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Archiv "Betrug und Korruption im Gesundheitswesen: Aufgebauschte Vorverurteilungen" (13.08.2004)

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ls die AOK Niedersachsen im vergangenen Jahr meldete, gegen mehrere Hundert Ärzte zu ermit- teln, die Leistungen von Toten abge- rechnet hätten, war die ARD am schnellsten: „Hausbesuch bei Toten“, titelte das Politmagazin Panorama.

Auch andere Medien griffen das Thema reißerisch auf: das Bild vom „Abzocker in Weiß“ als Quoten- und Auflagenbrin- ger. Dass sich die meisten Anschul- digungen nach eingehenden Untersu- chungen als haltlos erwiesen (DÄ, Heft 15/2003), war hingegen nur wenigen Berichterstattern eine Meldung wert.

„Die Höhe der von Vertragsärzten verursachten Schadenssumme steht in einem krassen Missverhältnis zur auf- gebauschten Berichterstattung in den Medien“, betonte denn auch Dr. med.

Manfred Richter-Reichhelm, Erster Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), beim 5. Lü- neburger Sicherheitsforum für die Wirt- schaft am 3. August. Eine Einschätzung, die Peter Scherler, Leiter der Ermitt- lungsgruppe Abrechnungsbetrug der AOK Niedersachsen, vor den etwa 200 Experten im Hörsaal 2 der Universität Lüneburg bestätigte. Bei der Überwa- chung der abrechnenden Vertragspart- ner seien bei den Ärzten deutlich weni- ger Auffälligkeiten zu beobachten als bei anderen Leistungserbringern.

Nicht jeden Verdachtsfall öffentlich ausschlachten

Mehr als acht Millionen Euro haben Scherler und seine sieben Kollegen der Ermittlungsgruppe bis Mitte Juli dieses Jahres für die AOK und rund 90 weitere Primärkassen in Niedersachsen „er- wirtschaftet“. Allein gut fünf Millionen Euro mussten Augenoptiker in 2004 bereits an die jeweils geschädigte

Krankenkasse zurückzahlen. Sie hatten Rechnungen rückdatiert, nicht erbrach- te Leistungen abgerechnet oder teurere Gläser erstattet bekommen, als der Pa- tient erhalten hat. Zahlreiche Strafver- fahren sind anhängig. Auch Orthopä- dietechniker, Sanitätshäuser und Heb- ammen finden sich weit oben auf der Lister der Fahnder. Einem einzigen Arzt konnte in 2004 bislang eine nicht korrekte Abrechnung nachgewiesen

werden: Er hatte versucht, Akupunk- turleistungen erstattet zu bekommen, die nicht abrechnungsfähig waren. Ob- wohl in den Medien meist nur von falsch abrechnenden Ärzten die Rede ist: „Den Anteil der ärztlichen Behand- lung an den manipulierten Abrechnun- gen kann man nach unseren Erfahrun- gen vernachlässigen“, sagte Scherler.

Daran, dass sich das öffentliche In- teresse so häufig auf vermeintlich be- trügerische Ärzte konzentriere, seien auch die Krankenkassen schuld, unter- strich Richter-Reichhelm: „Es kommt leider immer wieder vor, dass einzelne Krankenkassen die Berichterstattung pushen, um von eigenen Fehlern abzu-

lenken und um bei den Verhandlungen über die Höhe der kassenärztlichen Ge- samtvergütung Vorteile zu erzielen, in- dem sie als vermeintliche Wahrer der Versicherteninteressen auftreten.“ Dies wies Dr. jur. Hans Jürgen Ahrens, Vor- standsvorsitzender des AOK-Bundes- verbandes, zwar weit von sich, räumte aber ein, dass die Krankenkassen in Zukunft „vielleicht etwas sensibler mit den Dingen umgehen sollten“ und nicht jeder Verdachtsfall in der Öffentlichkeit aus- geschlachtet werden müsse.

„Trotz aller unge- rechtfertigten Vorver- urteilungen“, versicher- te Richter-Reichhelm,

„dass die KBV und die Kassenärztlichen Ver- einigungen (KVen) al- les tun, damit Ab- rechnungsbetrug einge- dämmt wird und kri- minelle Ärzte bestraft werden.“ So werde je- de Abrechnung eines Vertragsarztes routine- mäßig überprüft. In den meisten KVen erfolge darüber hinaus eine Plausibilitätsprüfung anhand von Zeitprofilen, die zu einem Anfangs- verdacht und zu einer weitergehenden Überprüfung des auffällig gewordenen Arztes führen können. Insbesondere für Praxisgemeinschaften gebe es zudem das Aufgreifkriterium „gemeinsame Pa- tienten“. Es komme vor, dass betrü- gerisch abrechnende Ärzte die Patien- tendaten ihres Partners in ihr System übertrugen oder sich unnötig gegen- seitig Patienten überwiesen. Bei ver- sorgungsbereichsidentischen Arztpra- xen gilt deshalb die Überschreitung von 20 Prozent Patientenidentität als auf- fällig, bei versorgungsbereichsübergrei- P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 3313. August 2004 AA2213

Betrug und Korruption im Gesundheitswesen

Aufgebauschte Vorverurteilungen

Der Schaden, den Vertragsärzte durch Abrechnungsmanipulationen verursachen, wird enorm überschätzt. Dies liegt vor allem an der Berichterstattung der Medien.

Manfred Richter-Reichhelm: „Ich verwahre mich gegen jede Form der Vorverurteilung eines ganzen Berufsstandes. Die weit über- wiegende Anzahl der niedergelassenen Ärzte betrügt nicht.“

Foto:Bernhard Eifrig

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ie noch von Hertha Däubler-Gme- lin, Vorgängerin im Amt der jetzi- gen Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, eingesetzte Kommissi- on zur Reform des Versicherungsver- tragsrechtes hat ihren Abschlussbericht im April 2004 übergeben. Die Kommis- sion stellt das fast hundert Jahre alte Versicherungsvertragsrecht für alle Ver- sicherungssparten auf eine aktuelle Grundlage. Begrüßenswert aus der Sicht der Versicherten sind vor allem die vorgeschlagenen erweiterten Be- ratungs-, Aufklärungs- und Informa- tionspflichten der Versicherungen bei Vertragsabschluss, aber auch für Ver- sicherungsvermittler. Außerdem sollen Mindeststandards für die Versicherungs- sparten als Maßnahmen zur Verbesse- rung der Transparenz und des Verbrau- cherschutzes geschaffen werden.

Alterungsrückstellungen

Ein wesentliches Problem der privaten Krankenversicherung (PKV) ist die Übertragbarkeit der Alterungsrückstel- lungen bei einem Versicherungswech- sel. Die Kommission hat sich hierzu mit zahlreichen Sachverständigengut- achten auseinander gesetzt, jedoch keine Lösung vorgeschlagen. Gegen eine Transferierbarkeit der Alterungsrück- stellungen spricht die Risikoentmi- schung, das heißt, junge gesunde Ver- sicherte wechseln die Versicherung und finden als „gute Risiken“ eine neue Versicherung, wohingegen die verblei- benden Kranken in der Regel nicht wechseln, weil sie mit ungünstige- ren Versicherungsbedingungen rechnen müssen; zugleich wird der Tarif wegen der Abwanderung der Gesunden unbe- zahlbar. Insoweit setzt der Versiche-

rungswechsel unter Mitnahme der Alte- rungsrückstellungen einen ähnlichen Risikostrukturausgleich wie in der Ge- setzlichen Krankenversicherung (GKV) voraus, was immer mehr zu einer Auf- gabe der PKV und zur Angleichung der Versicherungssysteme führen würde. In diese Richtung zielt der gerade einge- führte Basistarif der PKV, der unter an- derem auch den Versicherungswechsel und die Mitgabe eines Teils der Alte- rungsrückstellungen vorsieht, aber unter Inkaufnahme eines unternehmensüber- greifenden Schadenspools, der als Risi- kostrukturausgleich im Zusammenhang mit dem eingeführten Kontrahierungs- zwang und der Aufgabe des Risikoäqui- valenzprinzips wirkt. Quintessenz: Wett- bewerb in der privaten Krankenver- sicherung mit Versicherungswechsel und Mitnahme der Alterungsrückstellungen ist nur zum Preis eines Systemwechsels mit einer Angleichung der Strukturen von PKV und GKV und damit einer Aufgabe des gegliederten Krankenver- sicherungssystems zu haben.

Völlig gegen die Interessen der Versi- cherten richten sich die Vorschläge der Kommission zur Einführung von „Ma- naged-Care-Elementen“ in die PKV.

Unter „Managed Care“ werden alle Maßnahmen einer Versicherung ver- standen, die mit der Erbringung der von ihr geschuldeten Leistungen zusammen- hängen, wie zum Beispiel die Feststel- lung der medizinischen Notwendigkeit einer Leistung, Maßnahmen der Kosten- und Qualitätssteuerung, unter anderem durch umfassende Betreuung und The- rapie schwerer Einzelfallerkrankungen, die Beratung des Versicherten über die Berechtigung von Ansprüchen der Lei- stungserbringer, die unmittelbare Ab- rechnung mit Leistungserbringern (also Quasi-Sachleistungsgewährung) anstel- P O L I T I K

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A2214 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 3313. August 2004

Versicherungsvertragsgesetz

Verkehrte Welt oder strategisches Ziel

Angleichung von Gesetzlicher und privater Krankenversicherung

fenden Arztpraxen liegt der Satz bei 30 Prozent.

Der KBV-Vorsitzende verwies dar- über hinaus auf die in der Öffentlichkeit immer noch kaum bekannte Tatsache, dass falsch abrechnende Ärzte bei einer gedeckelten Gesamtvergütung nicht die Krankenkassen oder die Beitrags- zahler schädigen, sondern ihre korrekt abrechnenden Kollegen. Es liege also im Interesse der KVen, Betrügern auf die Spur zu kommen und ihnen das Handwerk zu legen. „Unterstellungen, wonach in den KVen nach dem Motto ,eine Krähe hackt der anderen kein Au- ge aus‘ kriminelle Ärzte geschützt wer- den, sind deshalb absolut abwegig“, sag- te Richter-Reichhelm. Diese Erfahrung hat auch AOK-Chefermittler Scherler gemacht: „Eine Sperrhaltung der KVen oder anderer Verbände aufseiten der Leistungserbringer gibt es nicht.“ Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit den KVen sei gut, deren Know-how oft unersetzlich.

Apropos Fachwissen: Oberstaatsan- walt Hans-Jürgen Mahnkopf, Staatsan- waltschaft Hannover, klagte über die komplexe Rechtslage. „Was strafrecht- lich auf den ersten Blick wie Betrug aussieht, kann durch das historisch ge- wachsene und deshalb nicht immer stringente Sozialrecht abgedeckt sein“, sagte er. Die Ankläger schlagen sich mit weiteren Problemen herum: Personal- mangel, hochkomplizierte Sachverhalte (für die den Ermittlern Wissen fehlt) und die Schwierigkeit, fachkundige Sachverständige zu bestellen (unter an- derem, weil Ärzte nicht gegen Kollegen aussagen wollen). Ohne eine Vorprü- fung durch die KVen und Krankenkas- sen seien die Staatsanwaltschaften oft überfordert.

Intensiv diskutiert wurden beim 5.

Lüneburger Sicherheitsforum vor allem Detailfragen: Was ist noch so eben er- laubt, und was gilt schon als Betrug oder Korruption? – ein Denkmuster, das Dr. jur. Ulrich Steffen, Sozietät Taylor Wessing, Hamburg, als typisches Merk- mal unserer Gesellschaft ausgemacht hat: „Jeder versucht an der Grenze des Erlaubten das Beste für sich rauszuho- len“, kritisierte er. Diese Energie könne sinnvoller eingesetzt werden. Steffen:

„Die Kultur im System stimmt einfach nicht mehr.“ Jens Flintrop

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