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Archiv "Therapieentscheidung wider besseres Wissen: Warum Ärzte gegen Viren mit Antibiotika vorgehen" (09.07.1999)

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issenschaftlichkeit gilt als die entscheidende Stärke der Schulmedizin. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß alle Schulmediziner täglich gerade das tun, was manche der „alternativen“ Medi- zin vorwerfen: Sie verwenden Therapi- en, für die es keinerlei Wirksamkeits- nachweis gibt. Die Behandlung des

„akuten respiratorischen Syndroms“

ist ein besonders prägnantes Beispiel dafür, zu welchem mentalen Spagat Ärzte in der Lage sind: Acht bis neun von zehn Patienten verdanken ihre akute Pharyngitis, Rhinitis und Bron- chitis einer Virusinfektion, ge-

gen die Antibiotika wirkungs- los sind.

Doch die Routine sieht ganz anders aus: 80 Prozent der Patienten, die wegen ei- ner Erkältung zum Arzt ge- hen, verlassen die Praxis mit einem Antibiotika-Rezept.

Die Medikamente sind bei Ärzten und Patienten sogar so beliebt, daß nach amerika- nischen Zahlen 20 Prozent der Antibiotika gegen Erkäl- tungskrankheiten verschrie- ben werden. Damit wird die Kluft zwischen Wissen und Handeln sogar zum Risiko.

Denn die breite Verwendung von Antibiotika ist eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung resistenter Bak- terienstämme.

Erstaunlicherweise gibt es für den „Masseneinsatz“

von Antibiotika gegen Viren

sogar gute Gründe. Der riskante Ein- satz der Medikamente ist letztlich eine Konsequenz der Tatsache, daß jeder Arzt drei Ansprüchen genügen will: Er

ist Wissenschaftler, der eine gute und dem Stand der Zeit entsprechende Ar- beit tun will. Aber er ist gleichzeitig ein Dienstleister, der seine Patienten zu- friedenstellen will. Und er ist Unter- nehmer, der seine Praxis auch nach ökonomischen Gesichtspunkten führt.

Für den Biostatistiker Dr. Jürgen Windeler von der Universität Heidel- berg lassen sich Widersprüche zwi- schen Wissen und Handeln erst dann wirksam lindern, wenn man diese Dreiteilung der Ärzte akzeptiert.

Windelers These, die er auf dem Kon- greß der Deutschen Gesellschaft für

Innere Medizin in Wiesbaden schil- derte: „Ärzte werden erst dann ,evi- denz-basiert‘ praktizieren, ihre The- rapien und Ratschläge also am besten

verfügbaren Wissen ausrichten, wenn das auch von ihren Patienten ge- wünscht wird und sich ,lohnt‘.“ Im- merhin zeigt ein aktuelles Experiment, daß schon eine konsequente Vermitt- lung der Fakten die Lücke zwischen Wissen und Handeln deutlich verklei- nern kann. Forscher der Universität Colorado in Denver hatten im Winter 1996/97 in vier ähnlichen Gemein- schaftspraxen analysiert, wie oft die Ärzte Antibiotika bei unkomplizier- ter akuter Bronchitis verschrieben (JAMA 1999; 281: 1512). Die Rate lag einheitlich bei etwa 80 Prozent.

Dann wurden die Ärzte einer Pra- xis bis zum nächsten Winter ausführ- lich geschult. Neben Informationen über die Resistenzproblematik beka- men sie auch Tips zum Umgang mit Pa- tienten. Gleichzeitig erhielten alle Pa- tienten der Praxis Informationsmateri- al nach Hause geschickt, zudem wur- den in den Sprechzimmern Bro- schüren ausgelegt. In einer zweiten Praxis verzichtete man auf eine beson- dere Schulung, es wurde lediglich das Informationsmaterial für Patienten ausgelegt; in zwei weiteren Praxen än- derte sich gar nichts.

Im nächsten Winter zeigte sich der Erfolg: In der Praxis, in der Ärzte und Patienten intensiv aufgeklärt worden waren, sank die Zahl der Antibiotika- Rezepte gegen Erkältungen auf im- merhin knapp unter 50 Prozent. In den Praxen ohne jede Information und in der, in der lediglich Broschüren ausge- legen hatten, blieb es hingegen bei der Verschreibungsrate von etwa 80 Pro- zent. Die Zahl der Erkälteten, die we- gen anhaltender Beschwerden oder einer Verschlimmerung ein zweites Mal in die Sprechstunde kamen, lag in allen vier Praxen bei drei bis fünf Pro- A-1822 (26) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 27, 9. Juli 1999

P O L I T I K MEDIZINREPORT

Therapieentscheidung wider besseres Wissen

Warum Ärzte gegen Viren mit Antibiotika vorgehen

Für die Kluft zwischen medizinischem Wissen und ärztlichem Handeln gibt es mehrere Gründe.

Dazu gehört auch die Erwartungshaltung der Patienten.

W

Die Mehrzahl der Erkältungskrankheiten wird durch Viren verursacht. Im Bild: humane Influenzaviren

Foto: G. Murti, SJCRH und K. F. Shortridge, Universität Hongkong

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zent. Doch der Erfolg der Informati- onskampagne beruht nach Ansicht der Autoren nicht alleine auf der Schulung der Ärzte. Weil die Kampagne auch die Patienten informierte und so die Erwartungen veränderte, half sie den Ärzten in ihrer Eigenschaft als Dienst- leister. Gerade in der Frage „Anti- biotika gegen Erkältungen“ geraten die meisten Ärzte in eine Zwick- mühle: Auf der einen Seite sagen die medizinischen Fakten „nein“, auf der anderen Seite haben sie Angst, die Erwartungen ihres Patienten zu ent- täuschen.

Auch wenn Ärzte es sich oft nicht eingestehen, seien sie im Zweifel sogar eher Dienstleister als Wissenschaftler, schilderte Windeler am Beispiel einer britischen Untersuchung. Die For- scher hatten 1997 erkältete Patienten vor dem Arztbesuch nach ihren Er- wartungen über die Therapie gefragt und dann auch die Ärzte zu ihren Ent- scheidungen interviewt.

Zweifelhafte Entscheidung

Die Macht der Patienten war be- eindruckend. Wenn die Erkälteten Antibiotika wollten, erhielten fast 90 Prozent auch das Rezept (British Medical Journal 1997; 315: 1211). Von denen, die kein Antibiotikum erwarte- ten, bekam es aber nur jeder vierte. Be- merkenswert waren die Begründun- gen der Ärzte für ihre Entscheidungen.

Die Mediziner waren sich durchaus im klaren, daß bei 80 Prozent der Patien- ten die Indikation für Antibiotika zu- mindest zweifelhaft war; bei jedem fünften Patienten waren sie sich sogar sicher, daß Antibiotika die falsche Ent- scheidung waren – verschrieben haben sie die wertvollen Medikamente trotz- dem. „Die Ärzte hatten schlicht Angst, der Patient fühle sich schlecht behan- delt, wenn er ohne Rezept nach Hause geht“, sagt Windeler. Auch aus dieser Klemme könnten sich Ärzte durch ei-

nen Blick auf die Evidenz befreien.

Der Glaube, „nur ein Patient mit Re- zept ist ein zufriedener Patient“, scheint ein Irrtum zu sein. US-For- scher haben bereits 1996 insgesamt 113 Patienten mit Erkältungen nach dem Arztbesuch gefragt, wovon denn ihre Zufriedenheit abhing (Journal of Family Practice, 1996; 43: 56). Die Pa- tienten, die Antibiotika verschrieben bekommen hatten, waren keineswegs zufriedener mit ihrem Arzt als die, die ohne Rezept die Praxis verlieren.

Tatsächlich dominierten zwei ganz andere Kriterien. Zufrieden zeig- ten sich jene Patienten, denen der Arzt ihre Krankheit erklärt hatte und für die er sich ausreichend Zeit genom-

men hatte. Windeler: „Offenbar ist ein gutes, aufklärendes Gespräch zwi- schen Arzt und Patient eine sinnvolle- re Maßnahme gegen Erkältungen als Antibiotika.“ Doch bei der Entschei- dung zwischen Rezept und Gespräch kommt das dritte „Ich“ des Arztes ins Spiel: der Unternehmer. Der Zeitauf- wand, den der Arzt benötigt, um die Evidenz zu suchen und sie dann seinen Patienten zu erklären, lohnt sich im derzeitigen Vergütungssystem für ihn nicht. Windeler, selbst ein Verfechter der Evidenz-basierten Medizin, bleibt deshalb skeptisch: „Wissen ist zwar ei- ne dringend notwendige, aber eben nicht hinreichende Voraussetzung für gute Medizin.“ Klaus Koch

A-1824

P O L I T I K

(28) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 27, 9. Juli 1999

MEDIZINREPORT

Cochrane-Zentren: Für „bestes externes Wissen“

Auf „Evidenz-basierte Medizin“ reagieren die meisten deutschen Ärzte etwa so, wie ihre übergewichtigen Patienten auf den Ratschlag, doch mal etwas mehr Sport zu treiben. Die Idee, „neben der eigenen Intuition auch das beste externe Wissen zu nut- zen“, klingt sinnvoll, aber die Suche nach dem Wissen kostet Zeit und Mühe, und – letztlich kommt man ja auch so ganz gut zurecht. So gesehen ist die „Cochrane-Colla- boration“ so etwas wie eine Selbsthilfegruppe für Ärzte. Ende der 80er Jahre ist das Netzwerk aus einer Gruppe britischer Ärzte und Wissenschaftler entstanden, die Ernst machen wollten mit der Floskel, „Medizin auf das beste externe Wissen zu basieren“.

Mittlerweile haben sich weltweit Zentren der Bewegung gegründet, auch in Deutschland wurde kürzlich das „Deutsche Cochrane Zentrum“ an der Universität Freiburg (Leiter: Dr. Gerd Antes) eingeweiht. Das vom Bundesministerium für Bil- dung und Forschung geförderte Institut ist das 15. weltweit. Die Arbeit der nichtkom- merziellen Cochrane-Gruppen ist in wenigen Jahren zu einem der besten Exempel ge- worden, was Evidenz-basierte Medizin zu bieten hat: Ihr Kern besteht aus einer (wach- senden) Sammlung von Prinzipien und Kriterien, mit denen ein Arzt Informationen auf ihre Bedeutsamkeit und Glaubwürdigkeit abklopfen kann. Cochrane-Gruppen haben auf der Basis dieser Kriterien mehr als 500 unabhängige Bewertungen von Therapien erstellt – sogenannte Reviews –, die wegen ihrer Güte international aner- kannt sind. Etwa weitere 500 dieser Analysen sind derzeit in Arbeit. Diese Reviews sind allerdings eher „Spitzen- als Breitensport“. Sie erfordern drei aufwendige Arbeits- schritte: 1. Alle greifbaren Studien werden gesammelt.

2. Jede einzelne wird nach Gütekriterien beurteilt.

3. Die „guten“ Studien werden systematisch ausgewertet.

Gute Qualität ist dabei die Ausnahme: Oft sortieren die Cochrane-Gruppen 90 Prozent der Therapiestudien aus, weil sie methodisch fragwürdig und deshalb unzu- verlässig sind. Durch die strenge Selektion „wollen wir das Risiko von Fehlschlüssen minimieren“, schildert Matthias Egger von der Universität Bristol. Diese Analysen der besten Evidenz sind ausdrücklich bestimmt für die Mehrheit der „Breitensportler“ un- ter den Ärzten. Diese Zusammenfassungen ersparen einen Teil der Mühe, sich selbst auf die Suche machen zu müssen. Ausführliche Versionen der Reviews, die oft auch von renommierten Fachzeitschriften abgedruckt werden, können abonniert werden, eine Liste der bislang bearbeiteten Themen und kurze Zusammenfassungen sind frei im Internet zugänglich. Durch diese Komprimierung des Wissens wollen die Cochrane- Gruppen eines der wesentlichen Probleme der Ärzte lindern: den Zeitmangel.

Im Durchschnitt bleibt etwa einem Internisten pro Woche kaum eine halbe Stun- de, neben seiner Arbeit in Klinik oder Praxis noch Fachartikel zu lesen. Er müßte aber wöchentlich 15 bis 20 Stunden aufwenden, um zumindest einigermaßen auf dem Stand des Wissens zu bleiben. Neben dem Cochrane-Zentrum bieten auch erste deutsche Universitäten (Lübeck, Wuppertal) Kurse für Ärzte an, die das methodische Hand- werkszeug der „Evidenz-basierten Medizin“ lernen wollen. kch

„Wie sich Wissenschaft im Praxisalltag besser nutzen läßt“ beschreibt zudem ein von Matt- hias Perleth und Gerd Antes herausgegebe- nes Buch „Evidenz-basierte Medizin“, dessen 2. aktualisierte Auflage jetzt erschienen ist (MMW-Verlag, München). Weitere Informa- tionen zu Evidenz-basierter Medizin, Coch- rane-Gruppen, Literatur oder Kursen zum Thema unter: http://www.cochrane.de oder http://www.ebm-netzwerk.de

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