Differentialgleichungen
Jochen Merker Sommersemester 2011
zuletzt aktualisiert am 14. September 2017
Inhaltsverzeichnis
1 Elementare L¨ osungsmethoden und allgemeine Existenzs¨ atze 7
1.1 L¨ osungen gew¨ ohnlicher Differentialgleichungen . . . . 7
1.2 Elementar l¨ osbare Differentialgleichungen 1. Ordnung . . . 11
1.3 Elementar l¨ osbare Differentialgleichungen 2. Ordnung . . . 20
1.4 Der Existenz- & Eindeutigkeitssatz v. Picard-Lindel¨ of . . . 26
1.5 Allgemeinere Existenz- und Eindeutigkeitsresultate . . . 31
1.6 Stetige Abh¨ angigkeit . . . 38
1.7 Differenzierbare Abh¨ angigkeit . . . 41
2 Lineare Differentialgleichungen 45 2.1 Lineare Systeme . . . 45
2.2 Lineare Differentialgleichungen h¨ oherer Ordnung . . . 48
2.3 Die Reduktionsmethode von d’Alembert . . . 49
2.4 Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten . . . 51
3 Qualitative Theorie 59 3.1 Grundlegende Begriffe . . . 59
3.2 Lineare Fl¨ usse . . . 61
3.3 Linearisierung nichtlinearer Fl¨ usse . . . 68
3.4 Lyapunov-Funktionen . . . 70
4 Rand- und Eigenwertprobleme 79 4.1 Sturm-Liouvillesche Randwertprobleme . . . 79
4.2 Sturm-Liouvillesche Eigenwertprobleme . . . 83
5 Elementare L¨ osungsmethoden f¨ ur partielle Differentialgleichungen 85 5.1 Die Laplace-Gleichung . . . 85
5.2 Die Diffusionsgleichung . . . 88
5.3 Die Wellengleichung . . . 93
Sporadisches Sachwortverzeichnis 99
Einleitung
In der Vorlesung
” Differentialgleichungen“ werden wir uns mit Methoden besch¨ aftigen, die es erlauben, gew¨ ohnliche Differentialgleichungen explizit zu l¨ osen oder zumindest die Existenz von L¨ osungen zu beweisen. Dar¨ uberhinaus werden wir Eigenschaften von L¨ osungen wie deren Ein- deutigkeit, stetige Abh¨ angigkeit oder qualitatives Verhalten diskutieren. Abgeschlossen wird die Vorlesung durch ein kurzes Kapitel ¨ uber elementare Methoden zur Ermittlung von L¨ osungen spe- zieller partieller Differentialgleichungen.
Dieser Text ist dazu gedacht, Ihnen einen kurzen ¨ Uberblick ¨ uber die in der Vorlesung behandelten Themen zu geben. Dar¨ uberhinaus sind f¨ ur interessierte und sehr begabte Studenten auch immer mal wieder weiterf¨ uhrende Literaturtipps angegeben. Lassen Sie sich aber nicht entmutigen, wenn Sie dort einen Blick hineinwerfen und nichts verstehen, das verlangt auch keiner von Ihnen.
Falls Sie Fragen, Anregungen oder W¨ unsche haben, sprechen Sie mich einfach an.
Viel Vergn¨ ugen und viel Erfolg beim Studium von Differentialgleichungen !
Kapitel 1
Elementare L¨ osungsmethoden und allgemeine Existenzs¨ atze
In diesem Kapitel wird es darum gehen, einerseits spezielle Differentialgleichungen explizit zu l¨ osen (was nicht ganz so hilfreich ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn tats¨ achlich gibt es f¨ ur die meisten interessanten Differentialgleichungen keine expliziten L¨ osungsmethoden) und andererseits S¨ atze zu beweisen, die die L¨ osbarkeit von allgemeinen Differentialgleichungen garantieren (was allein auch nicht sehr hilfreich ist, denn dadurch weiß man noch lange nicht, wie sich L¨ osungen verhalten). Dar¨ uberhinaus werden wir uns fragen, inwieweit die L¨ osungen einer Differentialglei- chung eindeutig sind oder stetig/differenzierbar von den gegebenen Daten abh¨ angen.
1.1 L¨ osungen gew¨ ohnlicher Differentialgleichungen
Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass Sie mit den grundlegenden Begriffen der Differen- tialrechnung f¨ ur Funktionen einer reellen Variablen vertraut sind, wie sie z.B. in [K¨ onigsberger]
entwickelt werden. Insbesondere sollte Ihnen bekannt sein, dass eine Abbildung x : I → R
nauf einem Intervall I ⊂ R eine (parametrisierte) Kurve im R
ngenannt wird und differenzierbar in t ∈ I heißt, falls der Grenzwert
x
0(t) := lim
h→0
x(t + h) − x(t) h
existiert, den man die (erste) Ableitung von x in t nennt (oder auch den Tangentialvektor an x zum Zeitpunkt t), siehe [K¨ onigsberger, 12.1]. Ist x in jedem Punkt t ∈ I differenzierbar und die Ableitung x
0: I → R
nstetig, dann nennt man x stetig differenzierbar oder eine C
1-Kurve.
Rekursiv definiert man analog die m-te Ableitung x
(m)und C
m-Kurven.
Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen sind nun Gleichungen, die nicht nur von den Werten sondern auch von den Ableitungen einer auf einem Intervall I ⊂ R definierten Funktion x : I → R (im Fall n = 1) bzw. einer Kurve x : I → R
nabh¨ angen.
Definition 1.1. Ist Ω ⊂ R × ( R
n)
mund f : Ω → R
n, so heißt die Gleichung
x
(m)= f (t, x, x
0, . . . , x
(m−1)) (1.1) eine (explizite
1) n-dimensionale Differentialgleichung m-ter Ordnung.
1Noch allgemeiner als explizite Differentialgleichungen sind Differentialgleichungen von der Form f˜(t, x, x0, . . . , x(m−1), x(m)) = 0. Solche Differentialgleichungen werden implizit genannt und lassen sich nur dann in (1.1) umschreiben, wenn man nachx(m) aufl¨osen kann. Wir werden uns in dieser Vorlesung nahezu ausschließlich mit expliziten Differentialgleichungen besch¨aftigen.
Man nennt (1.1) h¨ aufig auch ein n-dimensionales System von Differentialgleichungen m-ter Ord- nung. Aufgrund des Vorkommens von Ableitung in (1.1) muss man nat¨ urlich pr¨ azise sagen, was man unter einer L¨ osung von (1.1) verstehen will.
Definition 1.2. Eine Kurve x : I → R
nheißt eine (klassische) L¨ osung der Differentialgleichung (1.1), falls x eine m-mal differenzierbare Kurve mit (t, x(t), x
0(t), . . . , x
(m−1)(t)) ∈ Ω und x
(m)(t) = f (t, x(t), x
0(t), . . . , x
(m−1)(t)) f¨ ur alle t ∈ I ist.
Ist f : Ω → R
nstetig und x eine klassische L¨ osung der Differentialgleichung (1.1), dann ist offen- sichtlich x nicht nur m-mal differenzierbar, sondern sogar eine C
m-Kurve, da die rechte Seite von (1.1) stetig in t ist. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass klassische L¨ osungen von Differential- gleichungen oft viel regul¨ arer sind als in Definition 1.2 gefordert wird.
Definition 1.1 ist recht allgemein, da an f ¨ uberhaupt keine Anforderungen gestellt werden. Stellt man an f gewisse Bedingungen, dann benennt man auch den zugeh¨ origen Typ von Differential- gleichungen entsprechend.
Definition 1.3. • Ist die Funktion f auf der rechten Seite von (1.1) unabh¨ angig von t, so spricht man von einer autonomen Differentialgleichung.
• Ist Ω = I × ( R
n)
mmit einem Intervall I ⊂ R und (y
1, . . . , y
m) 7→ f(t, y
1, . . . , y
m) f¨ ur jedes t ∈ I linear, dann nennt man (1.1) eine (homogene) lineare Differentialgleichung.
Als erstes Resultat wollen wir nun zeigen, dass man jede Differentialgleichung h¨ oherer Ordnung in eine ¨ aquivalente Differentialgleichung erster Ordnung umschreiben kann (die daf¨ ur aber eine h¨ ohere Dimension als die urspr¨ ungliche Differentialgleichung hat).
Satz 1.4. Zu einer durch f : Ω ⊂ R × ( R
n)
m→ R
ngegebenen Differentialgleichung m-ter Ordnung definiere man f ˜ : Ω → ( R
n)
mdurch
f ˜ (t, y
1, y
2, . . . , y
m) := (y
2, y
3, . . . , y
m, f (t, y
1, . . . , y
m)) .
Dann ist x genau dann eine L¨ osung von x
(m)= f(t, x, x
0, . . . , x
(m−1)), wenn die durch y(t) :=
(x(t), x
0(t), . . . , x
(m−1)(t)) definierte Kurve im ( R
n)
meine L¨ osung von y
0= ˜ f(t, y) ist.
Beweis: Ist x eine L¨ osung von x
(m)= f (t, x, x
0, . . . , x
(m−1)), dann ist y einmal differenzierbar und es gilt
y
10= x
0= y
2y
20= x
00= y
3.. .
y
m0= x
(m)= f (t, x, x
0, . . . , x
(m−1)) = f(t, y
1, y
2, . . . , y
m) also l¨ ost y die DGL y
0= ˜ f(t, y).
Ist umgekehrt y eine L¨ osung von y
0= ˜ f(t, y), dann hat die erste Komponente x := y
1von y gerade y
kals (k − 1)-te Ableitung f¨ ur k = 2, . . . , m, denn y
k−10= y
kgilt aufgrund der Definition der ersten m − 1 Komponenten von ˜ f. Insbesondere ist x
(m−1)= y
mdifferenzierbar und erf¨ ullt aufgrund der Definition der letzten Komponente von ˜ f die Differentialgleichung
x
(m)= y
m0= f (t, y
1, y
2, . . . , y
m) = f (t, x, x
0, . . . , x
(m−1)) .
2
Aufgrund von Satz (1.4) reicht es also aus, Systeme von Differentialgleichungen erster Ordnung zu
betrachten, und diesen Spezialfall von Definition (1.1) wollen wir noch einmal festhalten.
Definition 1.5. Ist Ω ⊂ R × R
nund f : Ω → R
n, so heißt die Gleichung
x
0= f (t, x) (1.2)
eine (explizite) n-dimensionale Differentialgleichung erster Ordnung oder auch ein n-dimensionales System von Differentialgleichungen erster Ordnung.
Die Abbildung f in (1.2) bezeichnet man auch als zeitabh¨ angiges Vektorfeld auf R
n. Tats¨ achlich gibt f(t, x) gerade den Tangentialvektor an, den eine L¨ osungskurve haben soll, wenn sie zum Zeitpunkt t durch den Punkt x l¨ auft.
Aufgabe 1.6. Zeigen Sie, dass autonome und nichtautonome Differentialgleichungen im folgenden Sinne ¨ aquivalent sind: Definiert man zu f : Ω ⊂ R × R
n→ R
ndas zeitunabh¨ angige Vektorfeld f ˜ (t, x) := (1, f(t, x)) auf Ω ⊂ R
n+1, dann ist x genau dann eine L¨ osung von x
0= f (t, x) mit x(t
0) = x
0, wenn y(s) := (s + t
0, x(s + t
0)) eine L¨ osung von y
0= ˜ f(y) mit y(0) = (t
0, x
0) ist. Es reicht also aus, autonome Systeme von Differentialgleichungen erster Ordnung zu betrachten.
Im Allgemeinen hat eine Differentialgleichung sehr viele verschiedene L¨ osungen, jedoch kann man hoffen, dass die L¨ osung einer Differentialgleichung erster Ordnung eindeutig ist, wenn man sich zus¨ atzlich zur Differentialgleichung noch einen Anfangswert vorgibt.
Definition 1.7. Man sagt, eine Kurve x l¨ ost die Differentialgleichung (1.2) zum Anfangswert x
0bei t
0, wenn x eine L¨ osung von (1.2) ist und zus¨ atzlich x(t
0) = x
0gilt.
Beispiel 1.8. Zu vorgegebenem λ ∈ R hat die Differentialgleichung erster Ordnung x
0= λx die L¨ osungen x(t) = Ce
λtmit einer beliebigen Konstanten C ∈ R (wie man durch Einsetzen in die Differentialgleichung leicht nachpr¨ ufen kann). Dies sind tats¨ achlich alle m¨ oglichen L¨ osungen der Differentialgleichung x
0= λx, denn l¨ ost x diese DGL, dann gilt auch x
0(t)e
−λt= λx(t)e
−λtund daher
(xe
−λt)
0(t) = x
0(t)e
−λt− λx(t)e
−λt= 0 .
Also ist die Funktion t 7→ x(t)e
−λtkonstant, d.h. x(t) = Ce
λtgilt mit einer Konstanten C ∈ R . Nun wird die Konstante C aber durch die Anfangsbedingung x(t
0) = x
0eindeutig festgelegt, denn aus dieser Bedingung ergibt sich C = x
0e
−λt0. Somit gibt es genau eine L¨ osung der Differential- gleichung x
0= λx zum Anfangswert x
0bei t
0, n¨ amlich x(t) = x
0e
λ(t−t0)Leider gibt es Differentialgleichungen mit stetiger rechter Seite f, deren L¨ osung durch eine An- fangsbedingung nicht eindeutig festgelegt wird.
Beispiel 1.9. Die autonome Differentialgleichung erster Ordnung x
0= p
|x| hat die L¨ osungen x(t) =
(t+C)4 2auf dem Intervall [−C, ∞) (wie man wiederum durch Einsetzen in die Differential- gleichung leicht nachpr¨ ufen kann). Daher ist x(t) :=
t42auf dem Intervall [0, ∞) eine L¨ osung zum Anfangswert x
0= 0 bei t = 0, aber auch die konstante L¨ osung x(t) := 0 ˜ ist offensichtlich eine L¨ osung zum Anfangswert x
0= 0 bei t = 0.
Ein anderes Problem ist, dass sich L¨ osungen von Differentialgleichungen selbst bei ¨ uberall definier- ter und glatter rechter Seite f : R × R
n→ R
nim Allgemeinen nicht auf ganz R fortsetzen lassen, d.h. zu einem Anfangswert muss es nicht unbedingt eine auf ganz R definierte L¨ osung x geben.
Man nennt eine L¨ osung x einer Differentialgleichung global, falls sie auf ganz R definiert ist.
Beispiel 1.10. Die autonome Differentialgleichung x
0= x
2hat zum Anfangswert x
0bei t = 0 die L¨ osung x(t) =
1−txx00
. Diese L¨ osung ist sogar eindeutig, denn ist x eine L¨ osung mit x(t) 6= 0, dann gilt
1 + tx(t) x(t)
0= (1 + tx(t))x
0(t) − x(t)(x(t) + tx
0(t))
(x(t))
2= 0 .
Jedoch l¨ a sst sich x bei x
0> 0 nicht auf ein gr¨ oßeres Intervall als (−∞,
x10
) fortsetzen, da lim
t%x1
0
x(t) = +∞ gilt, und ¨ ahnlich f¨ ur x
0< 0. Daher gibt es zu keinem Anfangswert x
06= 0 eine globale L¨ osung.
Treten bei einer autonomen Differentialgleichung diese beiden unsch¨ onen Situationen aber nicht auf, d.h. existieren f¨ ur eine autonome Differentialgleichung erster Ordnung eindeutige globale L¨ osungen, dann ist der L¨ osungsoperator der Differentialgleichung ein Fluss, wie wir in Satz 1.13 zeigen werden.
Definition 1.11. Eine Abbildung Φ : R × Ω → Ω heißt Fluss auf der Menge Ω, falls Φ(0, ·) = Id
Ωund Φ(s, Φ(t, x)) = Φ(s + t, x) f¨ ur alle s, t ∈ R und x ∈ Ω gilt.
Insbesondere gilt f¨ ur einen Fluss Φ die Gleichung Φ(−t, Φ(t, x)) = x f¨ ur alle t ∈ R und x ∈ Ω, d.h.
Ω 3 x 7→ Φ(t, x) ∈ Ω hat y 7→ Φ(−t, y) als inverse Abbildung, und aufgrund der G¨ ultigkeit von Φ(s, Φ(t, x)) = Φ(s + t, x) ist t 7→ Φ(t, ·) ein Gruppenhomomorphismus von der abelschen Gruppe ( R , +) in die Halbgruppe (Abb(Ω, Ω), ◦) aller Abbildungen von Ω in sich mit der Komposition ◦ als Verkn¨ upfung.
Modellieren die Punkte von Ω den Zustand eines Systems (z.B. eines physikalischen oder biologi- schen Systems), so dr¨ ucken die Eigenschaften, die ein Fluss erf¨ ullt, gerade aus, dass die zeitliche Entwicklung des Systems deterministisch ist: Die gesamte zuk¨ unftige Entwicklung t 7→ Φ(t, x) des Systems ist eindeutig durch den aktuellen Zustand x ∈ Ω bestimmt und unterliegt somit keinerlei zuf¨ alligem Einfluss.
Um zu beweisen, dass der L¨ osungsoperator einer autonomen Differentialgleichungen ein Fluss ist, ist die folgende Eigenschaft wesentlich, die im Allgemeinen nur f¨ ur autonome Differentialgleichun- gen gilt.
Lemma 1.12. Ist x L¨ osung einer autonomen Differentialgleichung x
0= f(x), dann ist f¨ ur jedes t ∈ R auch s 7→ x(s + t) eine L¨ osung der Differentialgleichung.
Beweis: Es gilt
dsd(x(s + t)) = x
0(s + t) = f(x(s + t)). 2 Satz 1.13. Besitzt die autonome Differentialgleichung erster Ordnung x
0= f (x) mit der auf der Teilmenge Ω ⊂ R
ndefinierten rechten Seite f : Ω → R
nzu jedem Anfangswert x
0∈ Ω bei t = 0 eine eindeutige globale L¨ osung und bezeichnet man diese mit t 7→ Φ(t, x
0), so ist Φ ein Fluss.
Beweis: Offensichtlich gilt aufgrund der Anfangsbedingung Φ(0, x) = x f¨ ur alle x ∈ Ω, und da zu
gegebenem t ∈ R und x ∈ Ω sowohl s 7→ Φ(s, Φ(t, x)) als auch (nach Lemma 1.12) s 7→ Φ(t + s, x)
L¨ osungen zum Anfangswert Φ(t, x) bei s = 0 sind, m¨ ussen diese aufgrund der Eindeutigkeit gleich
sein, d.h. es gilt Φ(s, Φ(t, x)) = Φ(s + t, x) f¨ ur alle s, t ∈ R und x ∈ Ω. 2
Umgekehrt kann man zu jedem Fluss Φ auf Ω ⊂ R
n, f¨ ur den t 7→ Φ(t, x) f¨ ur jedes x ∈ Ω
differenzierbar ist, durch f (x) :=
∂Φ∂t(0, x) ein zeitunabh¨ angiges Vektorfeld definieren, f¨ ur das die
globale L¨ osung zum Anfangswert x
0∈ Ω bei t = 0 durch t 7→ Φ(t, x
0) gegeben ist. In der Tat, aufgrund von Φ(s + t, x) = Φ(s, Φ(t, x)) gilt
d
dt Φ(t, x
0) = d
ds Φ(s + t, x
0)|
s=0= d
ds Φ(s, Φ(t, x
0))|
s=0= f (Φ(t, x
0)) .
Bemerkung 1.14. Diese bemerkenswerte Korrespondenz zwischen Fl¨ ussen und autonomen Dif- ferentialgleichungen wird genauer und allgemeiner in der Theorie (nicht)linearer Halbgruppen stu- diert, siehe [Engel,Nagel, Barbu].
Im Folgenden wird es unser Anliegen sein, Bedingungen an die rechte Seite f einer Differentialglei- chung aufzustellen, die die (globale) Existenz und Eindeutigkeit von L¨ osungen garantieren, denn nur dann kann man Satz (1.13) anwenden. Zun¨ achst aber wollen wir f¨ ur einige spezielle Typen von Differentialgleichungen Methoden vorstellen, mit denen man diese explizit l¨ osen kann.
1.2 Elementar l¨ osbare Differentialgleichungen 1. Ordnung
1.2.1 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung
Eine (eindimensionale) lineare Differentialgleichung erster Ordnung hat die Form
x
0= a(t)x + b(t) (1.3)
mit vorgegebenen Funktionen a, b : I → R auf einem Intervall I, d.h. die rechte Seite ist durch die affin-lineare Funktion f : I × R → R , f (t, x) = a(t)x+ b(t), gegeben. Im Fall b = 0 nennt man (1.3) homogen, und ist a von t unabh¨ angig, dann spricht man von einer linearen Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten.
Beispiel 1.15. Bezeichnet x(t) die Menge (z.B. in Mol) eines radioaktiven Materials zum Zeit- punkt t, das mit der konstanten Rate a in andere Stoffe zerf¨ allt, dann gen¨ ugt x der homogenen linearen Differentialgleichung x
0= −ax mit konstanten Koeffizienten.
Kommt aber st¨ andig neues radioaktives Material mit der Rate b(t) hinzu und kann man die Zer- fallsrate beeinflussen, so dass sie durch eine zeitabh¨ angige Funktion a(t) gegeben ist, dann gen¨ ugt x der allgemeinen linearen Differentialgleichung (1.3).
Betrachten wir zun¨ achst den homogenen Fall x
0= a(t)x und setzen a als stetig voraus. Ist x auf einem t
0∈ I enthaltenden offenen Intervall positiv, dann kann man dort auf beiden Seiten der Gleichung durch x teilen und erh¨ alt wegen
dtdln(x(t)) =
xx(t)0(t)die Gleichung
d
dt ln(x(t)) = a(t) . Integration ¨ uber [t
0, t] ergibt ln(x(t)) − ln(x(t
0)) = R
tt0
a(s) ds und daher x(t) = x
0exp
Z
t t0a(s) ds
(1.4)
bei x(t
0) = x
0. Tats¨ achlich ist diese Funktion – wie man einfach durch Einsetzen ¨ uberpr¨ ufen kann
– f¨ ur jede Wahl von (t
0, x
0) eine L¨ osung von x
0= a(t)x (auch wenn sie Null oder negativ wird).
Außerdem ist sie die einzige L¨ osung der Differentialgleichung zum Anfangswert x(t
0) = x
0auf I, denn ist x eine L¨ osung von x
0= a(t)x auf I , so kann man ¨ ahnlich wie in Beispiel 1.8 mit exp
− R
tt0
a(s) ds
auf beiden Seiten multiplizieren und erh¨ alt mit der Produktregel
x(t) exp
− Z
tt0
a(s) ds
0= 0 . Demzufolge ist die Funktion I 3 t 7→ x(t) exp
− R
tt0
a(s) ds
konstant, insbesondere gilt die Glei- chung x(t) = C exp
− R
tt0
a(s) ds
mit einer Konstanten C ∈ R f¨ ur alle t ∈ I, und durch Einsetzen von t
0erh¨ alt man C = x(t
0).
Um auch eine L¨ osung der inhomogenen linearen Differentialgleichung (1.3) zu erhalten, suchen wir mit Hilfe eines Tricks nach L¨ osungen, den man Variation der Konstanten nennt. Wir setzen n¨ amlich einfach einmal den Ansatz x(t) := C(t) exp
R
tt0
a(s) ds
mit einer noch zu bestimmenden Funktion C(·) (statt einer Konstanten, deshalb auch der Name
” Variation der Konstanten“) in (1.3) ein und erhalten mit Hilfe der Produktregel
C
0(t) exp Z
tt0
a(s) ds
+ a(t)x(t) = a(t)x(t) + b(t) . Der Ansatz liefert also
C
0(t) = exp
− Z
tt0
a(s) ds
b(t) ,
und durch Integration ergibt sich daher mit C(t
0) = x
0sowie der Abk¨ urzung A(t) := R
tt0
a(s) ds f¨ ur die Stammfunktion von a mit A(t
0) = 0 bei stetigem b
x(t) =
x
0+ Z
tt0
exp(−A(s))b(s) ds
exp(A(t)) (1.5)
als L¨ osung von (1.3). Wir halten dieses Ergebnis im folgenden Satz fest.
Satz 1.16 (allgemeine L¨ osung der linearen DGL erster Ordnung). Sind a, b: I → R stetige Funk- tionen auf einem Intervall I, ist t
0∈ I und x
0∈ R , so hat (1.3) unter der Anfangsbedingung x(t
0) = x
0genau eine L¨ osung x : I → R , n¨ amlich (1.5).
Man bemerke, dass dieser Satz bei I = R sogar die Existenz und Eindeutigkeit globaler L¨ osungen garantiert.
Aufgabe 1.17. Weisen Sie auch im inhomogenen Fall die Eindeutigkeit der L¨ osung von (1.3) nach.
1.2.2 Trennung der Variablen
Hat eine (eindimensionale) lineare Differentialgleichung erster Ordnung die Form
x
0= g(t)h(x) (1.6)
mit vorgegebenen Funktionen g : I → R und h : J → R auf (offenen) Intervallen I, J ⊂ R , so spricht
man von einer Differentialgleichung mit getrennten Variablen. Beispielsweise ist jede autonome
Differentialgleichung x
0= f(x) oder auch jede homogene lineare Differentialgleichung x
0= a(t)x eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen.
F¨ ur Differentialgleichungen mit getrennten Variablen gibt es eine relativ simple Methode (die Trennung der Variablen genannt wird), mit der man das zugeh¨ orige Anfangswertproblem zum Anfangswert x(t
0) = x
0bei (t
0, x
0) ∈ I × J lokal l¨ osen kann. Sind n¨ amlich g und h stetig und ist h(x
0) 6= 0 (andernfalls ist offensichtlich die konstante Funktion t 7→ x
0auf I eine L¨ osung), so gibt es aufgrund der Stetigkeit von h zumindest ein offenes Intervall ˜ J ⊂ J mit x
0∈ J ˜ und h(x) 6= 0 f¨ ur x ∈ J. Somit kann man die Stammfunktionen ˜
G : I → R , G(t) :=
Z
t t0g(s) ds und H : ˜ J → R , H(x) :=
Z
x x01 h(y) dy
mit G(t
0) = 0 und H(x
0) = 0 definieren. Nun ist aber H
0=
1hentweder auf ganz ˜ J positiv oder negativ, d.h. H ist streng monoton. Also besitzt H eine Umkehrfunktion H
−1: H( ˜ J ) → J, und ˜ H( ˜ J) ist ein offenes Intervall um H(x
0) = 0. Aufgrund der Stetigkeit von G und G(t
0) = 0 gibt es dann ein offenes Intervall ˜ I ⊂ I um t
0mit G( ˜ I) ⊂ H( ˜ J). Auf diesem Intervall ˜ I definieren wir nun x(t) := H
−1(G(t)), d.h. x(t) erh¨ alt man durch Aufl¨ osen der Gleichung H(x(t)) = G(t). Dann gilt x(t
0) = H
−1(G(t
0)) = H
−1(0) = x
0und nach den Differentiationsregeln
x
0(t) = (H
−1)
0(G(t)) · G
0(t) = 1
H
0(H
−1(G(t))) · G
0(t) = 1
H
0(x(t)) · G
0(t) = h(x(t)) · g(t) aufgrund von H
0=
h1und G
0= g. Also ist x auf ˜ I eine L¨ osung von (1.6) zum Anfangswert x(t
0) = x
0. Wir haben somit den folgenden Satz bewiesen.
Satz 1.18. Seien g : I → R und h : J → R stetige Funktionen auf offenen Intervallen I, J ⊂ R und sei (t
0, x
0) ∈ I × J vorgegeben.
• Ist h(x
0) = 0, dann hat (1.6) zum Anfangswert x(t
0) = x
0die konstante L¨ osung x(t) = x
0auf ganz I.
• Ist h(x
0) 6= 0, dann besitzt (1.6) zum Anfangswert x(t
0) = x
0auf einem hinreichend kleinen offenen Intervall I ˜ ⊂ I um t
0eine L¨ osung x : ˜ I → R , und diese erh¨ alt man durch Aufl¨ osen von
Z
x(t) x01
h(y) dy = Z
tt0
g(s) ds (1.7)
nach x(t).
Bemerkung 1.19.
• Satz 1.18 garantiert nur die Existenz lokaler L¨ osungen des Anfangswertproblems zu (1.6), aber nicht die Existenz von globalen L¨ osungen. Tats¨ achlich m¨ ussen i.a. keine globalen L¨ osun- gen von (1.6) existieren, wie Beispiel (1.10) zeigt.
• Aus dem Beweis von Satz 1.18 kann man desweiteren ablesen, dass L¨ osungen zu Anfangs-
werten x
0mit h(x
0) 6= 0 zumindest auf dem gewonnenen hinreichend kleinen Intervall I ˜ ein-
deutig sind (schließlich existiert die Umkehrabbildung von H). Jedoch muss dies f¨ ur gr¨ oßere
Intervalle nicht mehr der Fall sein, wie auch Beispiel (1.9) zeigt.
• Im Nachhinein erkl¨ art Satz 1.18, warum wir im vorigen Abschnitt zur L¨ osung der linearen Differentialgleichung x
0= a(t)x durch x geteilt und dann integriert haben, dort haben wir n¨ amlich gerade Trennung der Variablen benutzt.
Beispiel 1.20.
(a) Betrachtet man die Population einer Spezies (z.B. Bakterien in einer N¨ ahrl¨ osung) und sieht man die Anzahl x(t) der Individuen zur Zeit t ∈ I als kontinuierlich an (was nur bei sehr großen Populationen Sinn macht), so kann man die zeitliche Entwicklung der Population durch eine reelle Funktion x : I → R modellieren. Den Quotienten
xx0bezeichnet man als relative ¨ Anderungsrate. Diese relative ¨ Anderungsrate modelliert man h¨ aufig durch eine allein von der Zeit t und der Populationsgr¨ oße x abh¨ angige Funktion r(t, x) (die z.B. die Differenz der Geburten- und Sterberate zur Zeit t bei Populationsgr¨ oße x angibt). In diesem Modell erf¨ ullt x also die Differentialgleichung
x
0= r(t, x)x . (1.8)
(b) Das einfachste Modell (1.8) ist sicherlich durch die Wahl r(t, x) = λ mit einer Konstanten λ ∈ R gegeben, und wie wir schon aus Beispiel 1.8 wissen, haben die L¨ osungen die Form Ce
λt. Hier wird man nur nichtnegative Populationsgr¨ oßen zulassen, und tats¨ achlich folgt aus C > 0 auch x(t) > 0. In Abh¨ angigkeit von λ w¨ achst die Population x(t) f¨ ur t → ∞ entweder ins Unendliche (λ > 0), bleibt konstant (λ = 0) oder geht gegen Null, d.h. die Population stirbt aus (λ < 0).
(c) Ein etwas komplexeres Modell (1.8) ist durch eine lineare relative ¨ Anderungsrate r(t, x) = λ(1 −
xxmax
) mit der maximalen Wachstumsrate λ > 0 und der maximal tragbaren Populati- onsgr¨ oße x
max> 0 gegeben. ¨ Uberschreitet x die maximal tragbare Populationsgr¨ oße x
max, so wird r negativ und die Population sinkt. Neben der konstanten L¨ osung 0 gibt es noch eine weitere konstante L¨ osung, n¨ amlich x = x
max. Diese L¨ osung ist eine sogenannte global asym- ptotisch stabile Ruhelage, d.h. sie h¨ angt nicht von t ab und alle (positiven) L¨ osungen streben f¨ ur t → ∞ gegen x
max. Tats¨ achlich, Trennung der Variablen liefert f¨ ur x
0= λ(1 −
xxmax
)x bei x(t
0) = x
0die Gleichung
Z
x(t) x01
(y − x
max)y dy = − Z
tt0
λ x
maxds . Mittels der Partialbruchzerlegung
(y−x1max)y
=
x1max
1y−xmax
−
1yergibt sich 1
x
maxln
y − x
maxy
|
x(t)x0= − λ
x
max(t − t
0) und somit
xmaxx(t)−x(t)=
xmaxx−x00
e
−λ(t−t0)bei x
0∈ (0, x
max) und
x(t)−xx(t)max=
x0−xxmax0
e
−λ(t−t0)bei x
0∈ (x
max, ∞). Die L¨ osung zum Anfangswert x(t
0) = x
0≥ 0 ist also
x(t) =
0 x
0= 0
x
max1 +
xmaxx−x00
e
−λ(t−t0)0 < x
0< x
maxx
maxx
0= x
maxx
max1 −
x0−xxmax0
e
−λ(t−t0)x
max< x
0und strebt f¨ ur x
0> 0 wie behauptet bei t → ∞ gegen x
max.
1.2.3 Substitution
Manchmal kann man durch Substitution eine kompliziert aussehende Differentialgleichung in eine schon bekannte Differentialgleichung ¨ uberf¨ uhren. Aus einer L¨ osung dieser bekannten Gleichung erh¨ alt man dann durch R¨ ucksubstitution eine L¨ osung der urspr¨ unglichen Differentialgleichung. Wir wollen diese Methode zur L¨ osung von Differentialgleichungen anhand dreier Beispiele kennenlernen.
Lineare Substitution
Hat eine Differentialgleichung die Form
x
0= f (ax + bt + c) (1.9)
mit einer Funktion f : R → R und Konstanten a, b, c ∈ R , a 6= 0, dann kann man zu einer L¨ osung x die Funktion y(t) := ax(t) + bt + c betrachten. Diese erf¨ ullt
y
0(t) = ax
0(t) + b = af (ax + bt + c) + b = af (y) + b ,
l¨ ost also die autonome Differentialgleichung y
0= af (y)+b. Umgekehrt erh¨ alt man aus einer L¨ osung y von y
0= af (y) + b durch x(t) :=
1a(y(t) − bt − c) aber auch eine L¨ osung der urspr¨ unglichen Differentialgleichung (1.9). Da autonome Differentialgleichungen mittels Trennung der Variablen oft leicht l¨ osbar sind, ist es uns also durch Substitution des linearen Terms ax + bt +c gelungen, die kompliziert aussehende Differentialgleichung (1.9) in eine einfach zu l¨ osende Differentialgleichung zu ¨ uberf¨ uhren.
Beispiel 1.21. Substituiert man in der Differentialgleichung x
0=
(t−x)12+1den linearen Term y := −x + t, dann erh¨ alt man f¨ ur y die Differentialgleichung
y
0= − 1
y
2+ 1 + 1 .
Die rechte Seite ist gleich
y2y+12, daher erh¨ alt man mittels Trennung der Variablen Z
y(t)y0
1 + 1 z
2dz =
Z
y(t) y0z
2+ 1 z
2dz =
Z
t t01 ds , und daraus y(t) −
y(t)1− y
0+
y10
= (t − t
0) oder y(t)
2−
y
0− 1
y
0+ (t − t
0)
y(t) − 1 = 0 . Die L¨ osung von y
0= −
y21+1+ 1 zum Anfangswert y(t
0) = y
0ist also
y(t) = 1 2
y
0− 1
y
0+ (t − t
0)
± s
1 4
y
0− 1
y
0+ (t − t
0)
2+ 1 , und die L¨ osung der urspr¨ unglichen Gleichung zum Anfangswert x(t
0) = x
0ist
x(t) = t − 1 2
t − x
0− 1 t
0− x
0∓ s
1 4
t − x
0− 1 t
0− x
0 2+ 1 ,
wegen y
0= −x
0+ t
+. Man bemerke, dass man aufgrund der quadratischen Abh¨ angigkeit statt
−x + t ebensogut x − t h¨ atte substituieren k¨ onnen. Außerdem hat man bei x
0= t
0nur scheinbar
ein Problem mit der Existenz der L¨ osung: Die L¨ osung der DGL f¨ ur y zum Anfangswert y(t
0) = 0
ist die konstante L¨ osung y = 0, und zu dieser geh¨ ort die L¨ osung x = t zum Anfangswert x
0= t
0.
Ahnlichkeitsdifferentialgleichungen ¨
Ahnlichkeitsdifferentialgleichungen haben die Form ¨ x
0= f
ax + bt + e
1cx + dt + e
2(1.10) mit einer invertierbaren Matrix
a b c d
und einem Vektor e ∈ R
2. Im Spezialfall a b
c d
= 1 0
0 1
und e = 0
0
nennt man die Differentialgleichung (1.10) eine homogene Differentialgleichung, sie hat dann die Form
x
0= f x t
. (1.11)
Diese Bezeichnung macht einerseits Sinn, denn die Steigung x
0einer L¨ osung ist bei einer homoge- nen Differentialgleichung auf allen Ursprungsgeraden x = mt dieselbe. Insbesondere ist mit einer L¨ osung x auch y(t) :=
x(st)sf¨ ur jedes s 6= 0 eine L¨ osung, denn
y
0(t) = x
0(st) = f
x(st) st
= f y(t)
t
Andererseits ist die Bezeichnung
” homogen“ ung¨ unstig gew¨ ahlt, da bereits lineare Differentialglei- chungen (1.3) bei b = 0 als homogen bezeichnet werden.
Den allgemeinen Fall einer ¨ Ahnlichkeitsdifferentialgleichung kann man durch Koordinatenwechsel immer auf den einfacheren Fall einer homogenen Differentialgleichungen zur¨ uckf¨ uhren. In der Tat, da
a b c d
invertierbar ist, hat das lineare Gleichungssystem
a b c d
x
0t
0= − e
1e
2eine ein- deutige L¨ osung (x
0, t
0), und in den verschobenen Koordinaten s := t − t
0, y(s) := x(s + t
0) − x
0, lautet die Differentialgleichung
d
ds y(s) = d
ds x(s + t
0) = x
0(s + t
0) = f
ax(s + t
0) + b(s + t
0) + e
1cx(s + t
0) + d(s + t
0) + e
2= f
ay(s) + bs + ax
0+ bt
0+ e
1cy(s) + ds + cx
0+ dt
0+ e
2LGS
= f
ay(s) + bs cy(s) + ds
= f a
y(s)s+ b c
y(s)s+ d
! , ist also eine homogene Differentialgleichung (wobei die neue, nur von
ysabh¨ angige rechte Seite von (1.11) durch ˜ f (z) = f
az+bcz+dgegeben ist). Die homogene Differentialgleichung (1.11) kann man aber durch die Substitution y :=
xtl¨ osen, denn unter dieser Substitution geht sie in die Differentialgleichung
y
0= f(y) − y t
¨ uber, welche man mittels Trennung der Variablen l¨ osen kann.
Beispiel 1.22. Homogene Differentialgleichungen treten insbesondere dann auf, wenn die Diffe- rentialgleichung nicht von der Wahl der Maßeinheiten abh¨ angen soll. Modelliert beispielsweise t den Preis von Benzin in Euro und x(t) die Nachfrage beim Preis t in Litern, so soll sich das durch eine Differentialgleichung gegebene Modell f¨ ur die Preis-Nachfrage-Relation bei Umrechnung des Preises in Dollar und der Nachfrage in Gallonen nicht ¨ andern. Genau dies ist bei der speziellen homogenen Differentialgleichung
x
0= λ x
t
der Fall, mit x(t) ist f¨ ur a, b 6= 0 auch y(t) := ax(bt) eine L¨ osung, denn y
0(t) = λabx
0(bt) = λab x(bt)
bt = λ y(t) t .
Die Differentialgleichung x
0= λ
xtist aber sogar linear und kann leicht mittels Trennung der Variablen gel¨ ost werden, aus
ln(x(t)) − ln(x
0) = Z
x(t)x0
1
y dy = λ Z
tt0
1
s ds = λ(ln(t) − ln(t
0)) ergibt sich x(t) = x
0t t0
λf¨ ur λ, t
06= 0.
Bernoulli- und Riccati-Differentialgleichungen Eine Differentialgleichung der Form
x
0+ a(t)x + b(t)x
p= 0 (1.12)
heißt bei p 6= 1 Bernoulli-Differentialgleichung. Die Substitution y := x
1−pf¨ uhrt wegen y
0= (1 − p)x
−px
0= (p − 1)x
−p(a(t)x + b(t)x
p) = (p − 1)a(t)y + (p − 1)b(t)
auf eine lineare Differentialgleichung, die i.a. inhomogen ist und nicht-konstante Koeffizienten besitzt. Formel (1.5) erlaubt einem prinzipiell, diese lineare Differentialgleichung zu l¨ osen, und die R¨ ucksubstitution x = y
1/(1−p)liefert daraus L¨ osungen der Bernoulli-Differentialgleichung. Man beachte, dass der geschilderte L¨ osungsweg rigoros nur f¨ ur positive L¨ osungen Sinn macht. F¨ ur negative L¨ osungen sollte man Potenzen x
pals |x|
pund x
1−pbzw. y
1/(1−p)als vorzeichenbehaftete Potenz sign(x)|x|
1−pbzw. sign(y)|y|
1/(1−p)interpretieren, sonst kommt es zu Uneindeutigkeiten.
Ist in einer Bernoulli-Differentialgleichung p = 2 und die rechte Seite nicht Null, sondern eine von t abh¨ angige Funktion c(t), d.h. hat die Differentialgleichung die Form
x
0+ a(t)x + b(t)x
2= c(t) (1.13)
dann spricht man von einer Riccati-Differentialgleichung. Solche Differentialgleichungen kann man elementar l¨ osen, falls man schon eine partikul¨ are L¨ osung x
pkennt (z.B. geraten hat). Dann geht die Riccati-Differentialgleichung (1.13) durch die Substitution y = x − x
pwegen
y
0= x
0− x
0p=
c(t) − a(t)x − b(t)x
2−
c(t) − a(t)x
p− b(t)x
2p= −a(t)(x − x
p) − b(t)(x
2− x
2p) = − a(t)(x − x
p) − b(t)(x − x
p)
(x − x
p) + 2x
p= −
a(t) + 2b(t)x
p(t)
(x − x
p) − b(t)(x − x
p)
2= −
a(t) + 2b(t)x
p(t)
y − b(t)y
2in die Bernoulli-Differentialgleichung y
0+ (a(t) + 2b(t)x
p(t))y + b(t)y
2= 0 ¨ uber. Diese kann man wie zuvor geschildert l¨ osen und erh¨ alt durch anschließende R¨ ucksubstitution x = y + x
pL¨ osungen der Riccati-Differentialgleichung.
Beispiel 1.23. Die Riccati-Differentialgleichung x
0+ (1 − 2t
2)x + tx
2= t − t
3+ 1 hat die spezielle L¨ osung x
p(t) = t. Die Differenz y := x − x
perf¨ ullt die Bernoulli-Differentialgleichung
y
0+ ((1 − 2t
2) + 2t · t)y + ty
2= y
0+ y + ty
2= 0 .
Mit der Substitution z = 1/y ergibt sich die lineare Differentialgleichung z
0= z + t mit allgemeiner
L¨ osung z(t) = Ce
t− (t + 1). Zweimalige R¨ ucksubstitution ergibt insgesamt x(t) =
Cet−(t+1)1+ t als
allgemeine L¨ osung der obigen Riccati-Differentialgleichung.
1.2.4 Exakte Differentialgleichungen
Ist Ω ⊂ R × R offen und f : Ω → R stetig, so ¨ uberdecken die L¨ osungen von x
0= f (t, x) ganz Ω
2. Mit anderen Worten bilden die L¨ osungen also eine Schar von ebenen Kurven, die ganz Ω
¨ uberdecken. Solch eine Schar von Kurven kann man h¨ aufig besser implizit durch eine Gleichung der Form Φ(t, x) = C mit einer differenzierbaren Funktion Φ : Ω → R und einer frei w¨ ahlbaren Konstanten C angeben statt explizit in der Form x = x(t; C) einer allgemeinen L¨ osung.
Ist (t, x(t)) eine durch t parametrisierte L¨ osung von Φ(t, x) = C, dann ergibt die Differentiation von Φ(t, x(t)) = C nach t unter Beachtung der Kettenregel die Differentialgleichung
∂Φ
∂t (t, x) + ∂Φ
∂x (t, x)x
0= 0 Daher bezeichnet man eine Differentialgleichung der Form
g(t, x) + h(t, x)x
0= 0 oder symbolisch g(t, x) dt + h(t, x) dx = 0 (1.14) mit zwei Funktionen g, h : Ω → R als exakte Differentialgleichung, wenn es eine Funktion Φ : Ω → R mit g =
∂Φ∂tund h =
∂Φ∂xgibt. In diesem Fall sind die L¨ osungen der Differentialgleichung (1.14) implizit durch Φ(t, x) = C gegeben. Der folgende Satz stellt ein leicht zu ¨ uberpr¨ ufendes Kriterium f¨ ur die Exaktheit der Differentialgleichung (1.14) bereit.
Satz 1.24. Ist Ω ⊂ R × R ein einfach zusammenh¨ angendes Gebiet (d.h. Ω ist offen, zusam- menh¨ angend und hat keine
” L¨ ocher“) und sind die Funktionen g, h : Ω → R stetig differenzierbar, dann ist die Differentialgleichung (1.14) genau dann exakt, wenn
∂g∂x=
∂h∂tgilt.
Beweis: Gibt es eine Funktion Φ : Ω → R mit g =
∂Φ∂tund h =
∂Φ∂x, dann ist aufgrund der stetigen Differenzierbarkeit von g und h die Funktion Φ zweimal stetig differenzierbar, also stimmen nach dem Satz von Schwarz die gemischten Ableitungen
∂g∂x=
∂x∂t∂2Φund
∂h∂t=
∂t∂x∂2Φuberein und die ¨ eine Richtung des Satzes ist gezeigt. F¨ ur den Beweis der anderen Richtung verweisen wir auf
[K¨ onigsberger, 11.3,11.4]. 2
F¨ ur ein einfach zusammenh¨ angendes Gebiet Ω ⊂ R × R kann man also zur L¨ osung von (1.14) die folgenden Schritte durchf¨ uhren:
(a) Pr¨ ufe, ob
∂g∂x=
∂h∂tgilt; wenn nicht, dann ist die Differentialgleichung nicht exakt und man muss nach einer anderen L¨ osungsmethode suchen (z.B. einen integrierenden Faktor finden).
(b) Wenn die Differentialgleichung exakt ist, dann bestimme man durch Integration von g nach t (bei festgehaltenem x) eine Funktion Ψ : Ω → R mit g =
∂Ψ∂t.
(c) Setzt man danach den Ansatz Φ(t, x) := Ψ(t, x) + Γ(x) in die Gleichung h =
∂Φ∂xein, so erh¨ alt man Γ
0(x) = h(t, x) −
∂Ψ∂x(t, x). Die Funktion auf der rechten Seite h¨ angt dann gar nicht von t ab (ansonsten hat man sich verrechnet), also liefert Integration nach x eine nur von x abh¨ angige Funktion Γ, und Φ(t, x) := Ψ(t, x) + Γ(x) ist die gesuchte Funktion mit g =
∂Φ∂tund h =
∂Φ∂x.
(d) Zu einem Anfangswert (t
0, x
0) ∈ Ω ist die L¨ osung von (1.14) dann implizit durch Φ(t, x(t)) = C gegeben, wobei C = Φ(t
0, x
0) ist.
2Denn nach dem sp¨ater formulierten Satz 1.43 von Peano existiert durch jeden Punkt (t0, x0) ∈Ω eine nicht weiter fortsetzbare L¨osung x:Imax →R, die sich an den endlichen Randpunkten ihres offenen Existenzintervalls Imaxdem Rand von Ω beliebig n¨ahert (oder gegen±∞geht).
Nat¨ urlich k¨ onnte man im zweiten und dritten Schritt auch erst h nach x (bei festgehaltenem t) integrieren, um ein Ψ mit h =
∂Ψ∂xzu erhalten, und dann durch Einsetzen von Φ(t, x) = Ψ(t, x)+Γ(t) in g =
∂Φ∂teine nur von t abh¨ angige Funktion Γ zu erhalten.
Integrierender Faktor
Ist die Differentialgleichung (1.14) nicht exakt, so kann man manchmal durch Multiplikation mit einer Funktion m : Ω → R , m 6= 0, aus (1.14) eine exakte Differentialgleichung machen. In diesem Fall nennt man m einen integrierenden Faktor (oder Eulerschen Multiplikator) der Differentialglei- chung (1.14). Dazu beobachte man, dass
m(t, x)g(t, x) + m(t, x)h(t, x)x
0= 0
f¨ ur ein einfach zusammenh¨ angendes Gebiet Ω ⊂ R × R genau dann exakt ist, wenn m ∂g
∂x + ∂m
∂x g = m ∂h
∂t + ∂m
∂t h gilt. H¨ angt insbesondere
∂g
∂x−∂h∂t
h
bei h 6= 0 nur von t ab, dann kann man aus
∂g
∂x
−
∂h∂th =
∂m
∂t
m
einen nur von t abh¨ angigen integrierenden Faktor m = m(t) bestimmen (h¨ angt analog
∂h
∂t−∂g∂x
g
bei
g 6= 0 nur von x ab, dann existiert ein nur von x abh¨ angiger integrierenden Faktor m = m(x)).
Beispiel 1.25. Die Differentialgleichung (2t
2+ 2tx
2+ 1)x + (3x
2+ t)x
0= 0 auf Ω = R × R ist wegen
∂g
∂x = 6tx
2+ 2t
2+ 1 6= 1 = ∂h
∂t nicht exakt, aber
∂g
∂x
−
∂h∂th = 6tx
2+ 2t
23x
2+ t = 2t h¨ angt nur von t ab. Aus 2t =
∂m
∂t
m
= (log |m|)
0(t) ergibt sich der nur von t abh¨ angige integrierende Faktor m(t) = e
t2, und durch Multiplikation mit diesem geht die Differentialgleichung (2t
2+ 2tx
2+ 1)x + (3x
2+ t)x
0= 0 in die exakte Differentialgleichung
e
t2(2t
2+ 2tx
2+ 1)x + e
t2(3x
2+ t)x
0= 0
¨ uber. Integration von e
t2(3x
2+t) nach x liefert Ψ(t, x) = e
t2(x
3+tx), und aus Φ(t, x) = Ψ(t, x)+Γ(t) ergibt sich durch Einsetzen in g =
∂Φ∂tdie Gleichung
e
t2(2t
2+ 2tx
2+ 1)x = 2te
t2x(x
2+ t) + e
t2x + Γ
0(t)
also Γ
0(t) = 0 und daher z.B. Φ(t, x) = e
t2x(x
2+t). Die L¨ osungen von (2t
2+2tx
2+1)x+(3x
2+t)x
0= 0 sind also implizit durch e
t2x(x
2+ t) = C gegeben, eine L¨ osung zum Anfangswert x(−1) = 1 ist also beispielsweise implizit durch e
t2x(x
2+ t) = 0 oder explizit durch x(t) =
(p |t| t ≤ 0
0 t ≥ 0 gegeben.
1.3 Elementar l¨ osbare Differentialgleichungen 2. Ordnung
1.3.1 Spezielle homogene lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung
Lineare Schwingungsgleichungen mit D¨ ampfung Eine homogene lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung
x
00+ 2µx
0+ ω
02x = 0 (1.15)
mit konstanten Koeffizienten µ ≥ 0, ω
0> 0, nennt man auch eine lineare Schwingungsgleichung mit D¨ ampfung. Der Ansatz x(t) = e
λtf¨ uhrt auf
(λ
2+ 2µλ + ω
20)e
λt= 0 und somit auf λ = −µ ± p
µ
2− ω
02(wobei der Term unter der Wurzel negativ und dann λ komplex sein kann). Im Fall µ 6= ω
0sind also e
(−µ+√
µ2−ω20)t
und e
(−µ−√
µ2−ω02)t
(i.a. komplexe) linear unabh¨ angige L¨ osungen, im Fall µ = ω
0sind e
−µtund te
−µtlinear unabh¨ angige L¨ osungen, wie man durch Einsetzen in (1.15) und Berechnung der sp¨ ater eingef¨ uhrten Wronski-Determinante leicht ¨ uberpr¨ ufen kann.
Sp¨ ater werden wir solch ein System von linear unabh¨ angigen L¨ osungen Fundamentalsystem nennen und zeigen, dass sich jede L¨ osung von (1.15) als Linearkombination der L¨ osungen eines Funda- mentalsystems schreiben l¨ aßt. Alle L¨ osungen von (1.15) sind also von der Form
x(t) = c
1e
(−µ+√
µ2−ω20)t
+ c
2e
(−µ−√
µ2−ω20)t
bei µ 6= ω
0bzw.
x(t) = c
1e
−µt+ c
2te
−µtbei µ = ω
0.
Wir wollen nun noch reelle L¨ osungen zu diesen i.a. komplexen L¨ osungen gewinnen und ihr lang- fristiges Verhalten diskutieren. Dazu unterscheiden wir vier F¨ alle.
• Unged¨ ampfte Schwingung (µ = 0): In diesem Fall lautet die allgemeine reelle L¨ osung x(t) = c
1cos(ω
0t) + c
2sin(ω
0t), jede L¨ osung ist also periodisch mit Periode
2πω0
.
• Schwache ged¨ ampfte Schwingung (0 < µ < ω
0): In diesem Fall ist die allgemeine reelle L¨ osung durch x(t) = c
1e
−µtcos(ωt) + c
2e
−µtsin(ωt) mit ω := p
ω
02− µ
2< ω
0gegeben, die Schwingungen werden im Lauf der Zeit ged¨ ampft und es gilt x(t) → 0 f¨ ur t → +∞.
• Aperiodischer Grenzfall (µ = ω
0): In diesem Fall wechselt die allgemeine reelle L¨ osung x(t) = c
1e
−µt+ c
2te
−µth¨ ochstens einmal ihr Vorzeichen und geht dann f¨ ur t → +∞ gegen Null.
• Stark ged¨ ampfte Schwingung (µ > ω
0): In diesem Fall ist mit κ := p
µ
2− ω
02< µ die allgemeine reelle L¨ osung durch x(t) = c
1e
−(µ−κ)t+ c
2e
−(µ+κ)tgegeben, sie wechselt niemals ihr Vorzeichen und konvergiert wegen µ ± κ ≥ 0 f¨ ur t → +∞ exponentiell schnell gegen Null.
Differentialgleichungen f¨ ur orthogonale Polynome
Ist µ ein Maß auf einem Intervall (a, b), so heißt eine Folge (P
n) von Polynomen n-ten Grades orthogonal in L
2µ(a, b), falls R
ba