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Archiv "Individualisierte Geburtshilfe" (04.02.1983)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

EDITORIAL

Individualisierte Geburtshilfe

Peter Stoll und Wolfgang Wiest

Einleitung

Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt haben Phantasie und Ingeniosität der Menschen seit jeher beschäftigt. Der Ge- burtsablauf war zu allen Zeiten und bei allen Völkern ähnlich.

Jedoch ist der Geburtsmodus von Religionen, Weltanschau- ungen, Traditionen und magi- schen Vorstellungen und — man möchte fast sagen — von Mode- strömungen geformt und ge- wandelt worden. So war und ist jede Geburtshilfe ein Kind ihrer Zeit.

Geschichte

Bis ins Mittelalter hinein stan- den der Gebärenden Frauen bei, die das Neugeborene aus dem mütterlichen Schoß „her- aushoben", daher das Wort Hebamme. Eine andere Ge- burtshilfe begann erst mit der Aufklärung. Sie führte zunächst in Frankreich, dann etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland zu einer wissenschaftlichen Durchdrin- gung des Geburtsvorganges.

Noch 1765 mußte Johann Ja- kob Röderer bei seiner Antritts- vorlesung in Göttingen die Ge- burtshilfe gegen die übrigen medizinischen Disziplinen ver- teidigen:

Sit sua laus medicinae, sit chir- urgiae honos, obstetricae ta- rnen nomen haud obscurum manet: Marito dulce reddit con- jugem, proli matrem, matri la- borum mercedem et universae familiae solamen*).

Mit diesen Worten Röderers ist die Aufgabe der Geburtshilfe auch heute noch umrissen.

Wenn Schwangerschaft und Geburt mit allen ihren Wün- schen und Sehnsüchten als ei- ne natürliche Erfüllung des Frauenlebens verstanden wer- den, tritt die Notwendigkeit fachlicher Hilfe und Überwa- chung oft nicht ins Bewußtsein.

Unter diesem Aspekt möchten in unserer Zeit, in der der Mensch für alle technischen Ar- beiten einen Fachmann zu- zieht, in der Geburtshilfe man- che auf den Fachmann verzich- ten und sich voll dem Schicksal anvertrauen. Die Frage ist, sind sie dann auch bereit, Schick- salsschläge hinzunehmen?

Die Statistiken beweisen, daß die Geburt häufig unmittelbare fachliche Hilfe erfordert. Auf ei- ne lückenlose Überwachung zu verzichten, entspricht im Grun- de nicht dem Sicherheitsbe- dürfnis des Menschen. Sicher- heit für Mutter und Kind müs- sen vor tradierten und propa- gierten Idealvorstellungen ei- ner Geburt rangieren, die völlig den Naturkräften überlassen bleibt. Die früher allein auf die Kräfte der Natur vertrauende und auf sie angewiesene Ge- burtshilfe hat sich in eine Ge- burtsmedizin verwandelt, wel- che einer exakten Information über den Zustand von Mutter und Kind Vorrang gibt. Sie lei- tet aus diesen technischen In- formationen gegebenenfalls die Notwendigkeit des geziel- ten ärztlichen Eingriffs in die Dynamik eines gestörten Schwangerschafts- und Ge- burtsablaufes ab.

Drei Zeiträume sind in diesem Zusammenhang von entschei- dender Bedeutung: Schwan- gerschaft, Geburt und Wochen- bett. Die sich daraus ergeben-

den Betreuungspflichten um- fassen Schwangerenvorsorge- untersuchung, Geburtsüberwa- chung, Geburtsleitung, Primär- versorgung des Neugeborenen sowie für Mutter und Kind im Wochenbett.

Schwangerenvorsorge Um problemlos helfen zu kön- nen, ist die Schwangerenvor- sorge in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich veran- kert. Der normale Schwanger- schaftsverlauf kann mit 12 Un- tersuchungen einschließlich 2 Ultraschallkontrollen über- wacht werden. Die Aufgabe des Arztes ist es dabei, Risiko- schwangerschaften zu erken- nen und rechtzeitig zu behan- deln, um Schäden für Mutter und Kind zu vermeiden. Oft ist die Zusammenarbeit mit ande- ren Fachdisziplinen erforder- lich, so etwa bei Diabetes melli- tus, Herzfehlern, chronischen Nierenerkrankungen etc.

Die technische und organisato- rische Perfektion birgt jedoch die Gefahr in sich, daß die per- sönliche Zuwendung und die psychologische Betreuung durch die Bemühungen, Risiko- faktoren in ihrem Ansatz zu er- kennen und ihr Ausmaß zu be- stimmen, in den Hintergrund geraten. Dabei erfordert die Führung gerade der gefährde- ten Schwangeren tiefes Ver- ständnis und helfende Zuwen- dung. Die psychologische Ge- burtsvorbereitung umfaßt vier Bereiche: aufklärende Gesprä- che, Elternschule, Schwanger- schaftsgymnastik, eventuell mit Partnerübungen, Erlernung der physiologischen Atemtypen, Entspannungsschulung.

*) Der Medizin ihr Lob, der Chirurgie die Ehre, der Geburtshilfe bleibt gleichwohl kein dunkler Name: Sie gibt dem Ehe- mann die Gattin zurück, dem Neugebore- nen die Mutter, der Mutter den Lohn ihrer Mühe und der gesamten Familie das Glück.

34 Heft 5 vom 4. Februar 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Die Geburt

Die heute möglichen Methoden der Überwachung des in der Gebärmutter befindlichen Kin- des unter der Geburt machen jede Diskussion um den Ge- burtsmodus unnötig. Die elek- tronische Überwachung des Feten ist bei liegenden, sitzen- den, stehenden und gehenden Müttern möglich. Sie tritt an die Stelle der stichprobenartig vor- genommenen Kontrolle der kindlichen Herztöne mittels Hörrohr und vermittelt uns ei- nen früher unvorstellbaren Ein- blick in den fetalen Vitalitätszu- stand. Freundliche Umgebung, Anwesenheit des Ehemannes, vereinzelt sogar der ganzen Fa- milie am Geburtsbett, entspan- nende Musik und Zuspruch durch das Fachpersonal sind psychische Faktoren, die den technischen Überwachungs- prozeß nicht stören, ihn aber auch nicht ersetzen können.

Die Ängste der Gebärenden vor Apparaten im Kreißsaal werden häufig überbewertet. Die Mehr- zahl der entbindenden Frauen wird durch die apparative Ge- burtsüberwachung beruhigt.

Art und Stärke der Schmerz- empfindung unter der Geburt sind individuell außerordentlich verschieden. Dieser Verschie- denheit müssen schmerzlin- dernde Maßnahmen Rechnung tragen. Die physiologische Trennung des Neugeborenen von der Mutter geschieht durch das Erlöschen des Blutflusses in der Nabelschnur. Ob früh oder spät abgenabelt werden muß, wird der Arzt entscheiden.

Mit dem ersten Atemzug des Neugeborenen beginnt die An- passung an das außeruterine Leben. Anpassungsstörungen werden im Fall der klinischen Entbindung postpartal sofort erfaßt. Entsprechend kann ih- nen sofort begegnet werden.

Stillen

Von jeher waren die Geburts- helfer davon überzeugt, daß das Stillen den Neugeborenen bestmöglich nährt. Um die Lak- tation der Brust in Gang zu bringen, ist frühes Anlegen hilf- reich. Das aus organisatori- schen Gründen geregelte Anle- gen der Kinder in starren Inter- vallen trägt dem individuellen Bedürfnis nicht immer Rech- nung, so daß für manche Kin- der das Self-Demand-Feeding Vorteile bringt.

Unterbringung des Neugeborenen

Während früher in den Großfa- milien die junge Mutter von Verwandten bei der Versor- gung des Neugeborenen unter- stützt wurde und angesichts der großen Kinderzahl auch die notwendige persönliche Erfah- rung vorlag, muß heute die Ver- sorgung des Neugeborenen eingeübt werden. Rooming-in ist daher empfehlenswert, da- mit die junge Mutter sich an ihr Kind und seine Versorgung ge- wöhnt. Erstgebärende möchten diesen Lernprozeß erfahren, während Mehrgebärende durchaus auch andere Formen der Unterbringung ihrer Kinder wünschen.

Wochenbett und Nachsorge Die Betreuung im Wochenbett wurde früher von der Großfami- lie übernommen. Es gab sogar eine besondere Wochenbett- kost. Die entbundene Mutter er- hielt auch in schlechten Zeiten Milch, Ei, etwas Rotwein und Knochenbrühe. In vielen Fami- lien ist heute eine derartige Für- sorge nicht mehr möglich. An die Stelle von Familienmitglie- dern müßte die niedergelasse- ne Hebamme oder die Gemein- deschwester treten. Häufig ist

das nicht möglich. Die fehlende postpartale Betreuung engt da- her den Übergang auf eine am- bulante Geburtshilfe ein. In der Geburtsklinik dagegen ist die volle Betreuung im Wochenbett gesichert. Zur Beratung kön- nen herangezogen werden: der Geburtshelfer, der Kinderarzt, die Hebamme, die Säuglings- schwester, die Krankengymna- stin, die Diätköchin und die So- zialfürsorgerin. Der Mutter kann für die Zeit des Wochen- betts völlige Sorgenfreiheit ge- boten und überdies ein großes Maß an Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden.

Geburtsmedizin heute Erfreulich ist, daß in unserer Zeit alle starren geburtshilfli- chen Regeln mehr und mehr abgebaut werden. Die ärztliche Entscheidung ist flexibler ge- worden und muß eine Vielzahl einzelner Faktoren berücksich- tigen. Die individualisierte Be- treuung der Schwangeren, der Gebärenden und der Wöchne- rin steht im Vordergrund. Wün- sche können im Rahmen des medizinisch Vertretbaren be- rücksichtigt werden. Alles in al- lem ist die Geburt heute zwar nicht einfacher, aber sicherer geworden. Die Geburtsmedizin erlaubt der werdenden Mutter im Rahmen des medizinisch Er- forderlichen individuelle Ent- scheidungen. Nach wie vor ist es alleiniger Zweck der Ge- burtshilfe, Mutter und Kind ge- sund zu erhalten.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Peter Stoll, FIAC Ordinarius für Geburtshilfe und Gynäkologie

der Universität Heidelberg Direktor der Frauenklinik am Klinikum Mannheim

Theodor-Kutzer-Ufer 6800 Mannheim 1

Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983 37

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