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Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 42, 16. Oktober 1998 (1)
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ine spannende Frage bei den Koalitionsverhandlun- gen zwischen den Sozialde- mokraten und Bündnis 90/Die Grünen ist, welcher Stellenwert der Sozial- und Gesundheitspolitik zugemessen wird. Jede Bundes- tagswahl und der Beginn einer neuen Legislaturperiode stellen ei- ne Zäsur und einen Neuanfang dar.Spannend ist die Frage, ob ein Richtungswechsel tatsächlich ein- geleitet wird, und vor allem – zu welchen Ufern.
Noch ist nicht erkennbar, ob beim Abschluß der Koalitionsver- einbarung auch zur Weiterent- wicklung des Rechtes der Gesetzli- chen Krankenversicherung und zur Strukturentwicklung Konkre- tes abgesprochen wird. Wie es scheint, hat die neu amtierende Regierung zunächst andere Sor- gen: Verringerung oder Beseiti- gung der Dauerarbeitslosigkeit, Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Steuer- und Rentenreform.
Bei dieser Konstellation ha- ben sowohl die Bundesärztekam- mer als auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) die für sie unverzichtbaren Grundpositio- nen gegenüber Gerhard Schröder und den Koalitionären verdeut- licht. Für die Ärzteschaft ist es eine conditio sine qua non, daß die Frei- beruflichkeit, die berufliche Unab- hängigkeit, die existentielle Siche- rung der ärztlichen Berufsaus- übung, die freie Arztwahl und die Selbstverwaltung erhalten und ausgebaut werden. Diese zählen zu den konstituierenden Elementen der bewährten gesundheitlichen Versorgung.
Namentlich die Bundesärzte- kammer fordert in einem aktuel- len Positionspapier („Grundsätze einer patientengerechten Gesund- heitsreform“) eine Konzentration auf das medizinisch Notwendige und das gesundheitsökonomisch Verträgliche. Die Finanzierungs- grundlagen in der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen im Hinblick auf das gewandelte Krankheitsspektrum, die verän- derten Risiken, die demographi- schen Verschiebungen im Alters- aufbau und den auch künftig sich dynamisch entwickelnden Versor- gungsbedarf angepaßt werden.
Die Ressourcenknappheit ist eine Herausforderung auch für die Po- litik. Die medizinisch notwendi- gen Leistungen müssen weiter- hin uneingeschränkt gewährleistet werden, auch unter Beachtung der solidarischen Absicherung der nicht in Eigenregie zu tragenden Risiken, der Vielgestaltigkeit der Leistungserbringung und der Lei- stungsformen.
Die Bundesärztekammer warnt davor, erneut ein Gestrüpp bürokratischer Gesetze über den Medizinbetrieb zu stülpen. Drin- gend erforderlich ist es, das Recht und die Versorgungsstrukturen dem medizinischen Bedarf anzu- passen und nicht umgekehrt. Das Motto muß daher lauten: alles in den Dienst einer guten, patien- tennahen Gesundheitsversorgung stellen! Die Chance sollte genutzt werden, mit dem Gesundheits- standort zugleich den Wirtschafts- standort Deutschland auch im Hinblick auf die Globalisierung der Märkte weiter zu sichern und
freie Bahn für innovative Kräfte zu geben.
Die Ärzteschaft ist dann Bündnispartner der Politik, wenn alle sich zu einer weiter sparsamen Mittelverwendung in der gesund- heitlichen Versorgung verpflichten und dafür kämpfen, das leistungs- fähige Gesundheitswesen zu erhal- ten. Sektorenübergreifende Glo- balbudgets für alle Leistungsberei- che, wie sie von den Krankenkas- sen gefordert werden und auch der neu amtierenden Regierung als Notbremse sympathisch sind, wä- ren aber Gift für das Gedeihen des Gesundheitswesens. Strukturver- werfungen würden so auf Dauer kaschiert werden. Pauschalierun- gen und Globalbudgets mit einem Anspruch auf feste Preise oder Budgets können auch zu Rechts- ansprüchen und Streitereien vor den Gerichten führen.
Die KBV befürchtet, daß die Krankenkassen in den Honorar- verhandlungen und bei einer Überarbeitung der vertragsärztli- chen Gebührenordnung auf die begrenzten Zahlungsverpflichtun- gen verweisen werden und die Lei- stungserbringer als Träger von De- fiziten mißbrauchen könnten. Zu- dem könnte es rasch zu einer eben- so leistungs- wie patientenfeindli- chen Rationierung und Begren- zung des medizinischen Leistungs- umfanges kommen. Dies darf aber nicht zugelassen werden. Zudem muß allein der Staat dafür gerade- stehen, daß die Finanzierung der Krankenversicherung gewährlei- stet bleibt und der medizinisch notwendige Mittelbedarf gedeckt wird. Dr. Harald Clade