis und Zusammenarbeit müssen vertieft werden. Dtsch Ärztebl 2004; 101(19): A 1314–9.

FORSCHUNG ZU NATURHEILVERFAHREN UND KOMPLEMENTÄRMEDIZIN

Luxus oder Notwendigkeit?

Trotz der großen Nachfrage in der Bevölkerung und des

differenzierten Angebots der Ärzte stehen der Forschung zu alternativen Heilverfahren nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung.

Wolfgang Weidenhammer

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