• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Mehr Arzneimittelsicherheit für Kinder!" (26.03.1999)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Mehr Arzneimittelsicherheit für Kinder!" (26.03.1999)"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

M E D I Z I N

m 21. November 1998 trafen sich in Mainz in der Akade- mie der Wissenschaften und der Literatur europäische und ame- rikanische Vertreter der pharmazeu- tischen Industrie, der Kinderärzte und der Zulassungsbehörden, um sich mit dem Thema der Arzneimit- telprüfung an Kindern auf dem Sym- posium „Children in Clinical Trials“

auseinanderzusetzen. Wolfgang Sei- fert, Berlin, Vorsitzender der Ar- beitsgemeinschaft für angewandte Humanpharmakologie e. V. (AGAH e. V.), eröffnete das Symposium und stimmte auf die zu besprechenden Themen ein, die sich mit der Frage beschäftigten, was Kinder bei der Arzneimittelprüfung so besonders macht, wie die Lage für die Arznei- mittelprüfung in Europa im Ver- gleich zu den Vereinigten Staaten ist und wie sich bestehende Probleme durch die Zusammenarbeit der un-

terschiedlichen Beteiligten lösen las- sen. Hannsjörg Seyberth, Direktor der Universitäts-Kinderklinik Mar- burg und Vorsitzender der Kommis- sion für Arzneimittelsicherheit der Deutschen Gesellschaft für Kinder- heilkunde und Jugendmedizin, er- läuterte, warum Kinder nicht als kleine Erwachsene gesehen werden können, und ging auf die unterschied- lichen Entwicklungsphasen bei Kin- dern ein. Hierzu zählen das Frühge- borene in der Phase des reinen Überlebens, das Neugeborene in der Anpassungsphase, das Kleinkind in der Phase der Proliferation und des Wachstums, das Schulkind in der Phase des Differenzierens und der Adoleszent mit dem Gewinn der Re- produktionsfähigkeit. In jeder Ent- wicklungsphase treten spezifische Gesundheitsprobleme auf, für die ei- ne geeignete Pharmakotherapie (Ta- belle) benötigt wird.

KONGRESSBERICHT

A

Nicht lizenzierte Anwendung

Imti Choonara, Kinderklinik Derbyshire, England, befaßte sich in seinem Vortrag mit dem Problem der Anwendung von Medikamenten im Kindesalter, die außerhalb der Pro- duktlizenz liegen.

Dabei unterscheidet er zwischen den Kategorien „off label“ und „un- licensed“. Der „off label“-Gebrauch beinhaltet die Anwendung eines Me- dikamentes außerhalb seiner Pro- duktlizenz, wie Über- oder Unterdo- sierung, Änderung der Einnahme- frequenz, Anwendung außerhalb des angegebenen Altersbereiches und die Anwendung außerhalb der ge- nannten Indikationen oder sogar un- ter Kontraindikationen.

Ein Medikament fällt unter die Kategorie „unlicensed“, wenn die Verabreichungsform modifiziert wird, zum Beispiel Tabletten zer-

mörsert und als Suspension verab- reicht werden, oder eine Erwach- senendosierung in eine für Kinder entsprechend kleinere Dosierungs- menge umgewandelt wird.

Ebenfalls außerhalb einer Zu- lassung sind Chemikalien wie zum Beispiel Coffein-Zitrat, das zur Behandlung von Frühgeborenen- apnoen benutzt wird, und importier- te Medikamente.

Choonara berichtet über die vorläufigen Ergebnisse einer eu- ropäischen Studie in den Kinderkli- niken in Derbyshire, Uppsala und Marburg.

Dabei zeigte sich übereinstim- mend, daß 56 Prozent der allgemein- pädiatrischen Patienten Medika- mente außerhalb der Zulassung er- hielten. In der Neonatologie aller- dings ist das Problem mit über 90 Prozent der nicht lizenzierten Arzneimittelanwendung besonders groß.

Kindgerechte Darreichungsform

Jörg Breitkreutz, Institut für Phar- mazeutische Technologie, Münster, be- schäftigte sich in seinem Vortrag mit den Darreichungsformen von Arznei- mitteln und ging vor allem auf das Pro- blem ein, wie Arzneimittel im täglichen Gebrauch zerkleinert werden, um die geeignete Menge des Medikamentes zu bekommen. Leider sind durch diese Prozeduren weder eine genaue Dosie- rung des Wirkstoffes noch eine gesi- cherte Resorption am gewünschten Wirkort gegeben. Eine optimierte Prä- gung von Tabletten könnte bereits zu einer besseren Teilbarkeit führen.

Außerdem müssen Dosierungsanlei- tungen für Kinder für die entsprechen- den Altersgruppen genauer erläutert werden (Großmutters Teelöffel enthält zum Beispiel 15 ml, ein moderner 8 ml).

Auch gilt es, die kindgerechten Zu- sätze und Geschmacksformen für die Medikamente zu finden. Diese speziel- len Möglichkeiten zu entwickeln und in die Tat umzusetzen ist teilweise sehr anspruchsvoll und somit auch entspre- chend teuer.

Pädiatrische Onkologie

Joachim Boos, Universitäts-Kin- derklinik Münster, stellte die speziellen Probleme der pädiatrischen Onkologie dar. Mehr als 50 Prozent der krebskran- ken Kinder können heute geheilt wer- den. Fast alle krebskranken Kinder in Deutschland werden nach einem stan- dardisierten Protokoll behandelt. Je nach Malignom erhält das jeweilige Kind eine Kombination von fünf bis sieben verschiedenen Chemotherapeu- tika und zusätzlich mindestens ebenso viele verschiedene supportive Medika- mente, um die Nebenwirkungen zu mil- dern. Dabei läßt sich leider nicht die Wirkung des einzelnen Chemothera- peutikums eruieren, da es für Kinder

Mehr

Arzneimittelsicherheit

für Kinder!

(2)

M E D I Z I N KONGRESSBERICHT

Tabelle

Die fünf definierten Entwicklungsphasen des Kindes mit ihren Besonderheiten

Altersgruppe Physiologie Pathophysiologie Pharmakotherapie

Frühgeborene mangelnde Surfactant- pulmonale Anpassungs- Surfactant-Substitution,

(vor der 37. Schwanger- Synthese, störung, Flüssigkeitsbeatmung,

schaftswoche geboren) persistierende fetale pulmonale Hypertension, NO-Beatmung,

Phase des reinen Zirkulation, persistierender Ductus Duktusverschluß mit NSAID,

Überlebens unreifer Hirnstamm, arteriosus, zerebrale Vasokonstriktion

keine Autoregulation des bronchopulmonale mit Indometacin, Kreislaufes im ZNS, Dysplasie, zentrale Stimulation mit inkomplett vaskularisierte intraventrikuläre Blutung, Methylxanthinen

Retina Apnoen,

Retinopathia praematu- rorum

Neugeborene große Körperoberfläche, Sepsis, Antibiotika,

(0.–27. Lebenstag) viel Körperwasser und -fett, Hyperbilirubinämie, Antikonvulsiva, erhöhte Hautabsorption, Krampfanfälle, Allgemeinnarkosen Anpassungsphase verminderte Blut-Hirn- Hypoglykämien,

Schranke, Hypokalziämien, Cave: Behandlung

inkomplette neuronale kongenitale Fehlbildungen stillender Mütter Reifung,

vermehrte Hämolyse

Säugling bis Kleinkind enge Atemwege, Krupp-Syndrom, Antipyretika, (28 Tage bis 23 Monate) inkompetentes Immun- Bronchiolitis, Analgetika,

system, Otitis media, Antiemetika,

Phase der Proliferation fortschreitende Myelini- Fieberkrämpfe Sedativa(Cave: paradoxe

und des Wachstums sierung, Reaktionen),

große Leber und große Antibiotika,

Nieren Glukukortikoide,

Katecholamine, Antikonvulsiva (Cave: Valproat), Vakzine

Kinder (2 bis 12 Jahre) geringe Wachstumsrate, Unfälle, Bronchodilatatoren, zunehmende Unabhängig- Dysfunktionen des Immun- Antihistaminika,

Phase der keit, systems (Asthma, atopische Immunsupressiva,

Differenzierung zunehmende schulische Dermatitis, Allergien, zytotoxische Chemo- Verpflichtungen, juvenile rheumatoide therapeutika, Übergang zu logischem Arthritis, Autoimmuner- Antihypertensiva, Denken und Handeln krankungen, Neoplasien),

zystische Fibrose, Cave: Medikamente können Organtransplantationen Aufmerksamkeit einschränken.

Patienten zunehmend infor- mieren und ab 7 Jahre Zustimmung geben lassen.

Adoleszent schnelle Veränderungen Wachstumsstörungen, Hormone,

(13 bis 17 Jahre) (Wachstumsschub, Gona- endokrine Dysfunktionen, Antikonzeptiva, denwachstum), orthostatische Dysregula- Antihypotensiva,

Phase des Gewinns der Dysfunktionen des tionen, antiretrovirale Medikamente, Reproduktionsfähigkeit autonomen Nervensystems, Unfälle,

emotionale Instabilität sexuell übertragbare Cave: Dosisanpassung, Krankheiten, keine Compliance, suizidale Drogenmißbrauch, Doping, Überdosierung

Akne vulgaris

(3)

M E D I Z I N

keine Studien in der Frühphase der Arzneimittelentwicklung gibt. Mali- gnome des Kindesalters (Wilms-Tu- mor, Ewing-Sarkom, Neuroblastom, embryonale Tumoren und viele ande- re) unterscheiden sich von denen Er- wachsener (Ovarial-, Bronchial-, Ko- lonkarzinom und andere) in vielerlei Hinsicht, aber die Therapiemöglich- keiten werden bisher nur an und für adulte Tumorgewebe entwickelt. Auch die toxischen Nebenwirkungen der Chemotherapeutika müssen berück- sichtigt werden, so zum Beispiel die Kardiotoxizität von Anthrazyklinen, die erst viele Jahre nach der Therapie auftreten kann und bei jüngeren Pati- enten besonders ausgeprägt ist. Viele Chemotherapeutika sind für Kinder nicht zugelassen. Sie werden deshalb im Rahmen eines „Heilversuches“ ein- gesetzt, ohne eine entsprechende studi- engerechte und somit zulassungsfähige Auswertung zu ermöglichen.

Kindgerechte Prüfmethoden

Gérard Pons, Kinderklinik Saint Vincent de Paul, Paris, referierte über spezifische methodische Aspekte bei der Entwicklung von Medikamenten für Kinder. Hierbei müssen die unter- schiedlichen Entwicklungsphasen des Kindes berücksichtigt werden. Wei- terhin müssen Verfahren entwickelt werden, bei denen mit einer möglichst geringen Probandenzahl statistisch aussagefähige Ergebnisse geliefert werden können. Eines dieser Verfah- ren zur Dosisfindung bei Kindern sind populationskinetische Studien. Pro- bleme der kinetischen und metaboli- schen Studien sind unter anderem die Invasivität, zum Beispiel die Blutab- nahme. Ziel muß es sein, Verfahren zu entwickeln, bei denen man mit gerin- ger Probenzahl und Probenmenge auskommt. Auch Alternativen zur Blutentnahme müssen gesucht wer- den, so zum Beispiel die Konzentrati- on von Wirkstoffen in Urin, Speichel, Mekonium und Haaren. Methodische Schwierigkeiten sollten nicht als Ent- schuldigung dafür angeführt werden, daß keine Studien für Kinder durch- geführt werden, denn durch solche Probleme kommt es überhaupt erst zu Innovationen.

KONGRESSBERICHT

Good Clinical Practice in der Kinderheilkunde

Jochen Theis, Boehringer Ingel- heim, machte auf bereits bestehende Ethikrichtlinien aufmerksam, die wis- senschaftlich und ethisch korrekte Studien fordern. Trotzdem werden Minderjährige besonders in Deutsch- land immer noch ungern als Teilneh- mer in Arzneimittelstudien gesehen.

Eine verbesserte Zusammenar- beit zwischen Pädiatern und der pharmazeutischen Industrie ist essen- tiell, um für beide Seiten zufrieden- stellende Ergebnisse zu erhalten. Die pharmazeutische Industrie braucht ei- ne nach Good Clinical Practice (GCP) durchgeführte Arzneimittelstudie, die somit zu einer Zulassung für Kinder führt. Die Ärzte benötigen dafür eine entsprechende Infrastruktur und fi- nanzielle Unterstützung, da kaum ei- ne Kinderklinik in Deutschland über die Mittel verfügt, eine GCP-gerech- te Arzneimittelstudie durchzuführen.

Politik und Gesellschaft sind dazu aufgefordert zu entscheiden, ob Deutschland sich an der Entwicklung für sichere und wissenschaftlich ge- prüfte Arzneimittel für Kinder betei- ligen möchte.

Susanne Becker, Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, Frankfurt am Main, stellte die Ergeb- nisse einer Umfrage bei 330 pharma- zeutischen Unternehmen dar, die hin- sichtlich ihrer Erfahrungen mit Arz- neimittelstudien an Kindern berich- ten sollten. Sie erhielt aber nur 35 Rückantworten (10,6 Prozent), von denen 75 Prozent über entsprechende

Erfahrungen verfügten. Aus diesen Daten geht eindeutig hervor, daß auch die deutsche pharmazeutische Indu- strie bezüglich des Know-how bei der pädiatrischen Arzneimittelprüfung noch einen nicht unerheblichen Nach- holbedarf aufweist.

Amerikanisches Netzwerk

Gregory L. Kearns, Children’s Mercy Hospital, Kansas City, berich- tete von der amerikanischen Initiati- ve „better drugs for children“. Be- reits seit 1993 wird ein Netzwerk zur Erforschung spezieller Fragen in der pädiatrischen Pharmakologie von den National Institutes of Health (NIH) gefördert. In diesem Pro- gramm geht es nicht nur darum, Me- dikamente zulassungsrelevant zu prü- fen, sondern auch Grundlagenkennt- nisse bezüglich der pharmakokine- tischen und pharmakodynamischen Besonderheiten in den einzelnen Entwicklungsphasen des Kindes zu erarbeiten.

Um die Frage zu klären, was Kin- der von einer Teilnahme an Arznei- mittelstudien halten, wurde von Psy- chologen ein Fragebogen konzipiert, mit dessen Hilfe man die Motivation sowie die positiven und negativen Er- fahrungen der Kinder evaluierte.

Hierbei zeigte sich, daß 44 Prozent der Kinder anderen Kindern gern hel- fen wollten, 27 Prozent hatten sogar Spaß an der Teilnahme, 34 Prozent fühlten sich nicht belästigt, und nur 27 Prozent mißbilligten die Spritzen.

Längere Laufzeit der Patente

Steven P. Spielberg, R. W. John- son Pharmaceutical Research Institu- te, Raritan, New Jersey, forderte eine konzertierte Aktion. Trotz unter- schiedlicher Interessen von Klinikern und der pharmazeutischen Industrie – erstere wollen mit Studien in erster Linie ihre wissenschaftlichen Fra- gen beantworten, während letztere hauptsächlich an einer Zulassung in- teressiert ist – ist es notwendig, Ko- operation zu suchen und Kompromis- se zu finden. Er wies darauf hin, daß in

den USA die Verlängerung der Pa- tentrechte um ein halbes Jahr für die Arzneimittel mit entsprechenden Stu- dien bei Kindern ihre positive Wir- kung bei den Herstellern nicht ver- fehlt hat.

Schlußfolgerung

Arzneimittelprüfungen bei Kin- dern sind notwendig, um ihnen siche- re und wirksame Arzneimittel zur Verfügung stellen zu können. Sie sind allerdings nur zu rechtfertigen, wenn sie wissenschaftlich und ethisch kor-

(4)

M E D I Z I N

rekt geplant und von pädiatrisch er- fahrenen Prüfärzten durchgeführt werden. Weiterhin müssen Ethikkom- missionen und Zulassungsbehörden über die Besonderheiten und Bedürf- nisse der Kinder informiert werden, damit diese in die Lage versetzt wer- den, Verfahrensweisen bei der Prü- fung und im Zulassungsprozeß ent- sprechend zu modifizieren.

Zur Verbesserung der Zusam- menarbeit zwischen Kliniken und pharmazeutischer Industrie wird sich in Kürze eine interdisziplinäre Ar- beitsgruppe bilden, die sich um die Koordination zwischen Kliniken, pharmazeutischer Industrie, Zulas-

sungsbehörden und Ethikkommissio- nen bemühen wird. Geplant ist wei- terhin eine Bestandsaufnahme der Kliniken zur Feststellung ihrer GCP- Tauglichkeit. Weiterhin müssen Ärz- te, Politiker und Eltern gegenüber dem Ausmaß und der Gefahren der nicht lizenzierten Arzneimittelan- wendung bei Kindern mehr sensibili-

siert werden. Speziell für Kinder ge- prüfte Medikamente haben den großen Gewinn, daß endlich verläßli- che Daten hinsichtlich der Dosierung, Nebenwirkungen und Gegenanzeigen sowie kindgerechten Darreichungs- formen verfügbar sind. Es ist zu for- dern, daß Kinder aller Entwicklungs- phasen das gleiche Recht haben auf si- chere und geprüfte Arzneimittel wie Erwachsene.

Prof. Dr. med. Hannsjörg Seyberth Medizinisches Zentrum für Kinder- heilkunde der Philipps Universität Deutschhausstraße 12

35033 Marburg KONGRESSBERICHT/DISKUSSION

Der vorstehende Text wurde zusammen mit folgenden Teilnehmern des Symposiums er- arbeitet:

Frau Regine Albrecht Frau Carmen Knöppel

Prof. Dr. med. Hannsjörg Seyberth

In seiner einleitenden Zusam- menfassung treten die Autoren mit dem gewagten Anspruch an, die

„Unterschiede der Funktionsweisen zwischen rechter und linker Hemis- phäre . . .“ aufzuzeigen. Weiterhin behaupten sie, die Beeinflussung von . . . „Verhaltensweisen, Denk- strategien und Emotionen“ durch Hemisphärenunterschiede zu klären sowie den kausalen Zusammenhang von psychiatrischen und neurologi- schen Erkrankungen.

Unvoreingenommen würde die- ses Vorhaben einen interessanten Einblick in die Funktionsweise menschlichen Bewußtseins verspre- chen. Zumal neuerdings funktionelle Magnetresonantomographie (fMRI), Single-Photonenemissions-Computer- tomographie (SPECT) oder Positro- nenemissionstomographie (PET) als neuroradiologische Untersuchungs- methoden in der Tat unbekannte Ein- blicke in morphologische Tatbestände des Gehirns gewähren.

Im weiteren enttäuschen uns die Autoren jedoch und nehmen ihren Anspruch zurück. Bei ihren ersten Eingeständnis herrscht im wesentli- chen Unklarheit: „Auf allen Ebenen wurden Unterschiede zwischen den Hemisphären gefunden, deren funk-

tionelle Bedeutung aber in den sel- tensten Fällen klar ist [. . .]“. Einmal werden die „Sprachfunktionen“ in der linken Gehirnhälfte angesiedelt, dann wieder sind die „semantischen Sprachfunktionen auch in der rech- ten Hemisphäre“ aufzufinden. Im weiteren Fortgang finden die Auto- ren dann wieder, . . . daß „semanti- sches Gedächtnis und Sprachver- ständnis [. . .] bei Rechtshändern in beiden(!) Hemisphären möglich“ ist,

und der aufmerksame Leser fragt sich allmählich, wo es denn nun loka- lisiert ist oder ob dieser Versuch der Lokalisation etwa vergeblich ist. Die- ses Problem der Multilokalität wurde auch von Neuropsychologen vor Jah- ren erkannt und zugunsten von Ner- vennetzen, neuronalen Ensembles dynamisch weiterentwickelt, was je- doch am grundsätzlichen Dilemma der Vorgehensweise nichts ändert.

Folgt man den Ausführungen über Gefühlsqualitäten, so sind „ne- gative Gefühle wie Trauer, Ekel und Angst“ in der rechten Hemisphäre angesiedelt, aber Läsionen dieser Hälfte gehen mit Euphorie einher,

und außerdem sollte man eigentlich gar nicht glauben, „daß die Steue- rung von Gefühlen kortikal ge- schieht“. Die Autoren sind eigent- lich der Meinung, daß der „Zugriff beider Hemisphären auf limbische Strukturen“, also tieferer Schichten des Gehirns, uns im Verständnis von Trauer, Ekel und Angst weiterbringt.

Und so geht auch die angekün- digte Kausalentstehung psychiatri- scher und neurologischer Erkrankun- gen weiter, die angeblich bisher nur bei wenigen untersuchten Krankhei- ten einen Zusammenhang erbrach- ten. Angeblich ist die Variation zu groß und nicht ausreichend quantita- tiv bestimmt.

Nun ist es nicht das zweifelhaf- te Verdienst der Autoren, daß die Neuropsychologie des Gehirns die widersprüchlichsten Lokalisationen von Sprache, Emotion oder Denken im Zerebrum behauptet. Sämtliche Lehrbücher der letzten Jahrzehnte sind ein Sammelsurium von experi- mentellen Befunden, die trotz ver- feinerter Nachweistechnik nur die eine Botschaft mitteilen: Immer fin- den sich bei der Betätigung mensch- lichen Bewußtseins oder Denkens Hirnareale, die mehr oder weniger aktiv sind, und Neuronenverbände, die rechts oder links, okzipital oder frontal depolarisiert sind. Dies än- derte sich auch durch die Genauig- keit heutiger neuroradiologischer

Hirnhemisphären und Verhalten

Zu dem Beitrag von

Prof. Dr. phil. Niels Birbaumer Dr. med. Stephanie Töpfner in Heft 45/1998

Dilemma der

Biologischen Psychologie

(5)

M E D I Z I N

Nachweismethoden nicht prinzipiell, sondern im technischen Fortschritt des Auflösungsvermögens besteht der ganze Erkenntnisgewinn. Wa- rum aber stellt sich diese scheinbar so exakte Wissenschaft seit ihrem Bestehen so desolat dar? Dieses Di- lemma darf auch in der Zukunft ver- mutet werden.

Es ist und bleibt der vergebliche Versuch dieser Neurowissenschaft, die Inhalte menschlichen Denkens und Bewußtseins in den organischen Grundlagen, also der materiellen Voraussetzung menschlicher Geistes- tätigkeit, dingfest zu machen. Ob- wohl in allen Äußerungen das Einge- ständnis herrscht, daß psychisches Erleben und Denken etwas anderes ist als die quantitative Beziehung von neuronalen Verbänden, wird die Betätigung des menschlichen Geistes mit den natürlichen organischen Grundlagen identifiziert und soll dar- in aufgefunden werden. Die Absur- dität dieser Vorgehensweise in einem Beispiel ausgedrückt, würde heißen:

Um den Inhalt der in Sprache mitge- teilten Gedanken des Autors zu ent- schlüsseln, mache ich mich daran, die Zeilen der Druckerschwärze seines Artikels (in diesem Fall die dingliche Manifestation seiner Gedanken) mi- kroskopisch zu analysieren, um darin

den gedachten Gehalt seiner wissen- schaftlichen Mitteilung aufzufinden.

Solange die Biologische Neuropsy- chologie sich nicht dazu bequemt, Denken als das zu betrachten, was es zuerst einmal ist, nämlich geistige Tätigkeit, erscheint Denkfähigkeit ihr immer als Zahl von Neuronenver- schaltung, Quantität von Nervenent- ladung oder besseren MRI-Bildern.

Es bleibt ein unendliches Geschäft, begleitet von der Behauptung, man hätte noch nicht genügend experi- mentelle und bildgebende Befunde, noch nicht ausreichend verfeinerte Methodik eingesetzt, um zur endgül- tigen Materialisation des Denkens vorzustoßen. Die letzten 50 Jahre dieser Forschung scheinen zu bele- gen, daß sie dieses Dilemma pflegen will.

Literatur

1. Birbauer N, Schmidt RF: Biologische Psy- chologie. Berlin: Springer Verlag, 1996, 3.

Auflage.

2. Kolb B, Wishaw IQ: Fundamentals of hu- man neuropsychology. New York: Free- man Publications, 1990.

3. Ader R, Felten D, Cohen N: Psychoneuro- immunology. San Diego: Academic Press, 1991.

Dr. med. Dipl.-Psych.

Robert J. Zimmermann Menzingerstraße 163 80997 München

DISKUSSION

Mit Freude und Begeisterung habe ich den Artikel gelesen. Er nimmt sich eines Themas an, das nach meiner Meinung noch immer stiefmütterlich behandelt wird. Das Wissen um die Spezialisierung der Hirnhemisphären wird häufig erst im Rahmen der Ausfälle infolge einer schweren Funktionsstörung bewußt.

Die komplexen Zusammenhänge, die hier sowohl in der Spezialisie- rung der jeweiligen Hirnhälfte beste- hen, als auch die Interaktion der bei- den „Computer“, kommen zuneh- mend ins Bewußtsein. Störungen, die aus dieser Spezialisierung in der Zusammenarbeit der Hemisphären herrühren, sind gar nicht so selten, sondern bis jetzt nur wenig beachtet.

Hier denke ich an erster Stelle an die

sensorischen Integrationsstörungen und die Links-Rechts-Koordina- tionsprobleme, die mengenmäßig stark zunehmen. Einen ganz beson- deren Aspekt gibt es darüber hinaus noch bei Hochbegabten mit sehr unausgewogenem Begabungsprofil.

Hier zeigen sich die Störungen bei unausgeglichener Zusammenarbeit der einzelnen Hirnareale beson- ders deutlich. Ein Teil der hier häu- figen und bekannten Verhaltensauf- fälligkeiten, die zum Teil sogar zur Aufnahme in psychiatrische Klini- ken führten, lassen sich zum Teil durch diese Sichtweise neu erklären, und sie bietet somit erstmals einen kausalen Therapieansatz. Um die- sen Gesichtspunkt möchte ich die Ausführungen der Autoren, welche Krankheiten durch Hemisphärenun- terschiede bedingt sein könnten, noch ergänzt wissen. Die Problema- tik, die sich durch Störungen aus die-

sem Bereich ergibt, ist keineswegs selten, sondern viel häufiger, als bis jetzt von den meisten angenommen.

Literatur

Lubbe B: Mögliche Besonderheiten der Wahrnehmung bei Kindern mit sehr hoher Intelligenz. Labyrinth, Deutsche Gesell- schaft für das hochbegabte Kind e. V., 1998, 57: 20–23.

Dr. med. Beate Lubbe Cheruskerstraße 15 32423 Minden

Während für viele der Kom- mentare die neurobiologische Un- tersuchung über den Zusammen- hang zwischen Hemisphärendomi- nanz und Verhalten medizinisch wertvoll erschien und auch erste An- sätze zur Erklärung vor allem von Verhaltensstörungen und neurologi- schen Störungen anbot, war für den anderen Teil der Kommentare der gegenwärtige Stand des Wissens zu vage; er behindere den Arzt in der Erklärung solcher Krankheitsbilder mehr als daß er ihm hilft. Zwischen diesen beiden Extremen läßt sich schwer eine Balance finden, die bei- den, den Geduldigen wie den Unge- duldigen, ausreichend Information bietet. Generell gilt für die junge Wissenschaft der Verhaltensneuro- biologie, daß klinisch relevante Er- gebnisse selten sind, da die entschei- denden Elementarprozesse von Ver- halten noch nicht geklärt sind.

Aufmerksamkeit und Bewußtsein, Wahrnehmung und Gedächtnis, Ler- nen und Emotion beginnen zwar in ihren Hirnmechanismen besser ver- standen zu werden, wir sind aber noch weit davon entfernt, sie phar- makologisch oder psychologisch zu manipulieren, damit eine Vielzahl von Krankheitsbildern vergleichbar der klinischen Medizin beseitigt oder verhindert werden können.

Nehmen wir ein Beispiel: die Dyslexie, eine Störung, die im Deut- schen auch oft als Legasthenie be- zeichnet wird. Kinder mit völlig nor- maler Intelligenz und Verhalten zei- gen dabei sehr früh größte Schwie- rigkeiten in den Lesefähigkeiten und

Störungen gar nicht so selten

Schlußwort

(6)

M E D I Z I N

als Konsequenz davon auch im Rechtschreiben. Diese Störung ist außerordentlich therapieresistent und führt zu sozialen und psycholo- gischen Folgeschäden bis ins Er- wachsenenalter. Es handelt sich um eine früh erworbene oder angebore- ne Störung jener Hirnareale, die mit der Steuerung der Lautanalyse und deren Ausdruck im Schreiben befaßt sind. Natürlich wissen wir, daß bei den meisten Rechtshändern die Analyse von Phonemen, vor allem wenn sie grammatikalisch sequenti- eller Natur ist, eher in der linken He- misphäre stattfindet. Andererseits zeigt sich bei Personen mit Dyslexi- en neben linkshemisphärischen Störungen auch eine Reihe von rechtshemisphärischen Dysregula- tionen, wenn man die Kinder mit Le- se- und Schreibaufgaben konfron- tiert. Bei Analyse der elementa- ren Wahrnehmungsfähigkeiten zeigt sich, daß Schwierigkeiten im Unter- scheidungslernen von ähnlich klin- genden Lauten bestehen, die dann zu Verwechslungen und falschen Zu- sammensetzungen von Phonemen und später Buchstaben führen. Die Konsequenz dieser Tatsache ist eine Neuorganisation der beiden Hirnhe- misphären im akustischen Areal, wobei es zum „Zusammenwachsen“

der Repräsentationsareale für die einzelnen Laute im Gehirn kommt.

Durch intensives psychologisches

Training von einfachen Lautunter- scheidungsaufgaben lassen sich die Hirnareale wieder „trennen“.

Wir können also aufgrund unse- rer rudimentären Kenntnis der Orte der Störung im Gehirn eine lernpsy- chologisch fundierte Behandlung an- bieten, die außerordentlich wirksam ist, obwohl wir nicht genau wissen, wie im einzelnen der zelluläre und chemische oder genetische Mecha- nismus der Störung aussieht. Dies soll auch ein Trost für jene Ungedul- digen sein, die aus der Verhaltens- neurobiologie letztlich kausale Er- klärungen erwarten, die ihnen klare Handlungsanweisungen für Therapi- en geben. Wir können eine Reihe von Erkrankungen besser als noch vor wenigen Jahren behandeln, auch wenn wir die einzelnen Mechanis- men nicht bis ins letzte Molekül ver- stehen. Insofern waren die ersten Schritte einer psychophysiologi- schen Analyse der Hemisphärenun- terschiede durchaus erfolgreich, vor allem wenn man die geringe Zeit be- trachtet, die seit Beginn dieser For- schungen nach dem Zweiten Welt- krieg vergangen ist. Die nachlassen- de Interdisziplinarität im Bereich der Medizin, die zunehmende Kon- zentration auf einzelne, isolierte mo- lekulare Mechanismen und die stei- gende Förderung für angewandte, klinisch unmittelbar nutzbare For- schung wird den Fortschritt in Zu-

kunft weiter verlangsamen. Die Un- geduldigen unter unseren Lesern müssen also noch viel Geduld auf- bringen.

Prof. Dr. phil. Niels Birbaumer Institut für Medizinische Psycholo- gie und Verhaltensneurobiologie Gartenstraße 29

72074 Tübingen DISKUSSION/FÜR SIE REFERIERT

Beim langfristigen Vergleich von spontan auftretenden Komplikatio- nen bei intrakraniellen Aneurysmen wie Rissen und Subarachnoidalblu- tungen und den Risiken einer operati- ven Behandlung zeigte sich, daß bei Patienten mit einem Aneurysma von weniger als zehn Millimetern Durch- messer und ohne Vorgeschichte mit subarachnoidalen Blutungen eine Operation anscheinend die Raten von Todesfällen und bleibenden Schäden nicht senkt. Dies ist das Ergebnis ei- ner internationalen Studie zu Verlauf und Behandlung von unrupturierten intrakraniellen Aneurysmen, an der

53 medizinische Zentren in den USA, Kanada und Europa beteiligt waren.

Dabei wurden die Krankheitsverläufe von 1 449 Patienten retrospektiv aus- gewertet, bei denen entweder ein Aneurysma ohne Komplikationen festgestellt wurde oder die nach einer Subarachnoidalblutung erfolgreich behandelt worden waren. Weiterhin wurden die Verläufe von 1 172 Patien- ten prospektiv ausgewertet. Die Rate für Komplikationen durch Riß und Blutung lag unter 0,05 Prozent pro Jahr bei den Teilnehmern, deren Aneurysmata weniger als 10 Millime- ter Durchmesser hatten und bei de-

nen keine Blutung in der Vorgeschich- te aufgetreten war. Weiterer Ein- flußfaktor für Komplikationen war die Lage des Aneurysmas; günstigere Verläufe ergaben sich bei Aneurys- mata der Arteria communicans po- sterior als bei der Arteria basilaris.

Die Raten für bleibende Schäden oder Todesfälle bei Aneurysmaopera- tionen lagen dagegen ein Jahr nach dem Eingriff zwischen 15,7 und 13,1

Prozent. silk

The International Study of Unruptured Intracranial Aneurysms Investigators:

Unruptured intracranial aneurysms – risk of rupture and risks of surgical in- tervention, N Engl J Med 1998; 339:

1725–1733.

Dr. David O. Wiebers, ISUIA Coordinat- ing Center, Mayo Clinic, 200 First St. SW, Rochester, MN 55905, USA.

Krankheitsverlauf bei intrakraniellen Aneurysmen und Risiken der Operation

Diskussionsbeiträge

Zuschriften zu Beiträgen im medi- zinisch-wissenschaftlichen Teil – ausgenommen Editorials, Kon- greßberichte und Zeitschriftenrefe- rate – können grundsätzlich in der Rubrik „Diskussion“ zusammen mit einem dem Autor zustehenden Schlußwort veröffentlicht werden, wenn sie innerhalb vier Wochen nach Erscheinen der betreffenden Publikation bei der Medizinisch- Wissenschaftlichen Redaktion ein- gehen und bei einem Umfang von höchstens zwei Schreibmaschinen- seiten (30 Zeilen mit je 60 Anschlä- gen) wissenschaftlich begründete Ergänzungen oder Entgegnungen enthalten. Für Leserbriefe zu ande- ren Beiträgen gelten keine beson- deren Regelungen (siehe regel- mäßige Hinweise). DÄ/MWR

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Tatsächlich wurde erstmals auch für den Krankenhaus- bereich ein Ausgabenan- stieg für das gesamte Jahr 1986 von + 3,25 Prozent vorgegeben, ohne freilich die medizinische, die

Eine Dokumenta- tion in fünf europäischen Ländern einschließlich Deutschland (4) ergab, dass nicht einmal die Hälfte der Arznei- mittel einer pädiatrischen Allgemein-

Berlin – In seinen aktuellen Empfehlungen zur Fortschreibung der monatlichen Pauschalbeträge in der Vollzeitpflege von Kindern und Jugendlichen spricht sich der

Andelic, Ksenija: "Mehr Rechte für Kinder?": Abriss über die Geschichte der Kinderrechte im europäischen Raum und deren Umsetzung in Österreich1. Hamburg: Diplomica

Für niederlas- sungswillige, aber auch für be- reits niedergelassene Ärzte hat der NAV-Virchowbund, Verband der niedergelassene- nen Ärzte Deutschlands, eine Broschüre

Er widersprach damit der brandenburgischen Ge- sundheitsministerin Regine Hildebrandt (SPD), die nach seiner Darstellung erklärt hat, eine gemeinsame Kran- kenhausplanung werde es

Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Stoffwechselstörungen, genetische Erkrankungen bis hin zu Verhaltensstörungen oder Trauma-Folgestörungen. Da- bei liegt der Fokus

Aber auch für Einsteiger hat das Familienstudio die passenden Sportgeräte: „Besonders geeignet sind zum Beispiel unser Zirkel oder unser Power-Plate-Vibrati- onstraining.“