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Archiv "Ist Arzneimittelsicherheit „machbar“?" (29.10.1982)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin EDITORIAL

0 icherheit wird im Deutschen in verschiedenem Sinne ge- braucht, einmal im aktiven: z. B.

„Sicherheit im Auftreten", aber auch im passiven: Sicherheit = Risikofreiheit, Geborgenheit.

Auch für den Begriff der Arznei- mittelsicherheit, die es streng- genommen nicht gibt, sind ent- sprechende Auslegungen mög- lich. Derjenige der Risikofreiheit ist sicher der bekanntere, denk- bar wäre jedoch auch, mit die- sem Begriff die Sicherheit des Arztes in seiner Arzneiverord- nung zu bezeichnen. Beides soll nun, die letzten Entwicklungen auf diesem Gebiete reflektie- rend, besprochen werden.

Auf einer Pressekonferenz des Bundesgesundheitsamtes über restriktive Maßnahmen zur Risi- koabwehr gegen mehrere an- algetische Wirkstoffe wurde be- klagt, daß die Entscheidung durch die unbefriedigende Da- tenlage erschwert worden sei.

Was haben wir denn überhaupt an Daten über Arzneimittelrisi- ken in der Bundesrepublik?

1. Kontrollierte klinische Prüfung neuer Arzneimittel:

Zu dieser gehört neben dem Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit in den beanspruch- ten Indikationen auch die lük- kenlose Aufzeichnung während der Prüfung beobachteter uner- wünschter Wirkungen. Zunächst

liegen diese Angaben nur für neu zugelassene Arzneimittel vor; sie werden in der Regel nicht publiziert und finden nur teilweise Niederschlag in den

Angaben zu Nebenwirkungen in der Packungsbeilage. Für die Prüfung der therapeutischen Wirksamkeit sind meist nur eini- ge tausend Patienten erforder- lich, oft weitaus weniger. Das be- deutet, daß Beobachtungen über unerwünschte Wirkungen nur an einer ebenso begrenzten Patien- tenzahl vorliegen oder, grob überschlagen, nur Häufigkeiten

Ist Arzneimittel- sicherheit

"machbar"?

bis 1:1000 erfaßt werden kön- nen. Viele, insbesondere schwerwiegende unerwünschte Wirkungen treten jedoch selte-

ner auf und werden nicht erfaßt.

Eine Verbesserung ergäbe sich durch die Hinzunahme in ande- ren Ländern während und nach der Prüfung beobachteter uner- wünschter Wirkungen. Das der- zeitige Arzneimittelgesetz sieht das jedoch nicht zwingend vor.

2. Intensivüberwachung Am (einzigen) Universitätsinsti- tut für Klinische Pharmakologie der Bundesrepublik, in Berlin, werden, gefördert von der Bun- desregierung und in Zusammen- arbeit mit einer internationalen Arbeitsgruppe in Boston, bei sta- tionären Patienten mit inneren Krankheiten unerwünschte Arz-

neimittelwirkungen systema- tisch erfaßt. Dabei werden jeder Patient und sein behandelnder Arzt eingehend nach Ereignis- sen befragt, die mit während des Krankenhausaufenthaltes oder früher eingenommenen Arznei- mitteln in Zusammenhang ste- hen könnten. Aus finanziellen Gründen beschränkt sich die Er- fassung auf eine Klinik mit einem jährlichen Patientendurchgang von etwa 2000 Kranken. Es be- darf keiner Erklärung, daß sich nur für häufig verordnete Arznei- mittel, z. B. Digitalis-Glykoside, seltener auftretende uner- wünschte Wirkungen ermitteln lassen und bei selten verordne- ten Arzneimitteln nur solche Wir- kungen imponieren, die wegen ihrer Häufigkeit ohnehin be- kannt sind. Das Unterfangen ge- winnt nur dadurch an Bedeu- tung, daß die Berliner Klinik mit Universitätskliniken in aller Welt zusammenarbeitet, wodurch die Zahl der intensiv überwachten Patienten in auswertbare Berei- che rückt. Viele in der Bundesre- publik Deutschland gebräuchli- che Wirkstoffe sind jedoch in an- deren Ländern unbekannt; für diese trifft der Informationszu- wachs aus dem Verbund daher nicht zu.

3. Veröffentlichungen

Im Gegensatz zur angelsächsi- schen Literatur gibt es in der

Bundesrepublik nur sehr wenige Veröffentlichungen über die Er- gebnisse kontrollierter Studien zur Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen. Die Gründe dafür sind vielfältig, zum Teil sind sie in der geringen

Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 43 vom 29. Oktober 1982 31

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Arzneimittelsicherheit

Wertschätzung von Arzneimittel- sicherheitsproblemen im Lehr- und Forschungsprogramm der Hochschulen begründet. Erhe- bungen aus anderen Ländern sind nur bedingt zu übertragen, wie das Beispiel der subakuten Myelo-Optikus-Neuritis (SMON) nach Oxychinolingabe zeigt.

4. Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik

Die Todesursachenstatistik der Bundesrepublik trägt, im Gegen- satz zu anderen Ländern, nicht den Bedürfnissen für eine Erfas- sung letaler unerwünschter Arz- neimittelwirkungen Rechnung, Ansätze zur Abhilfe sind nicht zu erkennen. Abgesehen von den Ergebnissen des Mikrozensus, d. h. der begrenzten Befragung von Laien nach ihren Beschwer- den, gibt es in unserem Lande keine Morbiditätsstatistik, die zumindest Rückschlüsse auf arz- neimittelspezifische Leiden und Körperschäden zuließe.

5. Spontanerfassung

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft betreibt, ausschließlich von dieser finan- ziert, seit 1962 in Zusammenar- beit mit der Weltgesundheitsor- ganisation ein Spontanerfas- sungssystem für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Dieses System ist nicht dazu bestimmt, relative Häufigkeiten bekannter unerwünschter Arzneimittelwir- kungen zu ermitteln, es dient vielmehr im Sinne eines Früh- warnsystems dazu, bisher unbe- kannte oder einem Arzneimittel

nicht zugeschriebene uner- wünschte Wirkungen aufzuzei- gen und die zur Zusammen- hangsaufklärung und Häufig- keitsermittlung notwendigen Maßnahmen in Gang zu setzen.

Es hat z. B. zur frühzeitigen Er- kennung des Zusammenhangs zwischen Xylitinfusion und Oxa- lose, des Myasthenia-gravis- ähnlichen Syndroms unter d-Pe- nicillamin, Nierenschäden nach Aescininjektion, Agranulozyto- sen unter Aprindin sowie schwerwiegender Überempfind- lichkeitsreaktionen gegen Tro- madantin geführt. Auch das Auf- treten von zunächst im Ausland erstmals beobachteten uner- wünschten Wirkungen in der Bundesrepublik konnte durch gezielte Information der Kolle- gen, z. B. im Falle des Betablok- kers Practoloi, in kurzer Zeit be- stätigt werden. Daneben beste- hen an mehreren Universitätskli- niken Projekte zur Erfassung von den behandelnden Ärzten beobachteter unerwünschter Arzneimittelwirkungen.

Diese Bilanz zeigt, daß man sich in der Bundesrepublik ernsthaft um die rechtzeitige Erfassung von Arzneimittelrisiken bemüht, daß ihre Quantifizierung aber noch im argen liegt.

Was sollte getan werden?

Im letzten Jahr wurden in der Bundespublik 0,7 Milliarden Arz- neimittel verschrieben. Rechnet man mit dem Auftreten von 5 Prozent unerwünschter Wirkun- gen bei allen verordneten Arz- neimitteln, wären das überschlä- gig 35 Millionen Fälle. Hinzu kä- men noch unerwünschte Wir-

kungen durch selbstgekaufte Arzneimittel. Es ist ohne weite- res ersichtlich, daß deren quanti- tative Erfassung nicht nur tech- nisch unmöglich, sondern auch unbezahlbar wäre. Es gilt also, pragmatische Lösungen zu fin- den, die eine Abschätzung des Risikos für relevante uner- wünschte Arzneimittelwirkun- gen bei vertretbarem Aufwand gestatten.

Voraussetzung hierfür ist ein Sachverständigengremium, das aufgrund von Signalen aus dem Spontanerfassungssystem der deutschen Ärzte oder aufgrund von Hinweisen aus dem Auslan- de Prioritäten für die zur Klärung der Zusammenhangsfrage und Risikoabschätzung notwendigen Untersuchungen setzt und ge- eignete Protokolle für die fach- lich optimale und ökonomische Durchführung der Studie vor- schlägt. Es scheint, auch ange- sichts der derzeitigen Finanzla- ge des Bundes, zweckmäßig, sich hierfür bereits existierender sachverständiger Institutionen zu bedienen, anstatt oft zufällig ausgewählte neue Gremien zu schaffen, wie das kürzlich wie- der von finanziell interessierter Seite gefordert wurde.

Welche Verfahren wären vorzu- schlagen? Zur Zusammenhangs- prüfung und Risikoabschätzung bereits identifizierter Symptoma- tik eignet sich in erster Linie die präparatebezogene Intensiv- überwachung mit entsprechen- den Kontrollgruppen. Dazu wird eine mit dem betreffenden Arz- neimittel ohnehin behandelte Patientenpopulation identifiziert und auf das Auftreten dieser

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Arzneimittelsicherheit

Symptomatik hin überwacht. In geeigneten Fällen kommt auch eine symptombezogene Intensiv- überwachung in Frage, d. h. an Stellen, an denen Kranke mit der vorliegenden Symptomatik be- vorzugt behandelt werden, er- hebt man die Arzneimittelana- mnese aller diesbezüglichen Pa- tienten, z. B. in Augen- oder Ner- venkliniken. Zur Erfassung bis- lang unbekannter unerwünsch- ter Wirkungen neu eingeführter Arzneimittel hat sich in Großbri- tannien in ersten Versuchen ein sogenanntes Verordnungsüber- wachungssystem (PMS = pres- cription monitoring system) be- währt. Es wird an anderer Stelle in dieser Zeitschrift beschrieben.

Die Verwirklichung auch nur ei- nes Teils dieser Maßnahmen könnte die „Datenlage"bei uns erheblich verbessern.

Wie ist es nun um die andere

„Arzneimittelsicherheit" in unse- rem Lande bestellt, ist der Arzt sich seiner Verordnung wirklich sicher? Die Routine, mit der sie geschieht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die in die- sen Tagen allen Ärzten zugehen- den Gebrauchsinformationen für Fachkreise erstmals den An- spruch erheben können, dem Verordner eine standardisierte und umfassende Information über die Eigenschaften des von ihm verordneten Arzneimittels zu geben. Ergänzt werden muß diese Information über das ein- zelne Arzneimittel jedoch durch die Fortbildung in der Auswahl des geeignetsten Arzneimittels, wie sie die Standesorganisation und die seriöse Fachpresse in mündlicher und schriftlicher Form anbieten.

Trotz sorgfältigster Dokumentie- rung wird man vieles in der Ge- brauchsinformation für Fach- kreise nicht finden, weil wir es eben nicht wissen. Da sind z. B.

die Häufigkeit und der Schwere- grad, mit denen bei unerwünsch- ten Arzneimittelwirkungen ge- rechnet werden muß. Fallen je- dem 50. Patienten die Nägel aus oder bekommt jeder 10. Patient, wenn er im Sommer nicht im Schatten bleibt, schon einen Sonnenbrand, dann weiß der Arzt, was er seinen Patienten zu sagen hat, wenn er das Arznei- mittel dennoch verordnet. Tritt ein schwerer Schock oder eine Agranulozytose dagegen nur bei jedem 100 000. behandelten Pa- tienten auf, so haben die meisten Kollegen kaum eine Chance, dies jemals während ihres gan- zen Berufslebens zu sehen. Es besteht hier kein Grund, den Pa- tienten mit subtiler Aufklärung zu ängstigen. Der Arzt muß je- doch stets aufmerksam und ge- rüstet sein, denn sein Patient kann der 100 000. sein. Leider gibt es nur für ganz wenige Arz- neimittel approximative Häufig- keitsangaben für die eine uner- wünschte Wirkung. Da die Arz- neimittelsicherheit nicht allein, sondern nur als Ergebnis der Nutzen-Risiko-Abwägung gese- hen werden kann, mangelt es auch hier an Sicherheit.

Alle bislang bekannten uner- wünschten Wirkungen eines Arz- neistoffs sollten, wenn irgend möglich, nach Häufigkeit und Schweregrad geordnet in der Gebrauchsinformation für Fach- kreise zu finden sein. Wie steht es aber mit den neu bekanntge- wordenen? Soll man warten, bis

der Kausalzusammenhang gesi- chert ist, oder soll man schon bei an Sicherheit grenzender Wahr- scheinlichkeit informieren? Ob- wohl die Rechtslage hier seit dem Contergan-Einstellungsbe- schluß eindeutig und mehrfach bestätigt wurde, dauert es oft mehrere Monate, bis betroffene Hersteller über die neuen uner- wünschten Wirkungen informie- ren. Selbst wenn die verantwor- tungsbewußte Mehrzahl der Her- steller alles daransetzt, alle Be- teiligten umgehend über ein mögliches Risiko zu unterrich- ten, fehlen bei leichteren uner- wünschten Wirkungen oft ad- äquate Kommunikationsmög- lichkeiten, und bei gravierenden Risiken sind sie noch bedauer- lich inadäquat. Bei der Ge- brauchsinformation für Fach- kreise wird sich zeigen, ob man Wege findet, die Information über unerwünschte Wirkungen effizient zu aktualisieren.

Von gravierenden Arzneimittelri- siken erfährt der Arzt oft über wesentlich verschlungenere Pfa- de. Er kann sich glücklich schät- zen, wenn er selbst beim Friseur in der Boulevardpresse über neue vermeintliche Risiken von ihm verordneter Arzneimittel er- fährt und nicht seine erbosten Patienten ihm die Packungen mit dem Vorwurf vor die Füße werfen, was er ihnen da wohl verordnet habe. Solange es Wis- senschaftler gibt, die, aus wel- chen Gründen immer, bevorzu- gen, ihr Wissen zuerst einer sen- sationslüsternen Öffentlichkeit und dann erst ihren Kollegen mitzuteilen, wird der Wunsch nach Arzneimittelsicherheit eine

Farce bleiben. KHK

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