Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 26|
27. Juni 2014 A 1179G
utachten zur Reform des Gesundheitswesens sind in Berlin nichts Besonderes – mit Ausnah- men. Zu denen gehören die Expertisen des Sachver- ständigenrats (SVR) zur Begutachtung der Entwick- lung im Gesundheitswesen. Sie enthalten durchweg weitreichende, detaillierte Reformvorschläge, die meist lange diskutiert werden.Der jüngste, mehr als 600 Seiten starke Band befasst sich mit bedarfsgerechter Versorgung. Er enthält Re- formideen für die Bereiche Arzneimittel, Medizinpro- dukte und Rehabilitationsleistungen. Doch am neugie- rigsten waren viele auf die Vorschläge der sieben Rats- mitglieder zu den Perspektiven für ländliche Regionen.
„Unsere Analysen zeigen, dass die bisherigen Maß- nahmen bei weitem nicht ausreichend sind, um einer sich abzeichnenden Unterversorgung in strukturschwa- chen, ländlichen Regionen entgegenzuwirken“, betonte der SVR-Vorsitzende Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach bei der Vorstellung des Gutachtens. Deshalb empfiehlt der Rat, möglichst bald „deutlich stärkere Anreize für eine Tätigkeit in ländlichen Regionen zu setzen und entschlossene Maßnahmen zum Abbau von Überver- sorgung in Ballungsgebieten zu ergreifen.“ Abwarten sei keine Option, sagte Gerlach.
Zu den Vorschlägen, die ohne Zweifel Kontroversen auslösen werden, zählt der Landarztzuschlag: Ärztin- nen und Ärzte, die in einem Planungsbereich mit einem Versorgungsgrad von unter 90 Prozent (Hausärzte) be- ziehungsweise von unter 75 Prozent (grundversorgende Fachärzte) praktizieren, sollen einen Zuschlag von 50 Prozent auf die Regelversorgung bekommen. Finanzie- ren sollen ihn alle Ärzte, die in gut versorgten Gebieten tätig sind.
Im Gegenzug wird empfohlen, für alle Planungsbe- reiche mit einem Versorgungsgrad von mehr als 200 Prozent den Aufkauf frei werdender Arztsitze durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) gesetzlich vorzu- schreiben. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat das umgehend kritisiert. „Dies wird der Ver- sorgungsrealität nicht gerecht“, sagte KBV-Vorstand Regina Feldmann. „Neben dem Versorgungsgrad muss
die lokale Versorgungssituation berücksichtigt wer- den.“ Häufig würden KVen und Krankenkassen einen Sonderbedarf feststellen. „Das heißt: Die zusätzlichen Arztstellen werden auch gebraucht.“
Der SVR hat zur Begründung seiner Vorschläge für Perspektiven im ländlichen Raum darauf verwiesen, dass alle bisherigen Maßnahmen der Selbstverwaltung die „zunehmende Fehlverteilung der Kapazitäten“ zwi- schen Stadt und Land nicht hätten aufhalten können.
Und: „90 Prozent aller Facharztabschlüsse erfolgen ak- tuell im spezialisierten Bereich, nur noch knapp zehn Prozent im Bereich Innere und Allgemeinmedizin.“
Um dieses Ungleichgewicht zu verringern, wollen die Gesundheitsweisen eine Stärkung der Allgemeinmedi- zin an den Universitäten forcieren und beispielsweise medizinische Fakultäten, die das Fach Allgemeinmedi- zin nachhaltig fördern, im Rahmen der Hochschulfi- nanzierung belohnen.
Für die Sommerfeste in Berlin hat der Rat Ge- sprächsstoff geliefert. KBV und KVen werden noch weitere Vorschläge entdecken, die sie für falsch und nicht zielführend halten. Gleichwohl erstreckt sich der Dank im Vorwort des Gutachtens ausdrücklich auch auf manchen Experten aus KVen und KBV. Das klingt zu- mindest konstruktiver als zu Zeiten des viel zitierten Gutachtens zu Über-, Unter- und Fehlversorgung vom Dezember 2000.
GUTACHTEN DES SACHVERSTÄNDIGENRATS
„Abwarten ist keine Option“
Sabine Rieser
Sabine Rieser Leiterin der Berliner Redaktion