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Archiv "Niederlassung: Zunehmend weniger attraktiv" (18.01.2002)

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M

eldungen aus den neuen Bun- desländern über nicht mehr be- setzbare Hausarztsitze und die rasant steigende Zahl von Stellenaus- schreibungen im Deutschen Ärzteblatt haben die Kassenärztliche Bundesver- einigung (KBV) veranlasst, eine Analy- se der Arztzahlenentwicklung und Al- tersstruktur zu erstellen. Ergebnis: In absehbarer Zeit könnte es zu einem Ärztemangel kommen. Die deutsche Ärzteschaft sei überaltert, und es gebe nicht genügend Nachwuchs, sagte KBV-Statistiker Dr. rer. pol. Thomas Kopetsch am 10. Januar in Berlin. Sei- ner Studie mit dem Titel „Gehen dem deutschen Gesundheitswesen die Ärzte aus?“ zufolge stieg das Durchschnittsal- ter der Vertragsärzte seit 1993 um etwa drei Jahre auf 49,5 Jahre im Jahr 2000.

Viele Ärzte gehen in den nächsten Jah- ren in den Ruhestand. Zudem ist – bei gleich bleibend vielen Studienanfän- gern im Fach Medizin – die Zahl der Ärzte im Praktikum rückläufig. Diese erreichte 1994 mit 22 131 Ärzten einen Höhepunkt und sinkt seitdem kontinu-

ierlich. Im Jahr 2000 waren nur noch 16 955 Ärzte im Praktikum tätig. Das entspricht einem Rückgang gegenüber 1994 um knapp ein Viertel.

Nachwuchsärzte haben

„die Faxen dicke“

Das Berufsbild des Arztes verliere of- fenbar zunehmend an Attraktivität, kommentierte KBV-Hauptgeschäfts- führer Dr. jur. Rainer Hess die Entwick- lung der Arztzahlen und der Alters- struktur. Ständig zunehmende Doku- mentationsanforderungen an die Ärzte – auch infolge des neuen Entgeltsystems im Krankenhaus – bewirkten, dass die Ärzte immer weniger ärztlich tätig sein könnten. Zudem gebe es vielerorts Nie- derlassungssperren für bestimmte Fach- gruppen, was nachrückenden Medizi- nern die Perspektive für die Zeit nach der Weiterbildung nehme. Die Politik müsse mehr Leistungsanreize für künf- tige Ärztegenerationen setzen, anstatt durch eine stetig wachsende Bürokratie

und unzumutbare Arbeitsbedingungen den Einstieg in die Patientenversorgung zu vergällen, ergänzte der KBV-Vorsit- zende Dr. med. Manfred Richter-Reich- helm. „Die Ärzte in Deutschland haben die Faxen dicke von der überbordenden Bürokratie!“

Um eine flächendeckende medizini- sche Versorgung und die individuelle Betreuung aller Patienten, unabhängig von deren Wohnort und Einkommen, zu gewährleisten, benötige man drin- gend mehr junge Ärztinnen und Ärzte, betonte Richter-Reichhelm. Insbeson- dere die hausärztliche Versorgung in den neuen Bundesländern stehe vor dem „Kollaps“, wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen würden.

Diese Entwicklung könne das politi- sche Ziel konterkarieren, den Hausarzt zu stärken. Nach den Plänen des Bun- desgesundheitsministeriums soll der Hausarzt künftig eine Lotsenfunktion im Gesundheitswesen übernehmen.

Dafür wünschen sich die politischen Verantwortlichen eine Relation von 60 zu 40 beim Verhältnis von Hausärz- ten zu Fachärzten. Diese existierte der Kopetsch-Studie zufolge bundesweit zuletzt im Jahr 1991. Seitdem ist der Fachärzteanteil um ein Fünftel auf knapp 48 Prozent gestiegen.

Politik soll die

Allgemeinmedizin fördern

Das Krankenhaus sei für angehende Allgemeinmediziner eine schwer zu meisternde Schleuse, sagte Hess. Das Initiativprogramm zur Förderung der Allgemeinmedizin funktioniere ledig-

A

A78 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 99½½Heft 3½½18. Januar 2002

Niederlassung

Zunehmend weniger attraktiv

Die niedergelassene Vertragsärzteschaft wird immer älter und bekommt Nachwuchsprobleme.

In den neuen Bundesländern fehlen bereits Hausärzte.

Grafik 1

Ergebnisse der Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlenentwick- lung

30–

25–

20–

15–

Quelle: KBV

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 27,4 27,2 26,6 26,1

24,8 23,8

22,0 21,0

19,7 18,8

Grafik 2

Altersstruktur der Allgemein-/Praktischen Ärzte und Haus- internisten in den neuen Bundesländern am 30. Juni 2001 601–

501–

401–

301–

201–

101–

1–

Quelle: KBV

29 32 35 38 41 44 47 50 53 56 59 62 65 68 71 74 77 80 83 87

Anzahl

Alter

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lich im ambulanten Bereich; hier wer- de das Stellenkontingent zu 90 Prozent ausgeschöpft. Im stationären Bereich geschehe dies nur zu 60 Prozent.

Der KBV-Hauptgeschäftsführer unter- strich, dass dies nicht als Vorwurf an die Krankenhäuser zu verstehen sei. Diesen seien finanziell die Hände gebunden.

Vielmehr sei die Politik gefordert, die Allgemeinmedizin nachhaltig zu för- dern, wenn sie ein Hausarztmodell wol- le. „Der Staat bezahlt ja auch das Refe- rendariat bei den Juristen, weil er ausge- bildete Richter benötigt“, sagte Hess.

Sicherstellungsauftrag:

ein politisches Warnsignal

Kopetsch bilanziert: Die deutsche Ärz- teschaft überaltert und bekommt zu- gleich ein Nachwuchsproblem. Bedingt durch die Altersstruktur würden immer mehr Vertragsärzte in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Da die Bevölkerungszahl ebenfalls rückläufig sei, bleibe die Einwohner-Vertragsarzt- Relation konstant. Ausnahmen ergä- ben sich in der allgemeinmedizinischen Versorgung. Dort werde es zu Engpäs- sen – in erster Linie in den neuen Bun- desländern – kommen, wenn nicht ge- gengesteuert werde.

Aufgrund der Nachwuchsentwick- lung dürften in naher Zukunft Engpäs- se im Krankenhausbereich auftreten, weil viele Arzt-Positionen nicht mehr besetzt werden könnten. Dies werde zunächst nur die ländlichen Gebiete betreffen, zunehmend aber auch die größeren Städte. Die Medizinerausbil- dung müsse daher praxisnäher, die Ar- beitsbedingungen der Ärzte, sowohl im Krankenhaus-Bereich als auch im am- bulanten Sektor, müssten attraktiver gestaltet werden. Kopetsch nannte in diesem Zusammenhang insbesondere eine angemessene Vergütung, weniger Regulierungen und Bürokratismus, da- mit sich junge Menschen wieder stär- ker für den Beruf des Arztes interes- sierten. Geschehe dies nicht, geriete

„auf breiter Front“ die ärztliche Ver- sorgung der Bevölkerung in Gefahr. So weit wollte Hess vor den Journalisten nicht gehen. Er sprach vielmehr von ei- nem „politischen Warnsignal im frühen

Stadium“. Jens Flintrop

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 99½½Heft 3½½18. Januar 2002 AA79

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as Jahr 2001 wird uns in Erinne- rung bleiben als das Jahr der Auftragsgutachten und Experten- manifeste. Mitte Dezember wurde alles bisher Dagewesene in den Schatten ge- stellt. Vier Gutachten, diverse Tagun- gen zur Reform des Gesundheitswesens und gleich mehrere Reden der Ministe- rin, in der sie ihr gesundheitspolitisches Konzept darlegte – so viele Vorschläge auf einmal hat es vermutlich noch nie gegeben.

Dabei gleichen sich die Ideen der ver- gangenen Monate in vielen Punkten. Ei- ne Ausnahme war Bundeswirtschafts- minister Dr. Werner Müller, der in sei- ner Rede zum „Zukunftsmarkt Gesund- heit“ doch tatsächlich gewagt hatte, das Dogma der Beitragssatzstabilität infra- ge zu stellen: „Der offene Dialog in der Politik und zwischen Bürgern und Poli- tik muss bei einfachen Fragestellungen beginnen. Zum Beispiel mit der Frage:

Liegen wir überhaupt in der Zielvorstel- lung richtig, wenn ein immer größeres Angebot medizinischer Leistung bei ei- ner schrumpfenden und alternden Be- völkerung durch einen konstanten Bei- tragssatz gesetzlicher Kassen finanziert werden soll?“

Diese Frage haben wir als Ärzte im- mer wieder gestellt, ohne dass sie Wi- derhall in der Politik fand. Dass sich nun der Bundeswirtschaftsminister an dieses Tabuthema heranwagt, sollte uns hoffnungsfroh stimmen.

Auch mit einer anderen Frage trifft der Wirtschaftsminister den Kern des Problems: „Stehen wir eigentlich – wie allenthalben formuliert – vor einer Kostenexplosion im Gesundheitswe- sen, oder stehen wir vor einer Nach- frageexplosion?“

Die Antwort auf diese Frage liefert das von seinem Ministerium in Auftrag gegebene Gutachten „Wirtschaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheits- dienstleistungen“ des Deutschen Insti- tuts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Es zeige sich, so schreiben die Experten in ihrem Gutachten, „dass die verbrei- tete Vorstellung von der ,Kostenexplo- sion im Gesundheitswesen‘ nicht durch die vorliegende empirische Evidenz ge- deckt ist“. Der Anteil der Gesamtaus- gaben für das Gesundheitswesen sei seit etwa 1975 mit 13,1 Prozent des Brut- toinlandsproduktes konstant. Der An- stieg der Beitragssätze zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit die- ser Zeit von 10,5 Prozent (1975) auf 13,6 Prozent (2001) ergebe sich vor al- lem aus der schmaler werdenden Be- messungsgrundlage für die Beitrags- zahlung zur GKV.

Schwindende Einnahmen schuld an Kassendefizit

Die eigentlichen Ursachen für die der- zeitige Finanzlage der Krankenkassen liegen nicht in den nur moderat gestiege- nen Ausgaben für die ärztliche Behand- lung, auch nicht in der Ausgabensteige- rung im Arzneimittelbereich, sondern in den schwindenden Einnahmen der Kas- sen und den politisch induzierten Fi- nanzlasten, die der GKV aufgebürdet werden. In den letzten zehn Jahren sind der Gesetzlichen Krankenversicherung (nach Angaben des Ersatzkassenverban- des) annähernd 50 Milliarden DM entzo- gen worden, weil Löcher in der Renten- kasse und der Arbeitslosenversicherung gestopft werden mussten. ✁

Gesundheitspolitik

Zuwendung statt kalter Betriebswirtschaft

Das Gesundheitssystem steht vor enormen Heraus-

forderungen, die ohne die Mitwirkung der Ärzteschaft

nicht gemeistert werden können.

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Damit bewahrheitet sich einmal mehr die Diagnose, die aus den Reihen der Ärzteschaft bereits in den 80er-Jah- ren gestellt wurde: Unser Gesundheits- wesen wird zwar solidarisch finanziert, aber unsolidarisch in Anspruch genom- men und politisch missbraucht. Die Po- litik ganz allein ist für diesen eklatanten Missstand verantwortlich. Ohne die be- schriebenen Milliardenlasten hätten wir in diesem Jahr kein Defizit bei den Kassen und folglich auch keine Bei- tragserhöhungen.

Entscheidend: Bedarf an Gesundheitsleistungen

Aber selbst wenn es zu weiteren Er- höhungen der Beitragssätze kommt, stellt sich die Frage, ob damit tatsäch- lich eine volkswirtschaftliche Katastro- phe heraufbeschworen wird, wie Ar- beitgeber und Regierung unisono glau- ben machen wollen. Sollte man sich nicht lieber die Frage stellen, wie sich der Bedarf an Gesundheitsleistungen in den nächsten Jahren entwickeln wird und welche Finanzmittel zur Deckung dieses Bedarfs notwendig sind? Denn über eines sollten sich die Verantwortli- chen in der Politik im Klaren sein: Die Ausgaben im Gesundheitswesen wer- den weiter steigen,

❃ weil der medizinische Fortschritt nicht zu stoppen ist,

❃weil immer mehr ältere Menschen nur im Krankenhaus angemessen ver- sorgt werden können

❃und weil wir eine hohe Lebenser- wartung für alle Bürger wollen.

In der gesundheitspolitischen Dis- kussion wird der Zielkonflikt zwi- schen den medizinischen Möglich- keiten und der politisch gewollten Begrenzung der Ressourcen (Dogma der Beitragssatzstabilität) aber kaum wahrgenommen. Stattdessen ist von Wirtschaftlichkeitsreserven in Milliar- denhöhe die Rede, die nur darauf war- ten, erschlossen zu werden. Die Rea- lität sieht anders aus. Nur durch die Motivation und das hohe Engagement der Beschäftigten in der Patientenver- sorgung mit ungezählten Überstunden konnte das absolute Chaos bisher ver- hindert werden, wenn es auch in Teil- bereichen wie der Arzneimittelversor-

gung bereits zu Rationierungen ge- kommen ist.

Dennoch wird in der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Diskussion jede noch so moderate Beitragserhöhung in der Gesetzlichen Krankenversicherung als Anschlag auf den Wirtschaftsstand- ort Deutschland betrachtet.

Völlig außen vor bleibt auch die Tat- sache, dass das Gesundheitswesen der mit Abstand größte Beschäftigungsmo- tor in Deutschland ist. Allein die nie- dergelassenen Ärztinnen und Ärzte bieten mehr Arbeitsplätze als jeder In- dustriezweig in Deutschland. Zusam- men mit den Zahnärzten beschäftigen sie rund eine Million Menschen in ihren Praxen. Insgesamt sind etwa 4,2 Millio- nen Menschen direkt oder indirekt im Gesundheitswesen beschäftigt. Die Diskussion über eine ausreichende Fi- nanzierung unseres Gesundheitswesens muss auch vor diesem Hintergrund ge- führt werden.

Überprüfung des GKV- Leistungsumfangs sinnvoll

Mit den bisherigen Stellschrauben zur Konsolidierung der Finanzsituation der GKV allein werden wir die Probleme nicht lösen können. Auch eine Aus- dehnung der Versichertenpflichtgrenze oder eine Erhöhung der Beitragsbe- messungsgrenze kann daran nichts ändern. Eine erhöhte Zuzahlung der Versicherten ist sicher nur in sozial- verträglichen Grenzen möglich. Des- halb begrüßen wir ausdrücklich, dass das Bundesgesundheitsministerium ei- ne Überprüfung des Leistungsumfangs der GKV auf die politische Agenda ge- setzt hat. Es ist im Übrigen auch ein Gebot der Solidarität, dass die Versi- cherten nicht für Leistungen Beiträge zahlen müssen, die originäre Aufgabe des Staates sind.

Entscheidend ist der medizinische Versorgungsbedarf der Bevölkerung und nicht das ökonomische Interesse der Krankenkassen. Gefällige Konzep- te wie der Ruf nach mehr Wettbewerb bringen uns nicht weiter. Patienten sind keine Kunden, sondern Bedürftige mit dem berechtigten Anspruch auf not- wendige Leistungen. Auch das unter- scheidet uns von vielen vermeintlich

fortschrittlichen Staaten, in denen Pati- enten keinen einklagbaren Anspruch geltend machen können. Stattdessen müssen sie sich mit dem ihnen Zugeteil- ten zufrieden geben.

Noch keine Wartezeiten in Deutschland

Deutsche Patienten kennen keine War- telisten von einem Jahr für Operatio- nen, wie sie in England üblich sind. Sie wollen auch keine Listenmedizin, son- dern erwarten zu Recht, dass sie indivi- duell behandelt werden. Wenn Wettbe- werb bedeutet, dass Patienten vorzeitig entlassen werden, um Platz für die nächste „Fallpauschale“ zu machen, werden die Patienten rebellieren. Die- ses kalte betriebswirtschaftliche Den- ken, das wir aus anderen Bereichen kennen, ist im Gesundheitswesen fehl am Platze.

Wir wollen mithelfen, dass die Solida- rität im Gesundheitssystem erhalten bleibt. Unser Gesundheitswesen hat sich über Jahrzehnte bewährt und braucht den Vergleich mit anderen westlichen Industrienationen nicht zu scheuen. Seit einigen Monaten wird aber unser Ge- sundheitssystem zunehmend von ge- sundheitspolitischen Vordenkern der Parteien grundlegend infrage gestellt.

So wird in dem für die SPD erstellten Gutachten die Forderung erhoben, die Sicherstellung der ambulanten Versor- gung durch die Krankenkassen garantie- ren zu lassen. Sieht man einmal von den plakativen Vorstellungen der Arbeitge- berverbände und den extrem polemi- schen Provokationen des rheinland-pfäl- zischen Gesundheitsministers Florian Gerster ab, so fällt doch auf, dass es zu diesem Punkt auch große Übereinstim- mung zwischen Union und SPD gibt. Ei- ne Zerschlagung oder zumindest „Ent- machtung“ der angeblichen Monopo- le beziehungsweise Anbieterkartelle ge- hört mittlerweile zum guten Ton in bei- den Parteien.

Die politisch Verantwortlichen soll- ten sich stets vor Augen führen: Wenn der Staat selbst und einseitig den Si- cherstellungsauftrag beschneidet und damit letztlich aufhebt, müssen wir als Ärzte darüber nachdenken, wie und auch ob wir den staatlichen Fürsorge- A

A80 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 99½½Heft 3½½18. Januar 2002

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auftrag im Gesundheitswesen noch wahrnehmen können.

Was aber steckt nun wirklich hinter der Polemik gegen die Ärzte? Es ist wohl der Glaube, dass auch bei der Pa- tientenversorgung im Wettbewerb das Heil bei der Erschließung von Effizi- enzreserven liege. In dieser Pseudolo- gik liegt natürlich auch eine gefällige Erklärung für Versorgungsmängel und Rationierung im Gesundheitswesen.

Ich kann nur empfehlen, einen Blick in die Vereinigten Staaten zu werfen.

Dort existiert ein so genanntes Markt- system, über das der deutsch-amerika-

nische Gesundheitsökonom Uwe Rein- hardt von der Princeton University sagt: „Die Kosten sind hoch, und die Bevölkerung ist unzufrieden. Aus ame- rikanischer Sicht hat Deutschland ein billiges und recht effizientes Gesund- heitssystem.“

In anderen Ländern wird das eben- falls so gesehen. Viele der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten zur Europäischen Union, wie zum Bei- spiel die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Rumä- nien und Bulgarien, nehmen sich die Strukturen des deutschen Gesundheits- wesens zum Vorbild für ihre eigenen Systeme. Vor diesem Hintergrund rela- tiviert sich auch die zuletzt häufig ge- brauchte Formel diverser Sachverstän-

diger, das deutsche Gesundheitswesen leiste nicht das, was es leisten könne.

Die Kritik in der von der SPD in Auf- trag gegebenen Studie, dass die Selbst- verwaltung „vielfach über Jahre hinweg gesetzliche Aufgaben konsequent nicht umgesetzt habe“, offenbart eine merk- würdige Auffassung unseres Selbstver- waltungssystems. Hier verwechseln die Experten Selbstverwaltung mit Auf- tragsverwaltung. Eine gut funktionie- rende, kluge Selbstverwaltung versteht sich als mitdenkender Partner des Ge- setzgebers und bemüht sich, Unsinnig- keiten oder gar Gefahren zu vermeiden.

Trotz der hohen Akzeptanz im eige- nen Land und der internationalen Vor- bildfunktion gibt es Bestrebungen, das bewährte System der Selbstverwaltung in einen Kassenversorgungsstaat um- zuwandeln. Ganz im Stile einer erprob- ten US-amerikanischen Marketing- Strategie werden die bestehenden Strukturen niedergemacht, um dann das Neue als rettende Alternative an- zubieten. Ziel dieses Kassenversor- gungsstaates ist dann nicht mehr die flächendeckende und wohnortnahe ge- sundheitliche Versorgung der Bevölke- rung, wie sie die Kassenärztlichen Ver- einigungen garantieren, sondern die Sanierung der maroden Kassen. Vor al- lem aber bedeutet ein Kassenversor- gungsstaat die endgültige Abkehr von

der Zuwendungsmedizin zugunsten ei- ner Zuteilungsmedizin. Der Anspruch des Patienten auf individuelle Behand- lung und Betreuung wird sich dann nicht mehr erfüllen lassen.

Das gilt insbesondere für die Vielzahl verbindlicher Behandlungsleitlinien, wie sie jetzt auch in den neuen Program- men für chronisch Kranke (Disease- Management-Programmen) eingeführt wird. Der Spielraum für eine individu- elle Therapie des Patienten wird durch solche Standards enger, was sich auch negativ auf den Behandlungserfolg aus- wirken kann. Ich habe den Eindruck, dass einige der Befürworter dieser Pro- gramme am liebsten Checklisten anle- gen würden, die von den Ärzten abzu- arbeiten wären. Dabei wird aber über- sehen, dass der Arztberuf untrennbar mit der Freiheit verbunden ist, im Ge- spräch mit dem Patienten nach der indi- viduell richtigen und Erfolg verspre- chenden Therapie zu suchen.

Die Ärzteschaft selbst hat die Ent- wicklung von Leitlinien als Orientie- rungshilfe vorangetrieben. Eine Check- listenmedizin aber, wie sie sich mancher Kassenfunktionär vorstellt, lehnen wir strikt ab.

Expertokratie

durch Politik gefördert

Das Gesundheitswesen steht zweifellos vor enormen Herausforderungen. Al- lerdings ist es kontraproduktiv, allent- halben eine gesundheitspolitische Apo- kalypse heraufzubeschwören. Unver- ständlich ist deshalb, warum die Politik den ideologischen Heilsbringern nach wie vor so viel Raum lässt, sich täg- lich über Kostenexplosion, Überkapa- zitäten und Systemwechsel auszulassen.

Schlimmer noch: Die ausufernde Expertokratie wird von der Politik sogar nachhaltig gefördert. Nicht wir Ärzte sind es, die das Gesundheitswe- sen kaputtreden, sondern diejenigen Experten, die alles dem Wettbewerb unterordnen und die ärztliche Selbst- verwaltung zur staatlichen Auftrags- verwaltung degradieren wollen.

Das Motto „Wettbewerb vor Qua- lität“ scheint auch Leitmotiv bei der Erarbeitung des Gesetzes zur Ein- führung der diagnosebezogenen Fall- A

A82 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 99½½Heft 3½½18. Januar 2002

Das Gesundheitswesen ist der mit Abstand größte Beschäftigungsmotor in Deutschland.

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pauschalen (DRG) gewesen zu sein. In keinem anderen Land der Welt werden alle Krankenhausleistungen zu 100 Prozent durch Fallpauschalen abgebil- det, nicht einmal in Australien, dem Vorbild für das deutsche DRG-System.

Der im Gesetz vorgesehene Zeitplan für die abrechnungswirksame Ein- führung des neuen Vergütungssystems ab 1. Januar 2003 auf freiwilliger Basis und dann verbindlich ab 1. Januar 2004 geht jedoch völlig an den Realitäten vorbei. Falls das Fallpauschalensystem ohne geeignete Ausgleichsmechanis- men eingeführt wird, entstehen erheb- liche Risiken für die Aufrechterhal- tung eines hochqualitativen und flächendeckenden stationären Versor- gungsangebotes. Die Bundesärztekam- mer hat deshalb mehrfach davor ge- warnt, diesen größten Umstrukturie- rungsversuch der Krankenhausland- schaft im geplanten Terminschema ab- laufen zu lassen. Denn trotz des im Mai 2001 begonnenen Aufbaus eines DRG- Instituts mangelt es nach wie vor an ei- ner funktionierenden Systeminfra- struktur. Schon jetzt ist absehbar, dass die Voraussetzungen für eine Ein- führung der DRGs auch 2003 noch nicht erfüllt sein werden. Trotzdem will das Bundesgesundheitsministerium im Hauruckverfahren auf DRGs umstel- len. Eine so weit reichende Entschei- dung darf aber nicht übers Knie gebro- chen werden. Denn der politisch ge- wollte, medizinisch aber nicht vertret- bare enge Zeitplan zur Einführung der DRGs hätte zur Folge, dass zunächst nicht die effizienten Krankenhäuser, sondern die Einrichtungen belohnt würden, die am schnellsten in das neue System übergehen.

Qualitätsverbesserungen werden si- cherlich auch dadurch nicht erreicht, dass Patienten von einem Versor- gungssektor zum nächsten geschickt werden. Einen solchen „Drehtür-Ef- fekt“ wird es aber geben, wenn es zu immer kürzeren Verweildauern im Krankenhaus kommt und gerade ent- lassene Patienten mit neuen Diagno- sen wieder ins Krankenhaus überwie- sen werden, weil eine Nachbehandlung im ambulanten Sektor in dem Maße nicht möglich ist. Die Politik sollte die- se Gefahr nicht auf die leichte Schulter nehmen, zumal die Zahl der Patienten

in den Kliniken immer weiter steigt, im gleichen Maße aber die Zahl der be- handelnden Ärzte zurückgeht. Das ist eine höchst bedenkliche Entwick- lung, vor der die Ärzteschaft schon seit Jahren warnt. Wenn wir diesem Trend jetzt nicht entgegenwirken, wird sich die Versorgung der Patienten in den Krankenhäusern dramatisch ver- schlechtern. Noch haben wir keine Wartelisten wie in England, aber wir steuern geradewegs darauf zu. Die Po- litik in Bund und Ländern muss end- lich handeln und für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Kran- kenhäusern sorgen. Einsätze von über 30 Stunden zermürben auf Dauer auch die engagiertesten Ärzte.

Arbeitsgerichte bestätigen EuGH-Urteil

Die vorgeschriebene Begrenzung der Arbeitszeit und die Berücksichtigung der Bereitschaftsdienstzeit als Arbeits- zeit (Urteil des Europäischen Gerichts- hofes vom 3. Oktober 2000) führen zu einem zusätzlichen Stellenbedarf von 15 000 Ärztinnen und Ärzten. Dies be- deutet Personalmehrkosten von einer Milliarde Euro. Zuletzt hatten die Ar- beitsgerichte Kiel und Herne festge- stellt, dass das Urteil des EuGH auch auf deutsche Verhältnisse anzuwenden ist. Das jetzt von Bundesgesundheits- ministerin Ulla Schmidt für das Jahr 2003 in Aussicht gestellte gesonderte Finanzierungsvolumen in Höhe von 100 Millionen Euro pro Jahr reicht jedoch bei weitem nicht aus, um die Belastun- gen des Krankenhauspersonals mit Be- reitschaftsdiensten und Überstunden zu mindern. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, gemessen an dem, was tatsächlich vonnöten ist.

Einige der Eckpunkte, die Ministerin Schmidt jetzt vorgelegt hat, sind durch- aus diskussionswürdig. Auch wir sind dafür, dass der Hausarzt eine herausra- gende Stellung im deutschen Gesund- heitssystem einnehmen sollte. Seine Lotsenfunktion wird er aber nur dann nachhaltig ausfüllen können, wenn die Patienten das Gefühl haben, in ihrer Entscheidung frei zu sein. Deshalb sind wir entschieden gegen ein Primärarzt- system, das den Patienten entmündigt.

Die Patienten dürfen nicht gezwungen werden, zunächst den Hausarzt aufzu- suchen, bevor sie einen Spezialisten konsultieren. Das wäre das Ende der freien Arztwahl und der Beginn einer neuen Bevormundung der Patienten.

Für uns Ärzte ist der Patient ein Partner und kein Bittsteller.

Eine Reihe von Fragen muss auch in Zukunft weiter diskutiert werden. Wol- len wir wirklich eine Differenzierung in Grund-, Wahl- und Zusatzleistungen?

Wollen wir eine Abschaffung der freien Arztwahl? Welchen Wert hat ein Si- cherstellungsauftrag noch, wenn die in- tegrierte Versorgung als dritte Säule außerhalb des Sicherstellungsauftrages zur Regelversorgung wird? Um solche Fragen zu lösen, braucht man Mut und Stehvermögen, unabhängig von tages- politischer Stimmung.

Aus gutem Grund gibt es in Deutsch- land weder eine Staatsmedizin noch einen freien Markt mit Preiswettbe- werb im Gesundheitswesen. Vielmehr haben wir einen dritten Weg gewählt, der unser Gesundheitswesen zwar als öffentliche Aufgabe begreift, die Ope- rationalisierung aber weitgehend ei- ner körperschaftlichen Selbstverwaltung überträgt.

Dieser Weg hat das Sozialsystem in Deutschland nicht nur nachhaltig ge- prägt, sondern auch wesentlich stabili- siert. Wenn man den Standort Deutsch- land tatsächlich modernisieren und aus- bauen will, dann muss ein soziales Ge- sundheitswesen zu den prioritären Zie- len gehören. Ein funktionierendes Ge- sundheitswesen ist ein wesentlicher Faktor für ein gedeihliches Zusammen- leben in unserer Gesellschaft und damit bedeutsamer als ein stabiler Beitrags- satz. Wir sollten deshalb nicht wei- ter zulassen, dass unser Gesundheits- system zerredet wird.

Die Ärzteschaft bekennt sich zu ei- nem Gesundheitssystem in sozialer Verantwortung. Diese Verantwortung setzt aber Rechte zur Mitgestaltung voraus. Werden diese weiter einge- schränkt, dann wird sich auch für die Ärzteschaft die Systemfrage stellen. Im Wahljahr 2002 werden wir die Richtung weisen müssen.

Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe Präsident der Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 99½½Heft 3½½18. Januar 2002 AA83

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